Читать книгу Tom Sawyers Abenteuer und Streiche - Mark Twain, ReadOn Classics, Charles Dudley Warner - Страница 9
Fünftes Kapitel
ОглавлениеDer Montagmorgen fand Tom sehr niedergeschlagen. Das war eigentlich an jedem Montagmorgen der Fall, denn damit begann ja eine neue Woche der Plage und des Leidens in der Schule. Gewöhnlich begrüsste er diesen Tag mit dem Wunsche, dass es lieber gar keine Feiertage geben möchte, denn das machte die nun wieder aufzunehmenden Ketten der Sklaverei nur um so drückender und fühlbarer.
Tom lag da und dachte nach. Plötzlich tam ihm die leuchtende Idee: wenn er nun krank wäre, dann brauchte er doch nicht zur Schule. Das war die einzige Möglichkeit. Er untersuchte und prüfte sein ganzes Körpersystem. Nirgends fand sich auch nur das geringste Schadhafte. Von neuem prüfte er. Diesmal meinte er leise Anzeichen von kolikartigen Schmerzen zu verspüren, die er mit rasch aufkeimender Hoffnung liebend zu beobachten begann. Trotzdem verringerten sich diese aber bei näherer Betrachtung mehr und mehr und waren bald gänzlich verschwunden. Wieder überlegte Tom. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner oberen Zähne wackelte bedenklich. Er frohlockte. Schon begann er sich zu einem tiefen Stöhnen vorzubereiten, das er als Einleitung vorausschicken wollte, als ihm noch zur richtigen Zeit der Gedanke kam, dass, wenn er diesen Beweis von Krankheit ins Feld führe, die Tante ihm einfach den Zahn ausreissen würde, und das tat weh. Damit wollte er also nur im Notfall herausrücken und jetzt erst noch ein bisschen weiter herum denken. Eine Weile war alles Sinnen umsonst, dann erinnerte er sich, wie der Doktor einmal von einem Manne erzählt hatte, dem irgend etwas, Tom wusste nicht mehr genau was, etwas wie kalter Brand oder dergleichen, bei einem schlimmen Finger hinzugetreten sei, dass derselbe zwei bis drei Wochen damit zu tun gehabt und schliesslich beinahe den Finger verloren habe. Zum Glück war Tom imstande, eine schlimme Zehe aufzuweisen, die er sich vor ein paar Tagen einmal irgendwo verletzt hatte. Die zog er nun eiligst unter der Decke vor, um sie aufs eingehendste zu prüfen. Damit liess sich was machen! Leider kannte er die nötigen Symptome nicht, über die er sich beklagen musste, aber probieren wollte er’s doch auf jeden Fall und so begann er denn laut und tief aufzustöhnen.
Sid aber schlief ruhig und sorglos weiter.
Tom stöhnte lauter und meinte auf einmal wirklich Schmerz in der Zehe zu spüren.
Sid gab kein Zeichen.
Tom keuchte schon förmlich vor Anstrengung. Einen Moment sammelte er neue Kraft, hielt den Atem an und stiess dann eine ordentlich fortlaufende Tonleiter von wunderbar echtem Stöhnen aus.
Sid schnarchte weiter.
Nun wurde Tom ärgerlich. Er begann den hartnäckigen Schläfer zu rütteln und ,Sid, Sid‘ zu rufen. Das wirkte besser und nun begann das Stöhnen von neuem. Sid gähnte, streckte sich, stützte sich dann mit einem letzten Schnarcher auf seinen Ellbogen und starrte nach Tom hin. Tom stöhnte weiter. Endlich ruft Sid:
„Tom, so hör‘ doch, Tom!“
Keine Antwort.
„Du, Tom, Tom, was ist los?“ und er rüttelte ihn und starrte ihm voll Angst ins Gesicht.
