Читать книгу Tom Sawyers Abenteuer und Streiche - Mark Twain, ReadOn Classics, Charles Dudley Warner - Страница 10

Sechstes Kapitel

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Je eifriger Tom sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und einem Gähnen auf. Ihm schien die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die Luft draussen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draussen kein lebendes Wesen zu erblicken, ausser einigen Kühen, welche schliefen.

Toms Herz sehnte sich nach Freiheit, oder doch wenigstens darnach, irgend etwas von Interesse zu haben, das ihm die schreckliche Langeweile vertreiben helfe. Mechanisch wanderte seine Hand zur Tasche und, siehe da, sein Antlitz erhellte ein Strahl dankbarer Rührung. Verstohlen kam die kleine Schachtel zum Vorschein, die Baumwanze wurde befreit und auf den langen, schmalen Schultisch gesetzt. Die unvernünftige Kreatur erglühte in diesem Augenblick wohl gleichfalls in tiefster Dankbarkeit, doch diese Wonne kam verfrüht, denn kaum hatte sie sich jubelnden Herzens marschfertig gemacht, als das grausame Schicksal, in Gestalt einer Stecknadel in Toms Hand, ihrem Laufe eine andere Richtung gab.

Toms Busenfreund sass neben ihm, leidend, wie dieser soeben noch gelitten, und zeigte sich augenblicklich von tiefstem, dankbarstem Interesse erfüllt für die neue Unterhaltung. Dieser Busenfreund war Joe Harper. Die ganze Woche hindurch waren die beiden Jungen geschworene Freunde, der Sonnabend nur sah sie regelmässig als Gegner auf dem Schlachtfelde. Joe zog sofort eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und begann sich mit Lust und Liebe am Einexerzieren der gefangenen Wanze zu beteiligen. Von Minute zu Minute nahm die Sache an Interesse zu. Bald meinte Tom, dass sie sich gegenseitig nur hinderten und somit keiner den vollen Genuss an der Wanze haben könne. So nahm er denn Joes Tafel vor sich hin auf den Tisch und zog von oben bis unten eine Linie genau durch die Mitte derselben.

„Jetzt,“ sagte er, „pass’ auf! So lang die Wanze auf deiner Seite ist, darfst du sie treiben mit der Nadel und ich lass’ sie in Ruhe. Brennt sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?“

„Schon gut, nur vorwärts,“ trieb der ungeduldige Joe, — „kitzle sie ’mal ein bisschen!“

Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war die Reihe des ,Kitzelns‘ an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den Äquator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte, in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften. Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder und wieder, gerade als sie den Sieg schon, sozusagen, in Händen hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den Besitz dieses köstlichen Guts. Endlich konnte es Tom nicht länger aushalten, die Versuchung war zu gross. So streckte er denn die Hand aus und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und rief drohend:

„Tom, lass das bleiben!“

„Ich will dir ja nur ein klein bisschen helfen, Joe.“

„Ach was, helfen! Brauch’ dich nicht, lass bleiben, sag’ ich.“

„Kuckuck, noch einmal. Ich werd’ doch auch ein bisschen helfen dürfen!“

„Lass’ bleiben, sag’ ich dir!“

„Ich will aber nicht.“

„Du musst — die Wanze ist auf meiner Seite.“

“Hör’ mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir oder mir?“

„Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und du sollst sie nicht anrühren, oder —“

„Na, wettst du, dass ich’s tu’? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr machen, was ich will — hol’ mich der und jener! Her damit, sag’ ich!“

Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte, zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den Fussspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb. Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.

Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und wisperte ihr ins Ohr:

„Setz’ deinen Hut auf und tu’ als ob du heim wolltest. Wenn du an der Ecke bist, lass die andern laufen und komm durch’s Heckengässchen zurück. Ich mach’s gerade auch so.“

So ging also jedes der beiden mit einem andern Haufen Kinder ab, am Ende des Heckenpfads trafen sie einander und als sie dann zusammen die Schule erreichten, hatten sie diese ganz für sich allein. Sie setzten sich nebeneinander, nahmen eine Tafel vor und Tom führte Beckys mit dem Griffel bewaffnete Hand sorgsam mit der seinen und schuf ein neues erstaunliches Wunder von Haus. Als das Interesse an der Kunst etwas zu erlahmen begann, machten sich die zwei ans Plaudern. Tom schwamm in einem Meer von Wonne. Jetzt fragte er:

