Читать книгу Tom Sawyers Abenteuer und Streiche - Mark Twain, ReadOn Classics, Charles Dudley Warner - Страница 6
Zweites Kapitel
ОглавлениеDer Sonnabend-Morgen tagte, die ganze sommerliche Welt draussen war sonnig und klar, sprudelnd von Leben und Bewegung. In jedem Herzen schien’s zu tlingen und zu singen und wenn das Herz jung war, trat der Klang unversehens auf die Lippen. Freude und Lust malte sich in jedem Antlitz, jeder Schritt war beflügelt. Die Akazien blühten und erfüllten mit ihrem köstlichen Duft rings alle Lüfte.
Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Tünche und einem langstieligen Pinsel. Er stand vor dem Zaun, besah sich das zukünftige Feld seiner Tätigkeit und es war ihm, als schwände mit einem Schlage alle Freude aus der Natur. Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seines ahnungsvollen Geistes. Dreissig Meter lang und neun Fuss hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die oberste Planke, wiederholte das Manöver einmal und noch einmal. Dann verglich er die unbedeutende übertünchte Strecke mit der Riesenausdehnung des noch ungetünchten Zaunes und liess sich entmutigt auf ein paar knorrigen Baumwurzeln nieder. Jim, der kleine Nigger, trat singend und springend aus dem Hoftor mit einem Holzeimer in der Hand. Wasser an der Dorfpumpe holen zu müssen, war Tom bis jetzt immer gründlich verhasst gewesen, in diesem Augenblick dünkte es ihm die höchste Wonne. Er erinnerte sich, dass man dort immer Gesellschaft traf; Weisse, Mulatten und Nigger-Jungen und Mädchen waren da stets zu finden, die warteten, bis die Reihe an sie kam und sich inzwischen ausruhten, mit allerlei handelten oder tauschten, sich zankten, rauften, prügelten und dergleichen Kurzweil trieben. Auch durfte man Jim mit seinem Eimer Wasser nie vor Ablauf einer Stunde zurück erwarten, obgleich die Pumpe kaum einige hundert Schritte vom Haus entfernt war und selbst dann musste gewöhnlich noch nach ihm geschickt werden. Ruft also Tom:
„Hör’, Jim, ich wilt das Wasser holen, streich‘ du hier ein bisschen an.“
Jim schüttelte den Dickkopf und sagte:
„Nir das können, junge Herr Tom. Alte Tante sagen, Jim sollen nix tun andres als Wasser holen, sollen ja nix anstreichen. Sie sagen, junge Herr Tom wohl werden fragen Jim, ob er wollen anstreichen, aber er nix sollen es tun — ja nix sollen es tun.“
„Ach was, Jim, lass dir nichts weiss machen, so redet sie immer. Her mit dem Eimer, ich bin gleich wieder da. Sie merkt’s noch gar nicht.“
„Jim sein so bange, er’s nix wollen tun. Alte Tante sagen, sie ihm reissen Kopf ab, wenn er’s tun.“
„Sie! O Herr Jemine, die kann ja gar niemand ordentlich durchhauen, — die fährt einem ja nur mit der Hand über den Kopf, als ob sie streicheln wollte, und ich möchte‘ wissen, wer sich daraus was macht. Ja, schwatzen tut sie von durchhauen und allem, aber schwatzen tut nicht weh, — das heisst, so lang sie nicht weint dazu. Jim, da, ich schenk dir auch ‘ne grosse Murmel, — da und noch ‘nen Gummi dazu!“
Jim schwankte.
„‘nen Gummi, Jim, und was für ein Stück, sieh mal her!“
„O, du meine alles! Sein das prachtvoll Stück Gummi. Aber, junge Herr Tom, Jim sein so ganz furchtbar bange vor alte Tante!“
Jim aber war auch nur ein schwacher Mensch, — diese Versuchung erwies sich als zu stark für ihn. Er stellte seinen Eimer hin und streckte die Hand nach dem verlockenden Gummi aus. Im nächsten Moment flog er jedoch, laut aufheulend, samt seinem Eimer die Strasse hinunter, Tom tünchte mit Todesverachtung drauf los und Tante Polly zog sich stolz vom Schlachtfeld zurück, Pantoffel in der Hand, Triumph im Auge.