Tom stöhnte:
„Ach, Sid, lass los, du tust mir weh!“
„Herr Gott, was gibts, Tom? Ich muss die Tante rufen.“
„Nein, lass sein. Es wird schon vorüber gehen. Ruf‘ niemand.“
„Doch, natürlich, das muss ich. Stöhn’ doch nicht so, Tom, das ist ja schrecklich. Wie lang tut dir’s denn schon weh?“
„Ach, Stunden lang. Autsch, autsch! Sei doch still, Sid, und lass mich in Ruhe.“
„Warum hast du mich denn nicht früher geweckt? Herr Gott, Tom, hör’ auf, es macht einen ja elend, dich so stöhnen zu hören. Wo tut dir’s denn weh?“
„Ich verzeih dir alles, Sid, was du mir je getan hast. (Stöhnen.) Alles, alles, Sid! Wenn ich tot bin —“
„O, Tom, du wirst doch nicht sterben? Sag nein, Tom, komm, sag nein. Vielleicht —“
„Ich vergebe allen Menschen, Sid. (Tiefes Stöhnen.) Sag’s allen. Und, Sid, gib du die schöne gelbe Türklinke, die ich habe und die einäugige Katze dem Mädchen, das neulich erst gekommen ist und sag ihr —“
Aber Sid hatte schon seine Kleider aufgerafft und war verschwunden. Tom litt nun in Wahrheit, so lebhaft arbeitete seine Einbildungskraft und sein Stöhnen fing an erschreckend natürlich zu klingen.
Sid flog die Treppe hinunter und rief atemlos:
„Tante Bolly, Tante Polly, komm schnell, Tom stirbt!“
„Stirbt?“
„Ja, ja, eil’ dich doch, frag’ nicht lang.“
„Dummheiten! Ich glaub’s nicht.“
Trotzdem aber stürzte sie die Treppe hinauf, so schnell sie ihre alten Beine tragen wollten und Mary hinter ihr her. Blass war auch sie geworden und ihre Lippen zitterten. Am Bett angelangt, keuchte sie nur so:
„Tom, Tom, was gibt’s, was ist los?“
„Ach, Tante, ich —“
„Was gibt’s — was ist’s, Kind, was fehlt dir?“
„Ach, Tante, ich — ich hab’ furchtbare Schmerzen da an meiner Zehe, — ich hab’ — ja ich hab’, glaub ich — den kalten Brand!“
Erleichtert aufseufzend sank jetzt die arme Tante auf einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, tat dann beides zusammen, was sie wieder soweit herstellte, dass sie Worte fand:
„Tom, Bengel, wie hast du mich erschreckt! Jetzt hör’ aber auf mit dem Unsinn und mach’, dass du aus dem Bett kommst. Es ist Zeit zum Aufstehen! Vorwärts — oder ich geb‘ dir was, um deinen kalten Brand zu wärmen!“
Das Stöhnen hörte auf und der Schmerz verschwand aus der Zehe. Kleinlaut und niedergedrückt ob des verunglückten Experiments meinte der Junge:
„Tante, wahrhaftig, ich glaubte, es müsse der kalte Brand sein, es tat so furchtbar weh, dass ich gar nicht mehr an meinen Zahn dachte.“
„An deinen Zahn? Was ist denn mit dem Bahn los?“
„Ach, der wackelt und tut gar schrecklich weh.“
„Na, na, nur nicht wieder stöhnen, ist ganz unnötig! Mund auf! Ja, der wackelt richtig, daran stirbst du aber noch lange nicht! Mary, gib mir einen Seidenfaden und hol’ ein Stück glühende Kohle aus der Küche!“
Eiligst rief Tom, der plötzlich ganz munter wurde:
„Bitte, bitte, Tantchen, zieh’ ihn mir nicht aus, er tut schon gar nicht mehr weh. Ei, ich will des Todes sein, wenn ich noch das geringste spüre! Bitte, bitte, nicht, Tantchen, ich will ja doch wahrhaftig nicht zu Hause und von der Schule wegbleiben.“
„So, du willst nicht zu Hause bleiben, mein Junge, willst durchaus nicht, was? Also deshalb all der Lärm! Wärst wohl gern aus der Schule geblieben und dafür fischen gegangen, gelt? Na, ich kenn’ dich, Tom, durch und durch, mir machst du keine Flausen vor, du Bengel! Tom, Tom, und ich hab’ dich doch so lieb und du, — du denkst nur dran, wie du deiner alten Tante das Herz brechen kannst. Geh, schäm’ dich in deine schwarze Seele hinein!“
Mittlerweile waren die zahnärztlichen Instrumente zur Stelle geschafft worden. Ein Ende des Seidenfadens befestigte die Tante mit einer Schlinge an Toms Zahn, während sie das andere um den Bettpfosten schlang, so dass der Faden straff angespannt war. Dann ergriff sie mit einer Zange die glühende Kohle und fuhr damit geschwind auf Toms Gesicht los. Ein Ruck — und der Zahn hing baumelnd am Bettpfosten.
