Читать книгу Tom Sawyers Abenteuer und Streiche - Mark Twain, ReadOn Classics, Charles Dudley Warner - Страница 8
Viertes Kapitel
ОглавлениеDie Sonne ging auf über der sonntäglich ruhigen Welt und strahlte nieder auf das friedliche Städtchen, wie ein Segen von oben. Als das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familienandacht. Sie begann mit einem Gebete, das sich ganz und gar aus festen Schichten biblischer Kraftstellen auferbaute, die nur durch einen dünnen, spärlichen Mörtel eigener Gedanken zusammen gehalten wurden. Auf den Zinnen dieses stolzen Baues angelangt, krönte sie das Ganze mit einem dräuenden Kapitel des Mosaischen Gesetzes, als stünde sie auf dem Berge Sinai selber.
Danach gürtete Tom seine Lenden sozusagen und ging ans Werk, sich die Bibelsprüche ,einzupauken’, Sid, der Musterknabe, hatte seine Lektion schon vor mehreren Tagen gelernt. Tom warf sich mit ganzer Energie auf die Erlernung von fünf Versen und wählte diese aus der Bergpredigt, da er keine kürzeren finden konnte.
Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er denn auch glücklich einen schwachen, allgemeinen Begriff von seiner Lektion, aber nichts weiter, denn seine Gedanken reisten dabei mit Blitzesschnelle durch die ganze weite, unbegrenzte Welt, die im engen Hirne schlummert, und seine Finger waren rastlos tätig in allerhand angenehmen, ablenkenden Zerstreuungen. Endlich erbarmte sich Bäschen Mary seiner und nahm das Buch, um ihn zu überhören, während er sich durch den die Sprüche verhüllenden Nebel mühsam seinen Weg zu bahnen suchte.
„Selig sind die — ä — ä — “
„Da geistig — “
„Richtig — die da geistig ä — ä —“
„ Arm —“
„Arm sind. Selig sind, die da geistig arm sind, denn sie sollen — sollen —“
„Denn ihrer —“
„Ja so! Selig sind, die da geistig arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie — sie —“
„S —“
„Denn sie — ä — “
„S — o —“
„Denn sie s — s —, weiss der Kuckuck, wie das heisst!“
„Sollen!“
„Ach so — sollen! Denn sie sollen — denn sie sollen — ä — ä — sollen Leid tragen. Selig sind, die da sollen — die da sollen — ä — Leid tragen, denn sie sollen — ä — sollen was? Warum hilfst du mir denn nicht, Mary, schäm‘ dich, so schlecht zu sein und am Sonntag noch dazu!“
„O, Tom, armer, dummer, dickköpfiger Kerl, ich will dich ja nicht necken, Gott behüte. Ich mein’s nur gut mit dir. Geh’ und lern’s noch einmal und verlier’ den Mut nicht, du wirft’s schon in den Kopf kriegen und dann, Tom, dann schenk’ ich dir auch was Schönes! Geh’ und sei ein guter Junge!“
„Schon recht. Aber was ist’s, Mary, sag’ mir was es ist.“
„Das brauchst du nicht vorher zu wissen, Tom, du weisst, wenn ich sag’, es ist schön, so ist’s wirklich was Schönes.“
„Ja, das weiss ich. Also vorwärts, gib das Buch wieder her, Mary, wollen’s schon kriegen.“
Und er kriegte’ es wirklich und zwar mit Glanz unter dem Doppeldruck von Neugierde und voraussichtlichem Gewinn.
Mary gab ihm nach bestandener Probe ein funkelnagelneues Taschenmesser, das mindestens 50 Cents wert war unter Brüdern. Eine feine Damaszenerklinge hatte es ja wohl nicht, auch keinen schön verzierten eingelegten Griff von Elfenbein, aber um den Tisch anzuschniten war’s gerade recht, was Tom sofort probierte, und als er sich darauf seelenvergnügt eben an den Schrank machen wollte, wurde er abgerufen, um sich zur Sonntagsschule in den Staat zu werfen.
