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Was ist die Politik der Langeweile? (Ballard 2003 Remix) 12

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»Die blühende Vorstadt war einer der Endzustände der Geschichte. War dieser einmal erreicht, konnten nur Pest, Flut oder Atomkrieg seinen festen Griff gefährden.«13 (J.G. Ballard, Millennium People)

»J.G. Ballard« ist der Name einer Wiederholung.

Das ist etwas anderes als zu sagen, dass sich Ballard wiederholt. Im Gegenteil, es ist sein Formalismus, seine ständige Vertauschung der immer gleichen Begriffe und Fixierungen – Katastrophen, Piloten, willkürliche Gewalt, Mediatisierung, die totale Kolonisierung des Unbewussten durch Bilder – die verhindern, dass man seinen Namen einfach so mit einem Selbst verbindet.

Die obsessive Qualität seiner Betrachtungen und seiner Methodologie weisen darauf hin, dass Ballard den Glauben an seine frühesten Inspirationsquellen niemals verloren hat: Psychoanalyse und Surrealismus. In beiden fand er eine rigoros entpersonalisierte Theorie der Subjektbildung. Das sogenannte Innere hatte eine Logik, die sowohl freigelegt als auch entäußert werden konnte.

Ballards Laufbahn kann als die wiederholte Umschreibung zweier Texte von Sigmund Freud beschrieben werden, Das Unbehagen in der Kultur und Jenseits des Lustprinzips. Die Umweltkatastrophen in seinen frühen Romanen (Paradiese der Sonne, Die Dürre, Kristallwelt) werden von den Figuren meist als Chancen begriffen, als Möglichkeiten, um sich der drögen Routinen und Protokolle der sesshaften Gesellschaft zu entledigen. Die Mitte der 1960er Jahre beginnende und in gewissem Maße bis heute anhaltende, zweite Phase seines Werks setzt diese Logik fort, und zwar insofern, als dass die Katastrophen und Grausamkeiten, die den Charakteren dieser Romane widerfahren, aktiv herbeigesehnt werden. (Oder versuchen die Menschen hier das Ur-Trauma ihres Seins durch Wiederholung zu bewältigen?) Katastrophen sind nun die Katastrophen der Medienlandschaft – jener Raum, in dem sich die Menschen inzwischen primär aufhalten und der von ihren Wünschen und Trieben nicht nur geformt ist, sondern auch konstituiert wird. Dennoch müssen wir diese noch einmal spezifizieren und zwar mit der weiteren Beobachtung, dass die menschlichen Wesen nicht die »Besitzer« ihrer Wünsche und Triebe sind – sie »haben« sie nicht. Vielmehr besteht das Mensch-sein im Ausagieren dieser Impulse, gleich Instrumenten, durch die das Trauma registriert wird.

Seit High-Rise (1975) hat Ballard die größte Aufmerksamkeit auf die superreichen und gelangweilten Bewohner von geschlossenen Gesellschaften gelegt. Mochte Ballards Auseinandersetzung mit den Mores solcher Com­munities auch langsam verblassen, so wurde sie mit Millennium People definitiv wiederbelebt, seinem jüngsten und besten Buch zu diesem Thema.

Die Welt der Millennium People wird »zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit« (doch nicht das erste Mal in Ballards Werk) von »bösartiger Langeweile« beherrscht, »unterbrochen von sinnlosen Gewaltakten«14. Auf den ersten Blick mag der Roman wie ein längst überfälliger Verriss der Mittelklasse wirken, in dem der Leser der brutalen Vernichtung der heiligen Kühe der Bourgeoisie beiwohnen kann. Tate Modern … Pret A Manger … das National Film Theatre … sie alle verbrennen in Ballards Bürgerterror.