Wie aber jede überstandene Prüfung ihren Lohn in sich trägt, so auch diese. Als sich Tom später mit der neuerworbenen Zahnlücke auf der Strasse zeigte, war er ein Gegenstand des Neides für alle Kameraden, denn keiner von ihnen war imstande, auf solch‘ neue, noch nie dagewesene Weise auszuspucken, wie es nun Tom, durch die Lücke in der Zahnreihe, tat. Er zog ein ganzes Gefolge von Bewunderern hinter sich her, die sich für die Schaustellung interessierten, und ein anderer Junge, der bis dahin, wegen eines verletzten Fingers, der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung gewesen, sah sich plötzlich all seines Ruhmes beraubt, er musste ohne Erbarmen dem neu aufstrahlenden Gestirne weichen, und zurücktreten in den Schatten des Nichts. Sein Herz war ihm drob schwer, und eine Verachtung heuchelnd, die ihm fern lag, meinte er: das sei auch was Rechtes, so auszuspucken, wie Tom Sawyer. Da schallte ihm ein höhnendes: saure Trauben, saure Trauben! entgegen und beschämt schlich er zur Seite, ein entthronter. Held.
Auf dem Weg zur Schule traf Tom den jugendlichen Paria des Ortes, Huckleberry Finn, den Sohn des bekanntesten Stadt-Trunkenboldes. Huckleberry war der Gegenstand des Abscheus und Hasses aller Mütter der Stadt, die ihn fürchteten wie die Best, weil er faul und zuchtlos, roh und böse war, wie sie dachten, und weil — ihre eigenen Jungen ihn anstaunten und vergötterten, sich förmlich um eine verbotene Gesellschaft rissen und alles drum gegeben haben würden, wenn sie hätten sein dürfen, wie er. Tom, wie alle die andern ordentlichen, anständigen Jungen’, beneidete Huckleberry um seine verlockende Existenz, und es war ihm streng untersagt worden, je mit dem ,schlechten Kerl‘ zu spielen. Gerade darum tat er es denn auch gewissenhaft, wenn sich nur irgend Gelegenheit dazu fand — und tat es mit Wonne. Huckleberry steckte immer in alten, abgelegten Kleidern von Erwachsenen, deren Fetzen und Lumpen nur so um ihn herum hingen. Sein Hut war nur die Ruine einer vormaligen Kopfbedeckung, deren Rand zerfetzt auf die Schultern niederbaumelte. Sein Rock, wenn er überhaupt einen trug, hing ihm bis auf die Füsse und zeigte die hintern Knöpfe etwa in der Gegend der Kniekehlen. Nur ein Träger hielt seine Hosen an Ort und Stelle, Hosen, deren geräumige Sitzpartie zu leer war und sich nur zuweilen im Winde blähte, während die ausgefransten Enden im Schmutz nachschleiften, wenn sie nicht zufällig aufgekrempelt waren. Huckleberry kam und ging, wie es ihm beliebte. Bei schönem Wetter schlief er auf Treppenstufen oder sonst wo, bei schlechtem in leeren Fässern, alten Kisten, oder wo er eben unterkriechen konnte, wählerisch war er keineswegs. Er brauchte nicht zur Schule, nicht zur Kirche, brauchte