Mary reichte ihm eine Blechschüssel mit Wasser und ein Stück Seife, womit er sich in den Hof begab. Hier stellte er die Schüssel auf eine Bank, tauchte die Seife ins Wasser, legte solche dann zur Seite, goss das Wasser aus, stülpte die Ärmel auf und tam wieder zur Küche herein, um sich eiligst sein trockenes Gesicht am Handtuch hinter der Türe abzuwischen. Mary aber riss ihm das Tuch weg und sagte:
„Schämst du dich nicht, Tom? Das heiss‘ ich betrügen! Wasser wird dir nichts schaden!“
Tom war ein wenig aus der Fassung gebracht. Die Schüssel wurde wieder gefüllt und diesmal stand er eine kleine Weile davor, um sich Mut zu machen, schöpfte dann tief Atem und begann das grosse Werk der wöchentlichen Reinigung. Wie er nun zum zweitenmal die Küche betrat, sich mit trampfhaft geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen nach dem Tuche hin tastend, bewiesen Seifenschaum und Wasser, die von seinem Antlitz niederströmten, seine Ehrlichkeit glänzend. Als er dann aber hinter dem Tuche hervor tauchte, war die schwere Prozedur noch nicht zur Zufriedenheit ausgefallen. Das reine Gebiet erstreckte sich nur bis zum Rande der Kinnlade, wo es ein Ende hatte, gleich einer Maske. Ausserhalb dieser Linie zeigte sich die ganze Partie um Hals und Ohren in unberührt schwärzlichem Zustand. Nun legte Mary Hand an und als sie fertig war, bot Tom das Bild eines reinlichen, ehrlichen Christenmenschen, ohne Unterschied der Farbe. Sein feuchtes Haar war schön gebürstet und die sonst so widerspenstigen Locken kräuselten sich in ordentlich rührender Ergebung. Diese Locken waren Toms Qual, er hielt sie für weibisch, schämte sich ihrer und tat sein Möglichstes, sie mit Hilfe von Fett und Wasser fest am Kopfe anzukleben. Dass ihm dies nur teilweise und unbefriedigend gelang, erfüllte sein Herz mit Bitternis. Jetzt holte Mary seinen Sonntagsanzug, den er während zweier Jahre nur an diesem geheiligten Tage getragen. Man sprach davon einfach nur als von ,den andern Kleidern’, und daraus lässt sich leicht auf den Umfang von Toms Garderobe schliessen. Als er sich dann hineingestreckt in diese ,anderen Kleider’, legte Mary die letzte verbessernde Hand an, knöpfte die Jacke zu, zog ihm den riesigen, weissen Kragen an, bürstete ihn aus und krönte das Ganze mit einem braunen, gelb gefleckten Strohhut. Tom sah nun ungemein ehrbar und unbehaglich aus und fühlte sich auch nicht minder unbehaglich als er aussah. Für ihn lag ein fast unerträglicher Zwang in ganzen und sauberen Kleidern, ein Zwang, der ihn fortwährend reizte. Er hoffte, Mary würde wenigstens seine Schuhe vergessen, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch; ehe er sich’s versah, standen die Marterwerkzeuge, ordentlich mit Talg eingeschmiert, wie es so Sitte war, lieblich lockend vor ihm. Jetzt verlor er völlig die Geduld und schalt und brummte, er solle immer alles tun, was er absolut nicht möge. Mary aber bat und schmeichelte:
„Bitte, Tom, sei so gut, bitte!“
So fuhr er denn brummend hinein in die schwarzen Plagegeister, blieb aber bei sehr gereizter, übler Laune. Mary war auch bald fertig und die drei Kinder machten sich zusammen auf nach der Sonntagsschule, einem Ort, den Tom ebensosehr hasste, wie ihn Sid und Mary liebten.