Toms Eifer hielt nicht lange an. Ihm fiel all das Schöne ein, das er für diesen Tag geplant und sein Kummer wuchs immer mehr. Bald würden sie vorüber schwärmen, die glücklichen Jungen, die heute frei waren, auf die Berge, in den Wald, zum Fluss, überall hin, wo’s schön und herrlich war. Und wie würden sie ihn höhnen und auslachen und verspotten, dass er dableiben und arbeiten musste, — schon der Gedanke allein brannte ihn wie Feuer. Er leerte seine Taschen und musterte seine weltlichen Güter, — alte Federn, Glas- und Steinkugeln, Marken und sonst allerlei Kram. Da war wohl genug, um sich dafür einen Arbeitstausch zu verschaffen, aber keineswegs genug, um sich auch nur eine knappe halbe Stunde voller Freiheit zu erkaufen. Seufzend wanderten die beschränkten Mittel wieder in die Tasche zurück und Tom musste wohl oder übel die Idee fahren lassen, einen oder den anderen der Jungen zur Beihilfe zu bestechen. In diesem dunklen hoffnungslosen Moment kam ihm eine Eingebung! Eine grosse, eine herrliche Eingebung! Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich still und emsig an die Arbeit. Da tauchte Ben Rogers in der Entfernung auf, Ben Rogers, dessen Spott er von allen gerade am meisten gefürchtet hatte. Ben’s Gang, als er so daher kam, war ein springender, hüpfender kurzer Trab, Beweis genug, dass sein Herz leicht und seine Erwartungen hoch gespannt waren. Er biss lustig in einen Apfel und liess dazu in kurzen Zwischenpausen ein langes, melodisches Geheul ertönen, dem allemal ein tiefes gezogenes ding—dong—dang, ding—dong—dang folgte. Er stellte nämlich einen Dampfer vor. Als er sich Tom näherte, gab er Halb-Dampf, hielt sich in der Mitte der Strasse, wandte sich stark nach Steuerbord und glitt drauf in stolzem Bogen dem Ufer zu, mit allem Aufwand von Pomp und Umständlichkeit, denn er stellte nichts Geringeres vor als den ,Grossen Missouri‘ mit neun Fuss Tiefgang. Er war Schiff, Kapitän, Mannschaft, Dampfmaschine, Glocke, alles in allem, stand also auf seiner eigenen Schiffsbrücke, erteilte Befehle und führte sie aus.
„Halt, stoppen! Klinge—linge—ling.“ Der Hauptweg war zu Ende und der Dampfer wandte sich langsam dem Seitenweg zu. „Wenden! Klingelingeling!“ Steif liess er die Arme an den Seiten niederfallen. „Wenden Steuerbord! Klingelingeling! Tschu! tsch—tch—u—tschu!“
Nun beschrieb der rechte Arm grosse Kreise, denn er stellte ein vierzig Fuss grosses Rad vor. „Zurück, Badbord! Klingelingeling! Tschu—tsch—tschu—u—sch!“ Der linke Arm begann nun Kreise zu beschreiben.
„Steuerbord stoppen! Lustig, Jungens! Anker auf — nieder! Klingeling! Tsch—tschuu—tschtu! Los! Maschine stoppen! He, Sie da! Scht—sch—tscht!“ (Ausströmen des Dampfes.)
Tom tűnchte währenddessen und liess den Dampfer, Dampfer sein. Ben starrte ihn einen Augenblick an und grinste dann:
„Hi—hi! Festgenagelt — äh?“
Keine Antwort. Tom schien seinen letzten Strich mit dem Auge eines Künstlers zu prüfen, dann fuhr er zart mit dem Pinsel noch einmal drüber und übersah das Resultat in derselben kritischen Weise wie zuvor. Ben marschierte nun neben ihm auf. Toms Mund wässerte nach dem Apfel, er hielt sich aber tapfer an die Arbeit. Sagt Ben:
„Hallo, alter Junge, Strafarbeit, ja?“
„Ach, du bist’s, Ben, ich hab’ gar nicht aufgepasst!“
„Hör du, ich geh schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du arbeitst lieber, natürlich, du bleibst viel lieber dagelt?“
Tom mass ihn erstaunt von oben bis unten.
„Was nennst du eigentlich arbeiten?“
„W—was? Ist das keine Arbeit?“
Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:
„Vielleicht — vielleicht auch nicht! Ich weiss nur soviel, dass das dem Tom Sawyer passt.“
„Na, du willst mir doch nicht weiss machen, dass du’s zum Vergnügen tust?“
Der Pinsel ftrich und strich.