niemanden als Herrn anzuerkennen, brauchte keiner lebenden Seele zu gehorchen. Er konnte schwimmen und fischen gehen, wann und wo er wollte, konnte bleiben, so lang es ihm behagte. Niemand verbot ihm, sich mit andern zu prügeln, und abends konnte er aufbleiben bis Mitternacht und länger, ihn zankte keiner. Er war der erste, der barfuss lief im Frühling und der letzte, der im Herbste wieder in das lästige Leder kroch. Zu waschen brauchte er sich nie, zu kämmen auch nicht, noch frische Wäsche anzuziehen und fluchen konnte er wie ein Alter, wundervoll. Mit einem Wort alles, alles, was das Leben schön und angenehm macht, besass dieser beneidete Huckleberry im reichsten Masse. So dachte und fühlte jeder einzelne der armen, geplagten, ,anständigen’ Jungen in St. Petersburg. Tom rief also natürlich diesen für ihn romantischsten aller Helden sofort an:
„Holla, Huckleberry!“
„Holla, du selber!“
„Was hast du da?“
„Tote Katze.“
„Zeig her, Huck. Herrgott, wie steif! Woher hast du’s?“
„Gekauft von ‘nem Jungen.“
„Was hast du dafür gegeben?“
„‘ne Schweinsblase und ‘nen blauen Zettel.“
„Woher war denn der blaue Zettel?“
„Von Ben Rogers, dem hab’ ich vor vierzehn Tagen ‘ne prachtvolle Gerte dafür gegeben.“
„Zu was kann man denn tote Katzen brauchen, Huck?“
„Zu was? Ei, um Warzen zu vertreiben.“
„Nein! Wahrhaftig? Ich weiss noch was Besseres.“
„Du? Wird was recht’s sein! Was denn?“
„Wasser aus faulem Holz!“
„Wasser aus faulem Holz! Ist den Kuckuck nix wert.“
„Nichts wert? Hast du’s probiert?“
„Ich nicht, aber Bob Tanner.“
„Wer hat dir’s gesagt?“
„Wer? Ei er hat’s dem Willy Thatcher gesagt und der dem Johnny Bäker und der dem Jim Hollis und der dem Ben und der Ben ‘nem alten Nigger und der mir. Da, nun weisst du’s!“
“Na und was weiter? ‘s ist ja doch nur gelogen! Die lügen alle miteinander, bis auf den Nigger, den kenn’ ich nicht. Aber ich kenn‘ auch keinen Nigger, der nicht lügt, oder du? Jetzt aber erzähl’ wie’s der Bob Tanner gemacht hat mit den Warzen, Huck!“
„Na, der hat seine Hand in ‘nen alten Baumstumpf gesteckt, in dem Regenwasser war.“
„Am Tag?“
„Natürlich.“
„Mit dem Gesicht nach dem Baum zu?“
„Gewiss, ich glaub’ wenigstens.“
„Hat er was dazu gesagt?“
„Was weiss ich? — wahrscheinlich nicht!“
„Aha! Da haben wir’s! Und dann will der Kerl Warzen mit faulem Wasser kurieren und stellt sich so an! Da kann’s natürlich nichts nützen. Ich will dir sagen, wie man’s macht. Erst geht man ganz mutterseelenallein mitten in den Wald, wo man einen alten Baumstumpf mit Wasser weiss und dann, wenn’s Mitternacht ist, stellt man sich mit dem Rücken nach dem Stumpf zu, tunkt die Hand ins Wasser und sagt: Schreit die Eule, quakt der Frosch, scheint der Mond darauf, Faules Wasser, Zauberwasser zehr’ die Warzen auf!