Die Sonntagsschule dauerte von neun bis halb elf, danach tam noch der Gottesdienst. Bei diesem blieben immer zwei unsrer kleinen Freunde freiwillig zugegen, der dritte auch, aber ihn lockte etwas anderes als die Predigt. Die Kirche selbst war klein und schmucklos, sie mochte in ihren geraden, hochlebnigen Bänken vielleicht dreihundert Menschen fassen. An der Türe zögerte Tom und liess die andern vorgehen, während er einen sonntäglich herausgeputzten Kameraden anredete:
„Sag’ mal, Bill, hast du ‘nen gelben Zettel?“
„Ja!“
„Was willst du dafür haben?“
„Was gibst du mir?“
„Ein Stück Süssholz und einen Angelhaken.“
„Zeig’ mal her.“
Tom zeigte her, Bill prüfte und fand das Gebotene des Zettels wert, so tauschten sie das Eigentum. Danach handelte Tom noch drei rote und zwei blaue Zettel gegen einige ähnliche kostbare Artikel ein. Zehn, fünfzehn Minuten lang fuhr er in dieser Beschäftigung fort, sagte allen möglichen Jungen Zettel in allen möglichen Farben ab und hatte nach Verlauf dieser Zeit eine recht stattliche Anzahl zusammen, die er schmunzelnd in die Tasche schob. Nun endlich betrat er inmitten eines Schwarms sonntäglich gesäuberter, aber etwas geräuschvoller Jungen und Mädchen die Kirche, setzte sich auf seinen Platz und begann sofort mit dem ersten besten Streit. Der Lehrer, ein ernster, gutmütig aussehender Herr, trat dazwischen, wandte dann aber für einen Moment den Rücken, was Tom sofort dazu benutzte, einem Jungen auf der vorderen Bank in die Haare zu fahren und einen anderen mit einer Nadel in den Arm zu stechen. Der Getroffene fuhr drauf mit einem zornigen ,autsch‘ herum, was ihm, da Tom mit Unschuldsmiene in sein Buch starrte, einen strengen Verweis des Lehrers zuzog. Toms ganze Klasse schien nach seinem Muster zugeschnitten — unruhig, unaufmerksam, voller Tollheiten. Als sie an’s Aufsagen kamen, wusste nicht einer seine Verse vollständig, doch stolperten sie durch mit Hängen und Würgen, so gut es eben ging. Die Belohnung für zwei fehlerlos aufgesagte Verse bestand in einem kleinen, blauen Zettel, auf den ein Bibelvers gedruckt war. Zehn blaue Zettel konnten für einen roten eingetauscht werden, zehn rote wiederum für einen gelben. Für zehn gelbe erhielt man dann vom Herrn Vikar ein kleine, sehr einfach gebundene Bibel, die unter Brüdern vielleicht vierzig Cents wert war. Wer unter meinen Lesern befässe wohl den Fleiss und die Ausdauer, zweitausend Bibelverse auswendig zu lernen und wenn man ihm eine Prachtbibel von Doré böte? Und doch hatte sich Mary zwei solcher Bibeln erobert, es war die geduldige, mühsame Arbeit zweier Jahre. Nur die älteren, vernünftigen und ernsten Schüler brachten es fertig, ihre Zettel zu sammeln und dieses langwierige und langweilige Wert so lange durchzuführen, bis sie eine Bibel erhalten konnten. Eben durch dies mühsame Erringen aber wurde die Auslieferung des hohen Preises jedesmal zu einer feierlichen, denkwürdigen Begebenheit. Der also Gefeierte erschien so gross und erhaben an einem solchen Ehrentage, dass sich beim Anblick seiner Grösse in der Brust jeglichen Zuschauers ein heiliger Eifer und Ehrgeiz entzündete, der oftmals sogar viele Wochen anhielt. Auch Toms glühendster Wunsch war es, einmal auf diese Weise ausgezeichnet zu werden; nicht der Bibel halber, bewahre, ihm ging’s um die Ehre und den Ruhm, den Glanz, der die ganze Zeremonie umstrahlte.
Nun trat der Herr Vikar, der die Sonntagsschule leitete, vor, ein kleines Testament zugeklappt in der Hand haltend, zwischen dessen Blättern sich der eine Zeigefinger barg, und bat um Aufmerksamkeit. Wenn ein Sonntagsschul-Vikar seine herkömmliche kleine Ansprache hält, so ist ihm ein Testament in der Hand so notwendig, wie das unvermeidliche Notenblatt dem Sänger, der das Podium betritt, um das Konzertpublikum mit einem Solo zu beglücken, — das Warum bleibt freilich ein Rätsel, denn weder Testament noch Notenblatt wird von dem betreffenden Dulder je eines Blicks gewürdigt werden. Dieser Herr Vikar nun war eine etwas schmächtige, überschlanke Figur von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit sandgelbem Bocksbart und sandgelben Haaren. Seine Miene war ernst und feierlich war auch der Ton seiner Stimme, als er nach dem Muster der gewöhnlichen Sonntagsschulredner begann:
„Jetzt, Kinder, passt auf; setzt euch alle so gerade und ruhig, wie ihr könnt und hört mir einmal ein paar Minuten lang recht aufmerksam zu. So, jetzt ist’s recht! So müssen’s gute, kleine Knaben und Mädchen machen! Da sehe ich noch ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausguckt. Kleine, du denkst wohl, ich sässe dort auf dem Baum und wolle den kleinen Vöglein da draussen etwas von unserm lieben Heiland erzählen, was? (Unterdrücktes Kichern.) Zuerst also möchte ich euch sagen, wie wohl es mir tut, so viele saubre, frohe kleine Gesichter an einem Ort, wie diesem, versammelt zu sehen, an dem sie lernen sollen gut und brav zu sein und das Rechte zu tun.“—
Und so weiter und so fort. Den Rest der Rede zu verzeichnen ist nicht nötig, sie hielt sich ganz an bekannte Muster, die jeder von uns schon tausendfältig gehört hat.