»Ich bin Spendensammlerin für die Royal Academy. Es ist ein einfacher Job. Diese Vorstandsvorsitzenden glauben alle, Kunst sei gut für ihr Seelenheil.«

»Ist das nicht so?«

»Es lässt ihre Gehirne verfaulen. Tate Modern, die Royal Academy, die Hayward Gallery … Das ist Walt Disney für die Mittelklassen.«15

Die Mittelklasse-Aufständischen des Romans erscheinen zunächst als Jammerlappen, denen übel mitgespielt wurde und deren Beschwerden über die steigenden Betreuungskosten und Schulgebühren sowie die »Ungerechtigkeit« der zu hohen Mieten ihrer Wohnungen, die ihnen immer noch nicht luxuriös genug sind, das Thema endloser Medienkolumnen sind. »Glaub mir, bei der nächsten Revolution dreht es sich ums Parken«16, sagt eine Figur im Roman, ein Echo der Benzinpreis-Revolten vor vier Jahren und eine Vorwegnahme der Ikea-Unruhen 2005. Sobald ihre Unzufriedenheit aber einmal erregt ist, werden die Ziele dieser Gruppe ehemaliger Professioneller weniger spezifisch, weniger instrumentell.

Wie die Situationisten wollen auch die Aufständischen von Ballards fiktionaler Stadt Chelsea Marina das »20. Jahrhundert zerstören«:

»Ich dachte, das sei vorüber.«

»Es dauert noch an. Es prägt alles, was wir tun, die Art wie wir denken. (…) Genozide, Kriege, die eine Hälfte der Welt mittellos, die andere schlafwandelt durch ihren eigenen Hirntod. Wir haben ihm seine billigen Träume abgekauft und jetzt können wir nicht mehr aufwachen.«17

Millennium People ist in vielerlei Hinsicht die englische Antwort auf Fight Club (unnötig zu sagen, dass die Chancen, in England Millennium People in einer Weise zu verfilmen, die dem Buch auch nur annähernd gerecht wird, noch mehr als verschwindend gering sind – und zwar weil die Filmindustrie in den Händen genau der Nörgler ist, die der Roman attackiert). Wie Fight Club beginnt das Buch mit einer Tirade über den in Stichpunkten sprechenden und markenorientierten Hyper-Kon­formismus im modernen Berufsleben, doch es endet im Über-Faschismus (surfascism).18

Die wichtigste Figur in diesem Zusammenhang ist Richard Gould, der, wie viele der Charaktere bei Ballard, kaum mehr als ein Sprachrohr der Theorien des Autors ist. (Und das ist natürlich in Ordnung: Wir brauchen mehr »gut gezeichnete Charaktere« so wie wir auch mehr »gut durchdachte Sätze« brauchen. Die »Creative Writing«-Mafia der University of East Anglia hat ihr Ende genauso verdient wie all die anderen gemütlich deprimierenden Ziele von Ballards pyromaner Prosa.)

Gould wiederholt im Grunde dieselbe Attacke auf den »vollklimatisierten Totalitarismus« der zeitgenössischen Sicherheitskultur wie sie bei Nietzsche, Mauss, Bataille, Dada, dem Surrealismus, dem Situationismus, dem Lettris­mus, Baudrillard und Lyotard bereits anvisiert wurde:

»Wir leben im Gefängnis eines soften Regimes, das von früheren Generationen von Insassen gebaut wurde. Irgendwie müssen wir uns befreien. Der Anschlag auf das World Trade Center 2001 war ein mutiger Versuch, Amerika vom zwanzigsten Jahrhundert zu befreien. Die Tode waren tragisch, aber ansonsten war es ein bedeutungsloser Akt. Und das war der Punkt. Wie der Anschlag auf das NFT.«19

Gould wiederholt Nietzsches These, dass die Menschen Grausamkeit, Gefahr und Herausforderungen brauchen, die Zivilisation ihnen aber Sicherheit gibt. Gould erinnert aber ebenso an Fukuyamas Wiederholung von Nietzsches Unbehagen in der Zivilisation wie an Nietzsche selbst.