„Danach tritt man rasch mit geschlossenen Augen elf Schritt vor, dreht sich dreimal um sich selbst und geht heim, ohne mit jemand ein Wort zu reden. Denn wenn man das tut, ist der Zauber gebrochen!“
„Na, das lässt sich hören, so aber hat’s der Bob nicht gemacht, das weiss ich gewiss!“
„Ja, da hast du wahrlich recht, denn der ist jetzt noch der warzigste Jung’ in der Schule und wenn er sich mit dem faulen Wasser nicht dumm angestellt hätte, so brauchte er keine einzige mehr zu haben. Ich bin so schon über tausend Warzen los geworden, Huck. Ich greif’ so viele Frösche an, dass ich immer ein paar Dutzend Warzen an den Händen habe. Manchmal nehm’ ich auch eine Bohne.“
„Ja, Bohnen sind gut. Das hab’ ich schon selbst probiert.“
„Wirklich? Wie machst du’s?“
„Ei, ich nehm’ die Bohne und schneid‘ sie in zwei Stücke, ritz’ dann die Warze blutig und tröpfle das Blut auf das eine Stück der Bohne und vergrab’ das um Mitternacht beim Vollmond am Kreuzweg. Das andere Stück wird verbrannt. Jetzt zieht und zieht das blutige Stück und will das andre nachziehen, und das Blut zieht mit und zieht, bis die Warze fort ist. So mach’ ich’s.“
„Und das ist auch ganz richtig, Huck, nur hilft’s noch mehr, wenn du beim Vergraben sagst: ,Fort die Bohne, Warze fort, komm’ nicht mehr zum alten Ort.‘ Das ist ausgezeichnet, sag’ ich dir. So macht’s Joe Harper und der war schon beinahe in Cronville und fast überall. Aber das mit der toten Katze, das weiss ich nicht.“
„Na, das ist einfach. Du nimmst die tote Katze und gehst auf den Kirchhof, so um Mitternacht herum, auf das Grab von irgend einem schlechten Kerl. Schlag zwölf kommt dann der Teufel, vielleicht auch zwei oder drei, man sieht sie nur nicht und hören tut man nur so was wie Wind. Und wenn sie dann den Kerl mit sich fortnehmen, schmeisst man ihnen die Katze nach und ruft:
Will der Deubel sich versehn,
Muss die Katze noch drein gehn,
Warze fliegt auch hinterdrein,
Werd’ alle drei los dann sein!
„Das vertreibt dir jede Warze noch vor der Geburt.“
„Klingt nicht übel. Hast du’s mal probiert, Huck?“
„Nee, aber die alte Mutter Josephine hat’s mir gesagt.“
„Na, die muss es wissen, das soll ja ‘ne Hexe sein.“
„Soll sein! Ist’s, Tom, ist’s, das weiss, ich genau. Die hat meinen Alten behext, das sagt der immer. Wie der einmal an ihr vorbeigegangen ist, hat er grad‘ gesehen, wie sie ihn behext hat und da hat er einen Stein genommen und den nach ihr geschmissen; wenn die sich nicht gebückt hätt’, wär‘ sie längst keine Hex‘ mehr. Na, und in derselbigen Nacht ist mein Alter von einer Mauer gefallen, auf der er gelegen hat und geschlafen, weil er betrunken war und hat den Arm gebrochen.“
„Puh, das ist ja grässlich! Woran hat er denn gemerkt, dass sie ihn behext?“
„Woran? Ei, das weiss mein Alter ganz genau. Er sagt, wenn sie einen immerzu anstarren und was dazu brummen, dann behexen sie einen, besonders, wenn sie brummen und was vor sich hin murmeln. Dann sagen sie das Vaterunser rückwärts.“
„Sag’ mal, Huck, wann willst du denn das mit der Katze probieren?“
„Heut’ nacht. Ich denk’, dann werden sie den alten Williams holen kommen.“
„Der ist aber schon am Sonnabend begraben worden, Huck, warum haben sie ihn da nicht schon in der Nacht geholt?“
„Na, du redst auch, wie du’s verstehst! Sonnabend mitternacht ist doch schon Sonntag und da hat kein Teufel mehr was zu suchen hier oben. Der wird sich schwer hüten, sich am Sonntag blicken zu lassen.“
„Daran hab’ ich freilich nicht gedacht. Wahrhaftig, so ist’s. Darf ich mitgehen?“