Das letzte Drittel der rednerischen Leistung wurde etwas gestört durch Wiederaufnahme der Püffe und Stösse und anderen Zeitvertreibs unter den schwarzen Schafen der kleinen Gemeinde. Ein Raunen und Flüstern begann, das sich mehr und mehr ausbreitete, ja selbst die Grundfesten solch unerschütterlicher Felsen wie Sid und Mary zu umspülen versuchte. Mit dem schlussandeutenden Sinken des Tons in des Redners Stimme liess auch das Summen nach und der Schluss selbst wurde mit dem Ausbruch allgemeinsten, dankbaren Schweigens begrüsst.
Ein grosser Teil der Unruhe war durch einen ebenso erstaunlichen als seltenen Zwischenfall verursacht worden — es waren Fremde gekommen! Der Bürgermeister erschien, begleitet von zwei Herren, einem alten, schwächlich aussehenden und einem jüngeren, stattlichen mit schon stark ergrauten Haaren. Voran ging eine Dame, offenbar die Frau des letzteren, die ein Mädchen an der Hand führte. Tom war bis dahin rastlos und unruhig gewesen, er hatte Gewissensbisse, und konnte Anny Lorenz nicht ansehen, deren Auge mit liebendem Blick das seine suchte. Als er nun aber die Kleine erscheinen sah, fühlte er sich wie trunken vor Wonne. Im nächsten Augenblick begann er mit Macht , sich zu zeigen’, — puffte seine Nachbarn, riss sie an den Haaren, schnitt Gesichter, kurz bediente sich aller jener Künste, die imstande sind, ein kleines Schulmädchenherz zu bezaubern und ihm Beifall abzugewinnen. Seiner Wonne wurde nur ein Dämpfer aufgesetzt durch den Gedanken an die Demütigung, welche er in jenes Engels Garten hatte erdulden müssen, aber die Erinnerung hieran war doch nur in den Sand verzeichnet, den schon jetzt die hochgehenden Wogen des Glücks, die seine Seele überfluteten, wegzuschwemmen begannen. Den Fremden wurde der beste Ehrenplatz angewiesen, und als des Vikars Rede zu Ende war, stellte sich heraus, wer sie seien. Der stattliche, ergraute Herr in mittleren Jahren, entpuppte sich als eine grosse Persönlichkeit. Er war nichts mehr und nichts weniger, als der oberste Richter des Kreises, das erhabendste Produkt der Schöpfung, das die Kinder je geschaut, und sie sannen drüber nach, aus welchem Stoff der wohl gemacht sein möge; halb sehnten sie sich danach, seine Donnetstimme zu vernehmen, und halb fürchteten sie sich davor. Er war aus Konstantinopel, zwölf Meilen flussabwärts, also ein weitgereister Mann, der die Welt kannte. Was der wohl alles schon gesehen hatte? Am Ende gar Washington und das ,Weisse Haus’, das sich die Kinder wie eine blendende, leuchtende, flimmernde Masse von Eis und Schnee vorstellten, so weiss und so glänzend. Die durch solche Gedanken erweckte ehrfurchtsvolle Scheu prägte sich in dem atemlosen Schweigen, in den grossen, runden, erstaunt drein starrenden Augen aus. Das also war der grosse, gewaltige Kreisrichter Thatcher, der Bruder ihres eignen Bürgermeisters, der Onkel von Willy Thatcher, der da eben vortrat aus ihren Reihen und dem grossen Mann die Hand bot, als sei das nichts. Hätte Willy gewusst, was das Flüstern bedeutete, das sich erhob, es hätte ihm wie Sphärenmusik in den Ohren geklungen!