„Zum Vergnügen? Na, seh’ nicht ein, warum nicht. Kann unser einer denn alle Tag ‘nen Zaun anstreichen?“
Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hie und da noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit steigendem Interesse. Sagt er plötzlich:
„Du, Tom, lass mich ein bisschen streichen!“
Tom überlegte, schien nachgeben zu wollen, gab aber diese Absicht wieder auf: „Nein, nein, das würde nicht gehen, Ben, wahrhaftig nicht. Weisst du, Tante Polly nimmt’s besonders genau mit diesem Zaun, so dicht bei der Strasse, siehst du. Ja, wenns irgendwo dahinten wär’, da läg nichts dran, — mir nicht und ihr nicht — so aber! Ja, sie nimmt’s ganz ungeheuer genau mit diesem Zaun, der muss ganz besonders vorsichtig gestrichen werden, — einer von hundert Jungen vielleicht, oder noch weniger, kann’s so machen, wie’s gemacht werden muss.“
„Nein, wirklich? Na, komm, Tom, lass mich’s probieren, nur ein ganz klein bisschen. Ich liess dich auch dran, Tom, wenn ich’s zu tun hätte!“
„Ben, wahrhaftig, ich tät’s ja gern, aber Tante Polly — Jim hat’s tun wollen und Sid, aber die haben’s beide nicht gedurft. Siehst du nicht, wie ich in der Klemme stecke? Wenn du nun anstreichst und ‘s passiert was und der Zaun ist verdorben, dann —“
„Ach, Unsinn, ich will’s schon recht machen. Na, gib her, — wart‘, du kriegst auch den Rest von meinem Apfel; ‘s ist freilich nur noch der Butzen, aber etwas Fleisch sitzt doch noch drum.“
„Na, denn los! Nein, Ben, doch nicht, ich hab’ Angst, du —“
„Da hast du noch ‘nen ganzen Apfel dazu!“
Tom gab nun den Pinsel ab, Widerstreben im Antlitz, Freude im Herzen. Und während der frühere Dampfer Grosser Missouri‘ im Schweisse seines Angesichts drauf los strich, sass der zurückgetretene Künstler auf einem Fässchen im Schatten dicht dabei, baumelte mit den Beinen, verschlang seinen Apfel und brütete über dem Gedanken, wie er noch mehr Opfer in sein Netz zöge. An Material dazu war kein Mangel. Jungen kamen in Menge vorüber. Sie kamen um zu spotten und blieben um zu tünchen! Als Ben müde war, hatte Tom schon Kontrakt gemacht mit Billy Fischer, der ihm einen fast neuen, nur wenig geflickten Drachen bot. Dann trat Johnny Miller gegen eine tote Ratte ein, die an einer Schnur zum Hin- und Herschwingen befestigt war und so weiter und so weiter, Stunde um Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen, war aus Tom, dem mit Armut geschlagenen Jungen mit leeren Taschen und leeren Händen, ein im Reichtum förmlich schwelgender Glücklicher geworden. Er besass ausser den Dingen, die ich oben angeführt, noch zwölf Steinkugeln, eine freilich schon etwas stark beschädigte Mundharmonika, ein Stück blaues Glas, um die Welt dadurch zu betrachten, ein halbes Blasrohr, einen alten Schlüssel und nichts damit aufzuschliessen, ein Stück Kreide, einen halb zerbrochenen Glasstöpsel von einer Wasserflasche, einen Bleisoldaten, ein Stück Seil, sechs Zündhütchen, ein junges Kätzchen mit nur einem Auge, einen alten messingnen Türgriff, ein Hundehalsband ohne Hund, eine Messerklinge, vier Orangenschalen und ein altes, wackeliges Stück Fensterrahmen. Dazu war er lustig und guter Dinge, brauchte sich gar nicht weiter anzustrengen die ganze Zeit über und hatte mehr Gesellschaft beinahe, als ihm lieb war. Der Zaun wurde nicht weniger als dreimal vollständig überpinselt und wenn die Tünche im Eimer nicht ausgegangen wäre, hätte er zum Schluss noch jeden einzelnen Jungen des Städtchens bankerott gemacht.
Unserm Tom kam die Welt gar nicht mehr so traurig und öde vor. Ohne es zu wissen hatte er ein tief in der menschlichen Natur wurzelndes Gesetz entdeckt, die Triebfeder zu vielen, vielen Handlungen. Um das Begehren eines Menschen, sei er nun erwachsen oder nicht, — das Alter macht in dem Fall keinen Unterschied — also, um eines Menschen Begehren nach irgend etwas zu erwecken, braucht man ihm nur das Erlangen dieses ,etwas‘ schwierig erscheinen zu lassen. Wäre Tom ein gewiegter, ein grosser Philosoph gewesen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses Buches, er hätte daraus gelernt, wie der Begriff von Arbeit einfach darin besteht, dass man etwas tun muss, dass dagegen Vergnügen das ist, was man freiwillig tut. Er würde verstanden haben, warum künstliche Blumen machen oder in einer Tretmühle gehen ,Arbeit‘ heisst, während Kegel schieben im Schweisse des Angesichts oder den Mont-Blanc erklettern lediglich als Vergnügen gilt. Ja, ja, wer erklärt diese Widersprüche in der menschlichen Natur! —