„Meinethalben, wenn du dich nicht fürchtest.“
„Fürchten? Na, auch noch! Wirst du miauen vor unserm Haus, wenn’s Zeit ist?“
„Ja, wenn du mich nicht warten lässt. Das letztemal hab’ ich so lang miauen müssen, bis euer alter Nachbar mit Steinen nach mir warf und auf den Kater fluchte, der ihm keine leibliche Ruhe lasse. Zum Dank hab’ ich ihm ’nen Backstein durchs Fenster geschmissen, der wird an den Kater denken! Aber verrat’ du mich nicht.“
„Wo werd’ ich! Damals hab’ ich nicht kommen können, weil mir die Tante immer auf den Hacken sass. Heut’ aber komm’ ich und wenn’s Feuer und Pech regnet. — Was ist denn das Huck?“
„Ach, nur ’ne Baumwanze.“
„Woher denn?“
Aus dem Wald.“
„Was willst du dafür?“
„Ich — ich weiss nicht, ich geb’s gar nicht her.“
„Gut.’s ist auch nur ’ne ganz lumpig kleine Wanze.“
„Na, das kann jeder sagen, der keine hat. Mir ist sie gross genug, mir ist sie lang gut.“
„Pah, ist auch was Rares! Ich könnt’ tausend haben, wenn ich nur wollte.“
„Na, warum willst du nicht? Gelt, du weisst warum, Alterchen! Die Baumwanze hier ist was Seltenes, denn ’s ist noch früh für Baumwanzen. Wenigstens ist’s die erste, die ich dies Jahr sehe!“
„Hör’ du, Huck, ich geb’ dir meinen schönen Zahn dafür.“
„Zeig’ her.“
Tom zog ein Stückchen Papier hervor, das er sorgfältig aufrollte. Huck sah prüfend hinein. Die Versuchung war gross. Zuletzt fragte er:
„Ist der auch echt?“
Ohne jede weitere Beteuerung öffnete Tom den Mund, um die Lücke zu zeigen.
„Na, gut,“ meinte Huck, „also abgemacht, schlag ein!“
Tom barg die Wanze vorsichtig in einer kleinen Schachtel, die ähnlichem Gewürm schon öfter zum Gefängnis gedient hat und immer für vorkommende Fälle in Toms Tasche bereit war. Huck sackte den Zahn ein und beide Jungen trennten sich, jeder in dem erhebenden Bewusstsein, einen sehr guten Tausch gemacht zu haben.
Als Tom das kleine, einzeln gelegene Schulhaus erreichte, öffnete er hastig die Türe und eilte auf seinen Platz, als käme er eben mit grösstmöglichster Geschwindigkeit direkt von zu Hause angestürzt. Geschäftig hing er seinen Hut an den Nagel, warf die Bücher auf den Tisch, sich selbst auf die Bank und machte Miene, sich Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen. Der Lehrer, der hoch oben hinter dem Katheder auf einem hochlehnigen Rohrsessel thronte, und der bei der Stille, die das eifrige Summen der lernenden Kinder nur noch einschläfernder machte, ein klein wenig eingenickt war, erwachte von der Unterbrechung:
„Thomas Sawyer!“
Als Tom diesen seinen Namen in unverkürzter Schönheit an sein Ohr schlagen hörte, wusste er, dass es nichts Gutes bedeute.
„Herr Lehrer!“
„Komm’ einmal hierher zu mir. Warum bist du wie gewöhnlich wieder zu spät dran?“
Eben wollte Tom irgend eine kleine Notlüge zu Hilfe nehmen, als er zwei lange, blonde Schwänze gewahrte, die an einem Rücken niederbaumelten, den er sofort mit dem elektrischen Instinkt der Liebe erkannte. Und neben jenem Rücken war der einzig leere Platz, bei den Mädchen drüben. Schnell gefasst sagte er daher:
„Ich musste noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden!“
Dem Lehrer stand der Atem still, hilflos, ungewiss, starrte er den kecken Sünder an. Das Summen der Lernenden verstummte, die Kinder trauten ihren Ohren nicht ob dieser offenen Sprache, dachten, Tom müsse verrückt geworden sein. Endlich, nach atemloser Pause, fand der Lehrer Worte:
„Was — was hast du gesagt?“
„Musste noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden,“ wiederholte Tom sorglos.
