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Sie ist nicht meine Mutter 60

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»Interviewer: Wenn man diesen Film sieht, fällt es schwer, nicht daran zu denken, dass all unsere Erin­ne­rungen Produkte sind.

Cronenberg: Das sind sie, das sind sie auf jeden Fall.«

Andrew O’Hehir

»The Baron of Blood does Bergman«61

»Watched from the wings as the scenes were replaying. We saw ourselves now as we never had seen. // Wir betrachteten das Schauspiel von der Seite. Wir sahen uns selbst wie noch niemals zuvor.«

Joy Division, »Decades«62

Cronenbergs Spider – eine Adaption von Patrick McGraths wunderbarem Roman – ist eine Studie über Schizophrenie, die meilenweit von den Klischees über »Wahnsinn« im Kino entfernt ist. Davon gibt es unzäh­lige Beispiele, aber das, was mir sofort in den Sinn kommt (vielleicht, weil ich es zuletzt gesehen habe), ist Windom Earl in der zweiten Staffel von Twin Peaks: brabbelnd, theatralisch, megaloman. Man denke auch an Jack Nicholsons Darstellung des Jokers im ersten Bat­man-Film. Wahnsinn wird hier als eine Form des absurd übersteigerten Egos dargestellt; ein Selbst, das keine Gren­zen kennt und sich unendlich ausdehnen möchte. In Cronenbergs Film hat Spider, gespielt von Ralph Fien­nes, zwar auch ein aufmerksames Bewusstsein seiner eigenen Grenzen, doch anstatt sich in die Welt hinaus auszubreiten, möchte er sich vielmehr zum Verschwinden bringen. Alles an ihm – sein Gemurmel, seine ungelen­ken Bewegungen – schreit nach Rückzug, Flucht und Angst vor der Außenwelt. Und zwar deswegen, weil in Cronenbergs Schizoversum das Außen schon im Innen ist. Und umgekehrt.

McGraths Roman ist als eine Reihe von Tagebuch­ein­trägen verfasst und spielt sich daher vollständig im Kopf des archetypisch unverlässlichen Erzählers Spider ab. Um das zu simulieren, hätte Cronenberg auf das Mittel des Voiceover zurückgreifen können, das im ursprünglichen Drehbuch vorgesehen war (obwohl alle, die Spike Jonzes Adaptation gesehen haben, sich an Robert McKees Tira­de über diese Technik erinnern werden). Aber am Ende streicht Cronenberg Spiders Stimme vollständig, wo­durch der Film merkwürdigerweise dem Roman eher ge­recht wird als der Roman selbst. Im Buch erlaubt Spiders Artikuliertheit dem Protagonisten eine Art Selbstwahr­neh­mung und (wenngleich begrenzte) Distanz von seiner Manie. Im Film gibt es diese Distanz nicht, es gibt keine Stimme des Erzählers, nur eine endlos produktive Erzähl-Maschine, die verschiedene Permutationen auswirft. An­stelle einer transzendenten Offscreen-Stimme sehen wir Spider als Figur innerhalb seines eigenen Deliriums, wir sehen ihn als Erwachsenen, wie er beobachtet und schreibt, immer wieder schreibt, während sich die Erinne­rungen an seine Kindheit abspielen. Wie Cronenberg es ausgedrückt hat, es ist, als ob Spider bei seinen Erinne­rungen selbst Regie führt. »Ein Journalist sagte mir: ›Wenn wir Spider in seinen Erinnerungen sehen, wie er durchs Fenster schaut oder sich in der Ecke versteckt, ist das nicht wie ein Regisseur am Set?‹ So hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, aber es stimmt, dass er seine Erinnerungen immer wieder steuert und choreogra­phiert.«63 Wir werden daran erinnert, dass Spider jede Fi­gur in seinen Erinnerungen selbst spielt.

Bei Spider handelt es sich also um einen naturalisti­schen Expressionismus oder expressionistischen Natura­lis­mus. Das merkwürdig einsame London ist, so Cronen­berg, ein expressionistisches London. Spider fängt präzi­se die Atmosphäre der Zeit der gekochten Kartoffeln in den fünfziger Jahren ein, noch bevor der Rock’n’Roll die Bühne betrat, und die gedämpften Farben des Films sind so trüb wie Kochwasser.

Am meisten ähnelt Spider dem Film Naked Lunch; nicht nur, weil er auch auf einem angeblich unadaptier­baren Buch beruht, sondern auch, weil es in beiden Fil­men um Schreiben, Wahnsinn, Männlichkeit und den Tod einer Frau geht. Sowohl in Spider als auch in Naked Lunch ist das zentrale Ereignis der phantasmatisch immer wieder wiederholte Tod einer Frau, die Leerstelle, um die beide Filme kreisen. In Naked Lunch leugnet Lee zu­nächst den Mord an seiner Frau Joan und beruft sich auf die Kontrolle fremder Mächte. Erst als Lee am Ende des Films »gezwungen« ist, Joan erneut umzubringen, oder zumindest ihre Doppelgängerin, kann er ein Mindestmaß an Verantwortung übernehmen. Die Neuaufführung ihres Todes ist weniger ein Eingeständnis ethischer Verantwor­tung, sondern ein Versuch, die Tat selbst zu be­greifen. Darin besteht die Logik des Traumas. (Was uns an eine Beschreibung des Motivs des Schizophrenen in Die Schre­ckensgalerie von Ballard erinnert: »Er wollte Ken­ne­dy erneut töten, aber diesmal so, dass es Sinn ergibt.«