„Sieh doch, Jim, Tom sieh doch! Er geht ja wahrhaftig hin und gibt ihm die Hand! Und der schüttelt sie. Weiss Gott, ich gäb’ drei Steinkugeln drum, wenn ich der Willy wäre!“
Der Vikar begann sich nun ,zu zeigen’, rannte hierhin, dorthin, erteilte Befehl, Lob, Tadel, wie’s gerade kam und wo er nur irgend was anbringen konnte. Der Bücherausteiler ‚zeigte‘ sich in übermässigem Wichtigtun und Amtseifer, indem er mit den Armen voll Bücher hin und her rannte. Die jungen Damen, welche die verschiedenen Klassen unterrichteten, wollten gleichfalls nicht zurückbleiben, süss lächelnd neigten sie sich über kleine Schülerinnen, die sie kurz zuvor gescholten, hoben lieblich drohend Fingerlein gegen schlimme kleine Jungen und streichelten andre zärtlich und milde. Die jungen Herren, welche als Lehrer wirkten, ,zeigten‘ sich in kleinen, ernsten Strafreden, die sie ihren betreffenden Klassen hielten, und andern ähnlichen Beweisen ihrer Autorität. Dabei hatten fast alle jugendlichen Lehrer beiderlei Geschlechts ganz erstaunlich viel mit Bücherwechseln zu tun in der Nähe der Kanzel, irrten sich erstaunlich oft in dem, was sie holten, mussten wieder und wieder gehen, zwei-, dreimal und schienen sich gewaltig drüber zu ärgern. Auch die kleinen Mädchen ,zeigten sich‘ auf die verschiedenste Weise und die kleinen Jungen ,zeigten sich‘ in ihrer Art, indem sie sich heimlich schubsten und die Luft mit emporgeschleuderten Papierpfropfen erfüllten. Und über dem allen thronte majestätisch der grosse Mann, liess die Sonne seines Lächelns erstrahlen und wärmte sich an seiner eignen Grösse, denn er selbst, — er ,zeigte sich‘ erst recht. Eines nur fehlte, um des Herrn Vikars Glück vollständig zu machen in dieser erhabenen Stunde, und das war die Möglichkeit der Erteilung eines Bibelpreises. Einige Schüler konnten ein paar gelbe Zettel aufweisen, keiner aber hatte die genügende Zahl, wie er sich bei einem Umfragen unter den ersten ,Gestirnen‘ leider überzeugen musste.
Da, im letzten Moment, als er schon jede Hoffnung fahren liess, trat Tom Sawyer vor mit neun gelben, neun roten und zehn blauen Zetteln, — trat vor und verlangte eine Bibel! Das war ein Blitzschlag aus heiterem Himmel! Der Herr Vikar hatte auf ein solches Ansinnen aus dieser Himmelsrichtung jede Hoffnung aufgegeben gehabt, für die nächsten zwanzig Jahre mindestens. Aber die unglaubliche Tatsache liess sich nicht wegleugnen, — hier stand Tom und da waren die Zettel und sie stimmten auf’s Haar. Tom wurde also nach dem Ehrenplatze geleitet zu dem Kreisrichter und den andern Auserlesenen und die erstaunliche Tatsache allen kund und zu wissen getan. Das wirkte nun förmlich versteinernd, war die ausserordentlichste Begebenheit des Jahrzehnts, und so nachhaltig und tief war der erzielte Eindruck, dass er den neuen Helden noch beinahe über den alten erhob und die Schule nun zwei Wunder statt des einen zu bestaunen hatte. Die Jungen verzehrten sich in Neid, zumeist aber diejenigen, die sich nun zu spät klar machten, dass sie selbst zu diesem verhassten Ruhme beigetragen, indem sie ihre Zettel an Tom verhandelten für die Reichtümer, die er durch zeitweilige Ablassung seiner Tünchungsprivilegien aufgerafft. Sie verachteten und verdammten sich selbst als überlistete Opfer eines schwarzen Betrügers, einer kriechenden, verräterischen Schlange.
Inzwischen wurde der Preis an Tom ausgeliefert mit so viel Pomp, als der Vikar nur irgend bei der Gelegenheit anbringen konnte. Der volle richtige Schwung aber schien doch dabei zu fehlen; ihm sagte der Instinkt, dass hier ein Geheimnis verborgen liege, welches das Licht nicht vertrage, ja es scheuen müsse. Es war einfach ein Ding der Unmöglichkeit, dass dieser Junge zweitausend Körner der Schriftweisheit in die Scheunen seines Geistes eingeheimst haben sollte, dieser Junge, dessen Fähigkeiten nicht hinreichend schienen, sich auch nur ein Dutzend solch köstlicher Früchte zu eigen zu machen. Anny Lorenz war stolz und glücklich und bemühte sich, es Tom in ihren Augen lesen zu lassen, der aber wollte nicht hersehen. Sie verwunderte und grämte sich darüber; dann fasste sie Verdacht und passte auf; ein verstohlener Blick, den sie auffing, sagte ihr Welten und brach ihr armes Herz. Sie war eifersüchtig, zornig, Tränen kamen, sie hasste alle Welt, Tom aber zu allermeist, in ihrem Herzen.