Ein Missverständnis war hier nicht möglich.
„Thomas Sawyer, auf dieses ganz ausserordentlich erstaunliche Bekenntnis kann nur die Rute antworten. Jacke herunter!“
Und nun tanzte des Lehrers Rute auf Toms Rücken, bis Hand und Arm fast lahm waren und die Rute sich in Wohlgefallen auflöste. Dann folgte der Befehl:
„Jetzt gehst du und setzest dich zur Strafe zu den Mädchen! Und lass dir das als Warnung dienen! Marsch!“
Das Kichern, welches nun das Zimmer durchlief; schien den Jungen sehr verlegen zu machen, in Wahrheit war es aber nur das Bewusstsein, erreicht zu haben, wonach er gestrebt, nämlich sich seiner Gottheit nahen zu dürfen. Standhaft wie ein Märtyrer, hatte er die Prügel ertragen, die gleichsam die dunkle Pforte bildeten, durch die er nun zu seinem Paradiese eingehen sollte. Vorsichtig liess er sich ganz am äussersten Ende der Bank nieder. Mit einem verächtlichen Zurückwerfen des Kopfes rückte das Mädchen so weit als möglich von ihm weg. Das Flüstern, Köpfezusammenstecken, Kichern und das bedeutungsvolle Anstarren des armen Sünders dauerte noch eine Weile fort, Tom aber schien keine Notiz davon zu nehmen. Still sass er da, hatte die Arme über den Tisch gelegt und sah mit grosser Aufmerksamkeit in sein geöffnetes Buch. Allmählich hörte er auf, der Gegenstand der allgemeinen Beachtung und Heiterkeit zu sein, und wieder füllte das gewöhnliche Summen der Schule die sommerlich stille Luft. Jetzt begann Tom verstohlene Blicke nach seiner Göttin zu werfen. Sie bemerkte es, rümpfte das Näschen und wandte eine volle Minute lang den Kopf ab. Als sie verstohlen wieder nach ihrem Banknachbar hinblinzelte, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stiess ihn weg, Tom legte ihn sorgsam wieder vor sie; wieder stiess sie ihn fort, aber schon mit weniger Heftigkeit. Geduldig schob Tom ihn zurück, da liess sie ihn liegen. Jetzt kritzelte Tom auf seine Tafel: „Bitte behalt’ ihn — ich habe noch mehr.“ Sie las die Worte, gab aber kein Zeichen von sich, weder zustimmend noch verneinend. Jetzt begann der Junge etwas auf seine Tafel zu zeichnen, das er mit der linken Hand vor ihren Blicken barg. Eine Weile lang schien sie sich gar nicht darum zu kümmern, bald aber begann sich menschliche Neugier in ihr zu regen, die sich in allerlei kaum bemerkbaren Zeichen kund gab. Tom zeichnete weiter, anscheinend ganz in sein Werk versunken. Das Mädchen suchte auf unverfängliche Art sich einen Blick auf die Zeichnung zu verschaffen, der Junge aber verriet mit keiner Miene, dass er dies bemerkte. Endlich gab sie nach und flüsterte zögernd:
„Du, lass mich doch mal sehen!“
Tom enthüllte nun das traurige Zerrbild eines Hauses mit zwei windschiefen Giebeln, aus dessen Schornstein ein korkzieherartiges Rauchwölkchen aufschwebte. Jetzt war des Mädchens ganzes Interesse, wach, und alles darüber vergessend, folgte sie mit Eifer der Vollendung des Meisterwerks. Als es fertig war, bestaunte sie es einen Moment und flüsterte dann:
„Wundervoll — jetzt noch ’nen Mann!“