Es ist Fukuyamas Nietzsche – die Klage über das Übel des faden Egalitarismus und der leeren Inklusion –, der heute am relevantesten ist. Wenn man die entsetzte Beschimpfung des Herdenkultes der verwalteten Sicherheit bei Nietzsche liest (die so schwach und schal ist, dass sie ihren echten Kampfesruf niemals über die Lippen bringt: »Lang lebe das Mittelmaß!«), kann man nicht anders, als an Tony Blair und den Millennium Dome zu denken, dessen blasse und paradoxerweise sich selbst abwertende Großspurigkeit sich unglücklich abhebt von der grausamen Opulenz der Denkmäler, die in den von Nietzsche so geliebten, tragischen und heroischen Gesellschaften der Antike errichtet wurden.

»Demokratische Gesellschaften«, schrieb Francis Fukuyama in Das Ende der Geschichte,

»fordern eher die Überzeugung, daß alle Lebensstile und alle Werte gleich seien. Sie schreiben ihren Bürgern nicht vor, wie sie leben müssen oder was sie glücklich macht, gut oder berühmt. Statt dessen kultivieren sie die Tugend der Toleranz, Toleranz wird zur wichtigsten Tugend überhaupt in demokratischen Gesellschaften. Wenn die Menschen aber nicht mehr anerkennen können, daß eine bestimmte Lebensweise höher steht als eine andere, dann greifen sie darauf zurück, das schiere Leben anzuerkennen, das heißt den Körper, seine Bedürfnisse und seine Ängste. Nicht alle Seelen sind gleich gut oder begabt, aber alle Körper können leiden; daher spielt das Mitleid in demokratischen Gesellschaften eine große Rolle, und die Frage, wie der Körper vor Leiden bewahrt werden kann, erlangt höchste Priorität. Es ist kein Zufall, daß die Menschen in demokratischen Gesellschaften so sehr mit materiellem Erwerb beschäftigt sind und daß ihre Wirtschaft darauf ausgerichtet ist, die Myriaden kleiner Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen. Nietzsche zufolge haben die letzten Menschen ›die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme‹.«20

»Wir müssen Ziele auswählen, die keinen Sinn ergeben.«21

Während die Charaktere in Die Schreckensgalerie versuchen, das mediale, traumatische Gründungsereignis der 1960er Jahre zu reinszenieren – die Ermordung John F. Kennedys – versuchen die Figuren bei Ballard dasselbe für die Nullerjahre mit 9/11. Traven/Tallis/Travis wollen Kennedy noch einmal töten, »nur diesmal soll es Sinn ergeben«. Gould hingegen möchte, dass 9/11 geschieht, aber in einer Weise, die keinen Sinn ergibt.

Für Gould gibt es in der (post)modernen Welt einen Exzess des Sinns, einen Überschuss der Bedeutung. »Bringt man einen Politiker um, ist man an das Motiv gebunden, das einen den Abzug drücken ließ. Oswald und Kennedy, Princip und der Erzherzog. Bringt man jedoch wahllos jemanden um, schießt man in einem McDonald’s mit einem Revolver um sich – tritt das Universum zurück und hält den Atem an. Besser noch, man bringt fünfzehn Leute wahllos um.«22 Insofern ist der Mord an der Fernsehjournalistin Jill Dando eher eine Vorlage für Goulds antipolitischen Aufstand als 9/11, da die Gewalt der Anschläge immer noch (zu) intendiert war, zu sehr mit Bedeutung aufgeladen. Der Mord an Dando hingegen – brutal, bedeutungslos und ohne ein erkennbares Motiv – war ein direkter Angriff auf das BBC, ihr »Regime der Mäßigung und des gesunden Men­schenverstands«23 und die »Festung aus Verpflichtun­gen«24, die es zusammenhielt. Bei einer solchen Tat, deren einziges Motiv ein Angriff auf die Idee eines Motives an sich ist, eröffnet sich ein »leerer Raum, in den wir mit wirklicher Ehrfurcht starren könnten. Widersinnig, unerklärlich, so rätselhaft wie der Grand Canyon.«25

Gould ist ein eleganter und eloquenter Vertreter der »Abschaffungslinie« (Deleuze/Guattari), dem faschistischen Drang zur Zerstörung, der in letzter Instanz ein Drang zur Selbstzerstörung ist. Ballard, der – was ihm hoch anzurechnen ist – sich billigen Moralisierungen immer verweigert hat, würde einer solchen Darstellung zweifelsohne widersprechen, da eine Verurteilung oder Zensur Goulds genau die sicherheitspolitischen Werte be­stätigt, die er versucht zu unterlaufen.