Tom wurde dem Kreisrichter vorgestellt, aber die Zunge schien ihm wie gelähmt, sein Atem stockte, sein Herz klopfte zum Zerspringen, teils wegen der furchterregenden Grösse des gewaltigen Mannes, hauptsächlich aber, weil er ihr Vater war. Er wäre gerne vor ihm niedergesunken, wenn’s nur dunkel gewesen wäre. Der grosse Mann legte die Hand auf Toms Haupt, nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Burschen und fragte ihn wie er heisse. Der Junge stammelte, stotterte und stiess endlich hervor:
„Tom.“
„Nun, doch nicht nur Tom, sondern —“
„Thomas.“
„So ist’s recht, ich dachte mir wohl, es gehöre noch etwas dazu. Da hast aber doch wohl noch einen andern Namen, denke ich, und den wirst du mir doch auch sagen, nicht?“
„Nenne dem Herrn deinen vollen Namen, Thomas,“ mahnte der Vikar, „und sage auch ,mein Herr’, oder ,Herr Kreisrichter‘, du musst doch wissen was sich schickt!“
„Thomas Sawyer, — Herr Kreisrichter!“
„So, so ist’s recht, das nenn’ ich einen guten Jungen. Prächtiger Bursche! Wirklich prächtiger Kerl! Zweitausend Verse ist viel, — sehr viel! Aber, mein Kleiner, du wirst es gewiss nie bereuen, dass du dir so viel Mühe drum gegeben. Wissen ist mehr wert, als alles in der Welt, lernen und etwas wissen macht die grossen und die guten Männer im Leben. Auch du wirst wohl einmal ein guter, vielleicht ein grosser Mann, Thomas, und dann wirst du auf die Tage deiner Kindheit zurück sehen und sagen: das alles verdanke ich den unbezahlbaren Wohltaten, die ich durch die Sonntagsschule genossen, verdanke es meinen guten Lehrern, die mich zum Lernen anhielten, dem Herrn Vikar, der mich anfeuerte, mich leitete, mir die schöne Bibel schenkte, eine wundervolle, fein gebundene Bibel, die ich behalten durfte und ganz für mich allein besitzen, — alles, alles verdanke ich meiner guten, ausgezeichneten Erziehung. So wirst du sprechen, Thomas, und du liessest dir dann für kein Geld der Welt diese zweitausend Verse abkaufen, — für kein Geld der Welt, niemals! Und jetzt wirst du gewiss dieser Dame und mir etwas mitteilen, was du weisst, was du gelernt hast, nicht wahr? Denn sieh, wir sind stolz auf kleine Jungen, die etwas wissen. Ohne Zweifel kannst du uns doch die Namen der Jünger des Herrn sagen? Du kennst sie gewiss alle zwölf. Sag’ uns einmal, wer waren die zwei ersten, die ihm nachfolgten?“
Tom hatte während dessen immerzu an einem Knopf seiner Jacke herum gedreht und möglichst dumm und einfältig dazu ausgesehen. Jetzt wurde er glühend rot und bohrte die Augen beinahe in den Boden. Dem Vikar sank das Herz in die Stiefel. Er wusste, dass der Junge unmöglich die allereinfachste Frage beantworten konnte, warum auch musste der Herr Kreisrichter ihn fragen! Trotzdem fühlte er sich gedrungen, gleichsam ermunternd zu sagen:
„Antworte dem Herrn, Thomas, — fürchte dich doch nicht!“
Tom tat nichts als rot und röter werden.
„Mir wirst du’s doch sagen“, begann nun auch die Dame, „also die Namen der beiden ersten Jünger waren —“
„David und Goliath!“
Lasst uns den Schleier christlicher Barmherzigkeit über den Rest der Szene breiten. Auch was Tante Polly später zu der Bibel sagte und wie sie sich drüber freute, erwähnen wir besser nicht.