„Magst du Ratten?“

„Puh nein, ich kann sie nicht ausstehen.“

„Ich auch nicht — lebendige, wenigstens. Aber tote, meine ich, die man an eine Schnur bindet und um seinen Kopf schwingt.“

„Nee, ich mach’ mir überhaupt nicht viel aus Ratten, so oder so. Was ich gern mag, ist Süssholz!“

„Das glaub’ ich. Wollt’, ich hätte ein Stück!“

„Wirklich? Ich hab’ eins. Da, du kannst ein bisschen dran kauen, musst mir’s aber dann wiedergeben, gelt?“

Das war nun eine wundervolle Beschäftigung. So kauten sie denn abwechselnd und baumelten dazu mit den Beinen gegen die Bank im Übermass wonnigsten Behagens.

„Warst du schon einmal im Zirkus?“, fragte Tom.

„Ja, und ich darf wieder hin, hat Papa versprochen, wenn ich sehr brav bin.“

„Ich war schon drei- oder viermal — nee noch viel, viel öfter dort. Die Kirche ist gar nichts dagegen! Im Zirkus ist immer was los. Wenn ich ’mal gross bin, werd’ ich Hanswurst!“

„Wahrhaftig? Das wird reizend! Die sind immer so wunderhübsch gefleckt, Hosen und Jacke und alles.“

„Das ist wahr. Und sie verdienen Haufen von Geld — beinahe ’nen Dollar im Tag, meint Ben Rogers. Sag’ mal Becky, warst du schon mal verlobt?“

„Was ist denn das?“

„Na verlobt — wenn man sich heiraten will.“

„Nein, nie.“

„Möchtest du’s gern?“

„Vielleicht, ich weiss nicht. Wie ist’s denn ungefähr?“

„Wie’s ist? Ja, wie gar nichts eigentlich. Du brauchst nur ’nem Jungen zu sagen, du wollst keinen andern haben als ihn, nie, nie und nimmer, dann gibst du ihm’nen Kuss und die Geschichte ist fertig. Das kann doch ein kleines Kind — nicht?“

„’nen Kuss? Warum denn den?“

„Ja, das muss man, weil, — kurz sie tun’s eben alle, das gehört dazu.“

„Alle tun’s?“

„Ja, alle die ineinander verliebt sind. Weisst du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?“

„J — ja.“

„Was denn?“

„Ich sag’s nicht.“

„Soll ich’s sagen?“

„J — ja — aber ein andermal.“

„Nein, jetzt.“

„Nein, nicht jetzt — morgen.“

„Ach nein, jetzt, bitte, bitte, Becky. Ich will’s auch nur ganz, ganz leise sagen. Soll ich?“

Da Becky zögerte, nahm Tom ihr Schweigen für Zustimmung, schlang den Arm um sie, legte den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte ihr leise, leise die uralte Zauberformel zu. Dann fuhr er ermunternd fort:

„Jetzt bist du dran. Nun musst du’s sagen — ganz dasselbe.“

Eine Weile widerstand sie, und bat dann:

„Du musst dein Gesicht dorthin drehen, dass du mich nicht sehen kannst, dann sag ich’s. Du darfst’s aber keinem, keinem Menschen wieder sagen, gelt Tom, das versprichst du, gelt?“

„Nie im Leben, Becky, gewiss und wahrhaftig. Na — denn los!“

Er wandte den Kopf ab, sie beugte sich schüchtern zu ihm, bis ihr Atem seine Wange streifte und seine Locken bewegte und flüsterte: „Ich — liebe — dich.“

Dann sprang sie auf, rannte um Bänke und Tische, Tom immer hinterdrein, nahm zuletzt Zuflucht in einer Ede des Zimmers und drückte ihr Gesichtchen fest in die weisse kleine Schürze. Tom schlang die Arme um ihren Hals und bat:

„Jetzt, Becky, ist’s ja beinahe vorbei — nur noch der Kuss. Du brauchst dich doch davor nicht zu fürchten, das ist ja gar nichts. Bitte, Becky.“

Und er versuchte Schürze und Hände vom Gesicht zu lösen.