Der Künstler stellte einen Mann in den Vordergrund, lang wie ein Mastbaum; mit einem Schritt hätte er über das Haus wegsteigen können. Die Zuschauerin aber war nicht kritisch, ihr gefiel das Ungetüm und sie wisperte:
„Der Mann ist prächtig — nun mach’ mich, wie ich daher komme!“
Tom malte eine Art Achter mit einem kreisrunden Vollmond oben und vier dünnen Streifen als Arme und Beine. Die sich weit aufspreizenden Finger bedachte er mit einem ungeheuren Fächer. Das Original des Gemäldes fühlte sich geschmeichelt und meinte:
„Nein, wie nett — wenn ich doch zeichnen könnte!“
„Das ist leicht,“ flüsterte Tom, „ich will dich’s lehren!“
„O, willst du? Wann?“
„Am Mittag. Gehst du zum Essen heim?“
„Wenn du bleibst, bleib ich auch.“
„Gut, das ist also abgemacht. Wie heisst du?“
„Becky Thatcher. — Und du? — Ach, ich weiss, Thomas Sawyer.“
„So heiss ich nur, wenn ich Schelte oder Prügel krieg’, sonst heiss ich Tom. Du rufst mich Tom, gelt?“
„Ja.“
Jetzt kritzelt Tom was auf die Tafel, mit der linken Hand das Geschriebene zuhaltend. Diesmal wollte sie’s gleich sehen. Tom sagte:
„O, ’s ist nichts.“
„Doch, doch!“
„Nein, ’s ist nichts, es liegt dir nichts dran, ob du’s siehst.“
„Doch, nein wirklich, bitte, lass mich sehen.“
“Du wirst’s weiter sagen.“
„Nein, nein, dreimal nein, gewiss und wahrhaftig nicht.“
„Wirst du’s auch keinem Menschen sagen, so lang du lebst?“
„Nie im Leben, niemand! Nun zeig’ aber auch.“
„Ach, dir liegt ja doch nichts dran!“
„Jetzt, wenn du so bist, Tom, da muss ich’s sehen —“ und sie legte ihre kleine Hand auf die seine, worauf sich ein kleiner Kampf entspann. Tom schien im Ernst widerstreben zu wollen, zog aber seine Hand allmählich doch so weit zurück, dass die Worte sichtbar wurden: „Ich liebe dich!“
„O, du Abscheulicher!“ Und sie gab ihm einen tüchtigen Klapps auf die Hand, wurde rot und schien nicht ungehalten.
Im selben Moment fühlte der Junge einen schicksalsschweren Griff an seinem Ohr, dazu einen unwiderstehlich nach oben ziehenden Drang, und ehe er wusste wie, befand er sich an seinem eigenen Platz, unter dem Feuer gewaltiger Lachsalven der ganzen Schule. Unerbittlich wie das Schicksal, starrte der Lehrer noch während einiger schrecklicher Momente auf ihn nieder, begab sich aber dann schliesslich feierlich zurück nach seinem Thron, ohne ein Wort zu sagen. Und obgleich Toms Ohr brannte, triumphierte sein Herz.
Als der Sturm in der Schule sich wieder gelegt hatte, machte Tom den ersten Versuch, zu lernen, aber der Sturm in seinem Innern war zu gewaltig. Jetzt sollte er lesen, die Reihe war an ihm, er brachte aber vor Stammeln und Stottern keinen Satz zusammen; dann kam die Geographiestunde. Bei Tom wurden Seen zu Bergen, Berge zu Flüssen und Flüsse zu Inseln, bis das Chaos wieder über die Welt hereingebrochen zu sein schien. Beim Diktatschreiben, in dem er sonst einer der besten war, stolperte er über die kinderleichtesten Wörter, hatte in einem Diktat von zehn Zeilen fünfzig Fehler und musste die bleierne Verdienstmedaille, die er bis dahin für diese seine erste und einzige Kunst mit so viel Stolz getragen, ohne alle Gnade einer würdigeren Brust überliefern.