Das in politischer Hinsicht Spannendste an Millennium People ist nicht die in vielerlei Hinsicht bekannte, bedeutungslose Gewalt, sondern die Punk-Theorie des Klassenkampfes.

»›Twickenham ist die Maginot-Linie des englischen Klassensystems. Wenn wir hier durchbrechen können, wird alles fallen.‹

›Die Klassensysteme sind also das Ziel. Sind die nicht universell – Amerika, Russland …?‹

›Natürlich. Aber nur hier ist das Klassensystem ein Mittel politischer Kontrolle. Seine wahre Aufgabe ist nicht, die Proleten unten zu halten, sondern die Mittelklasse zu beherrschen, sicherzustellen, dass sie gefügig und unterwürfig sind.‹«26

Ballards »neues Proletariat« («ausgestattet mit Privatschulen und BMWs«) wird zum politischen Subjekt in dem Moment, wo sie aufhören, ihre eigenen Klasseninteressen zu verfolgen. Nur dann kann ihnen die marxistische Erleuchtung zukommen, dass die Klasseninteressen der Bourgeoisie in niemandes Interesse sind.

»›Sie sehen, dass die Privatschulen ihre Kinder einer Gehirnwäsche unterziehen, um sie sozial fügsam zu machen und in einen Berufsstand zu überführen, der für den Konsumkapitalismus den Laden schmeißt.‹

›Die sinistren Mr. Bigs?‹

›Es gibt keine Mr. Bigs. Das System ist selbstregulierend. Es beruht auf unserem Sinn für bürgerliche Verantwortung. Ohne den würde die Gesellschaft zusammenbrechen. Genau genommen hat der Zusammenbruch vielleicht sogar schon begonnen.‹«27

Das System Blairs hat die ideologischen Gewinne des Thatcherismus konsolidiert und übertroffen, indem es den vollständigen Sieg von PR über Punk sichergestellt hat, von Höflichkeit über Antagonismus, vom Nutzwert der Mittelklasse über die proletarische Kunst. Es handelt sich dabei um einen ideologischen Trick, bei dem einerseits alles auf reine Instrumentalität reduziert wird, während andererseits alle Mittel darauf verwendet werden, kulturelle Artefakte herzustellen, die weder einen Nutzen noch eine Funktion haben. Von den Codices der Maya zu den Leitlinien der Unternehmen: Der tägliche Spin erzeugt eine Bedeutungslosigkeit, die in der vorgeschriebenen Banalität ihres ätzenden Nihilismus Goulds Poesie der bezeichnungslosen Unterbrechung merkwürdig nostalgisch wirken lässt.

Unter Blair wurde die Sicherheit der Mittelklasse zum Horizont allen Strebens. Das hyper-aufmerksame, gleißend helle 24-Stunden-Büro der Seele bietet uns lächerlicherweise das Geschäftsleben als der Libido noch am nächsten an. Ballard weiß, dass ein Ausbruch aus diesem Gefängnis der Affekte eine Aufhebung der libidinösen Besetzung des »schönen Hauses« und der »schönen Familie« erfordert, die die bürgerliche Gesellschaft immer noch als Ideal präsentiert.

In der Geschichte des Punks spielt die Mittelklasse eine große Rolle, doch die entscheidende katalytische Funktion einer bestimmten Form der Klassenverweigerung bleibt unterbelichtet. Der Ausbruch der Mittelklasse aus dem reproduktiven Futurismus in Selbstverletzung und Tribalisierung hat nur das Offensichtliche gezeigt: Ihre Karrieren und Privilegien sind leer, langweilig und kraftraubend. Doch heute, mehr als jemals zuvor, kann dieses Offensichtliche nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden.

»Das Interessante ist, dass sie gegen sich selbst protestieren. Es gibt keinen Feind da draußen. Sie wissen, dass sie der Feind sind.«28

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