Allmählich gab sie nach und liess die Hände sinken. Das Gesichtchen, ganz rot und erhitzt von der Anstrengung, kam zum Vorschein und unterwarf sich der Prozedur. Tom küsste die roten Lippen und sagte:

„So, jetzt ist’s geschehen, Becky. Und von jetzt an, weisst du, darfst du nur mich lieben und heiraten und gar, gar keinen andern, nie, niemals, in alle Ewigkeit nicht. Willst du?“

„Nein, ich will nie ’nen andern lieben, Tom, und nie ’nen andern heiraten als dich, aber du darfst’s auch nicht tun, Tom, darfst auch nie ’ne andere heiraten wollen.“

„Gewiss! Natürlich, das gehört auch dazu. Und immer auf dem Weg zur Schule oder nach Hause musst du mit mir gehen, wenn’s niemand sieht, und bei Gesellschaften wähl’ ich dich und du mich zum Spiel, denn so macht man’s, wenn man verlobt ist.“

„Nein, wie hübsch! Davon hab’ ich noch gar nichts gewusst.“

„Ja, ’s ist schrecklich lustig. Ei, ich und Anny Lorenz —“

Beckys grosse, erschreckte Augen verrieten Tom sofort seinen Missgriff. Verwirrt hielt er ein.

„O, Tom. Ich bin also nicht die erste, mit der du verlobt bist?“

Ihre Tränen flossen. Tom tröstete:

„Wein’ nicht, Becky. Ich mach’ mir nichts mehr aus der.“

„Doch, Tom, doch — du weisst selbst, dass du dir noch ’was aus ihr machst . . .“

Tom versuchte den Arm um ihren Hals zu legen, sie aber stiess ihn fort, wandte das Gesicht der Wand zu und schluchzte herzbrechend weiter. Tom versuchte es noch einmal mit sanft zuredenden Worten und wurde wieder zurückgewiesen. Nun regte sich sein Stolz, stumm schritt er der Türe zu und ging hinaus. Draussen drückte er sich eine Weile herum, rastlos und unbehaglich, von Zeit zu Zeit nach der Türe schielend, in der Hoffnung, sie würde bereuen und kommen, ihn zurückzuholen. Sie aber kam nicht. Nun wurde ihm schlecht zu Mute und er begann zu fürchten, dass er selber im Unrecht sei. Es kostete ihn einen harten Kampf, noch einmal Annäherungsversuche zu machen, doch wappnete er sich schliesslich mit Mannesmut und ging hinein. Dort stand Becky noch in ihrem Winkel und weinte, das Gesicht gegen die Wand gepresst. Toms Herz krampfte sich zusammen bei dem Anblick. Er trat zu ihr, im Moment ratlos, wie er die Verhandlungen einleiten sollte. Endlich stiess er zögernd hervor:

„Becky, ich — ich mag keine andre mehr sehen, als dich.“

(Keine Antwort — nur erneutes Schluchzen.)

„Becky —“ (bittend.)

„Becky, willst du mir gar nichts sagen?“

(Heftiges Schluchzen.)

Tom grub in seinen Taschen und brachte endlich das Kleinod seines Herzens, den Messingknopf irgend eines alten Deckels, zum Vorschein, hielt ihr denselben vor, so dass sie ihn sehen konnte und sagte in einladendem Tone:

„Bitte, Becky, nimm doch das da, sieh mal her!“

Sie aber schlug’s unbesehen zu Boden. Nun wandte sich Tom wortlos, schritt aus dem Hause und suchte das Weite, um für diesen Tag nicht zur Schule zurückzukehren. Bald ward es Becky klar, was sie verscherzt hatte. Sie rannte nach der Türe, auf den Hof, flog um die Ecke des Hauses — er war nicht mehr zu sehen. Nun erhob sie die Stimme:

„Tom, Tom, komm zurück, Tom!“

Atemlos lauschte sie, keine Antwort. Ihre einzigen Gefährten waren Schweigen und Einsamkeit. Wieder setzte sie sich, um zu weinen, und als dann die Schüler zu den Nachmittagsstunden herbeizuströmen begannen, musste sie ihre Trauer bergen, ihr gebrochenes Herz zur Ruhe bringen und das Kreuz eines langen, trübseligen, schmerzvollen Nachmittags auf sich nehmen, ohne unter diesen Fremden auch nur eine fühlende Brust zu haben, die ihren Schmerz hätte teilen können. —

Tom Sawyers Abenteuer und Streiche

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