In Spider glauben wir zunächst, dass sein Vater, Bill Cleg (Horace im Roman), Spiders Mutter getötet hat, nachdem er eine Affäre mit dem »fetten Flittchen« Yvonne begann (Hilda im Roman). Erst als Bill Yvonne bei sich einziehen lässt, ermordet er brutal und beiläufig seine Frau und rollt sie in ein hastig gegrabenes Loch im Garten (»Weg mit dem Alten« sagt Yvonne kaltschnäu­zig). In diesem Moment erhärtet sich unser Verdacht, dass mit der Erzählung Spiders etwas nicht stimmt. Aber erst am Ende des Films erfahren wir, was wohl tat­säch­lich passiert ist: Spider hat seine Mutter umgebracht, er hat sie vergast, als er scheinbar einer Wahnvorstellung unter­lag und sie für eine andere Person hielt. Die frühen Unterhaltungen zwischen Spider und seinem Vater neh­men jetzt eine andere Bedeutung an (Spider: »Sie ist nicht meine Mutter«. Bill: »Wer ist sie denn dann?«). In der Schlussszene sieht man Bill, wie er Spider aus dem Haus rettet und verzweifelt versucht, Yvonne wiederzubeleben, aus der im Moment ihres Todes wieder die dunkelhaarige Mrs. Cleg geworden ist.

Während es sich hierbei um die übliche Deutung der Geschichte handelt, schließt der Film doch keine der narra­tiven Möglichkeiten, die er eröffnet, aus:

1. Bill hat seine Frau getötet und lebte wirklich mit einer Prostituierten namens Yvonne zusammen.

2. Bill hat seine Frau getötet, es gibt eine Prostituierte namens Yvonne, aber sie ist nicht bei Bill eingezogen.

3. Bill hat seine Frau getötet, aber es gibt keine Yvonne.

4. Spider, nicht Bill, hat seine Mutter getötet, aber Bill ist mit Yvonne nach dem Tod in das Haus gezogen.

5. Spider hat seine Mutter getötet, es gibt eine Pros­ti­tuierte namens Yvonne, aber sie ist niemals mit Bill zusammengezogen.

6. Spider hat seine Mutter getötet, aber es gibt keine Yvonne.

7. Weder Spider noch Bill haben die Mutter getötet, aber Bill ist nach ihrem Tod mit Yvonne zusam­men­gezogen.

8. Weder Spider noch Bill haben Mrs. Cleg getötet, es gibt eine Yvonne, aber sie ist nicht bei Bill eingezogen.

9. Weder Spider noch Bill haben Mrs. Cleg getötet und es gibt keine Yvonne.

Anstatt die Ambiguitäten des Romans von McGrath auf­zu­lösen, verstärkt Cronenbergs Film sie. Im Roman er­fah­ren wir zumindest (scheinbar), dass Spider für den Mord an seiner Mutter eingesperrt wurde (auch wenn dieser daran festhält, dass sein Vater für den Tod der Mutter verantwortlich ist). Im Film bleiben die zwanzig Jahre zwischen dem Tod von Mrs. Cleg und Spiders Ankunft in der Pension eine Leerstelle. Wir wissen im Umkehrschluss, oder wir glauben zu wissen, dass Spider in einer psychiatrischen Anstalt war, aber mehr nicht.

Miranda Richardsons Performance ist von entscheiden­der Bedeutung für die Erhaltung der polysemen Ambigui­tät des Films. Sie ist in allen drei Rollen hervorragend: als die tugendhafte brünette Mrs. Cleg, die zügellose blon­de Yvonne und auch als die plötzlich so unange­mes­sen sexuell aggressive Besitzerin der Pension, Mrs. Wil­kin­son. Die Situation wird darüber hinaus dadurch er­schwert, dass Yvonne zu Beginn von einer ganz anderen Schauspielerin gespielt wird (zumindest glaube ich das; es zeugt von dem mulmigen Delirium, das der Film ins­zeniert und von der Leistung Richardsons, dass ich mir nicht sicher bin), genauso wie Mrs. Wilkinson während des Großteils des Films von Lynne Redgrave gespielt wird.

Wie in Naked Lunch ist das Schreiben in Spider sowohl aktiv als auch passiv. Wie Bill Lee scheint auch Spider, wenn er irgendwelche idiolektischen Hieroglyphen in sein Notizbuch kritzelt, zunächst nur ein Signal von außen aufzuzeichnen. In anderer Hinsicht aber ist er der Schöpfer der ganzen Szene, er derealisiert sie.

In Gesprächen über den Film hat Cronenberg auf Nabo­kovs Theorie der Erinnerung und die Kunst als Mittel, das Unwiederbringliche zurückzuholen, verwiesen. Doch die Figur, die den Film dominiert, ist ein anderer Schrift­steller, den Brian McHale, wie Nabokov, als »Grenz-Mo­dernisten« bezeichnet hat, nämlich Samuel Beckett. Cro­nenberg hat gesagt, dass der Look von Spider, mit seinen spitz aufgestellten Haaren, sehr von Fotografien Samuel Becketts beeinflusst war, doch die Affinitäten mit Be­ckett reichen noch tiefer. Wie Molloy oder Malone, wühlt Spider ständig in seinen Taschen nach Talisman-artigen Objekten. Solche bruchstückhaften Dinge markieren die Wegstrecke ihrer »intensiven Reise«. Wie McGrath ver­führt uns Cronenberg dazu, uns mit Spider zu identifi­zie­ren (Cronenberg: »Ich bin Spider«) und nimmt uns mit auf seinen schizophrenen Spaziergang, um uns dann im Delirium im Stich zu lassen …

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