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Drei

Mit dem Sommer hatte Thorne Unrecht gehabt. Nach zwei Wochen Urlaub war er mit einer stickigen Rache zurückgekehrt, und die Sirenenrufe des Waschsalons konnten nicht länger überhört werden. Thorne war sich des Geruchs, der von ihm ausströmte, sehr wohl bewusst, als er in Schweiß gebadet in Frank Keables Büro saß.

»Wir konzentrieren uns auf Ärzte, die gegenwärtig im Zentrum von London im Einsatz sind, Sir.«

Frank Keable war nur ein oder zwei Jahre älter als Thorne, sah aber aus wie fünfzig. Das war eher auf eine genetische Panne zurückzuführen als auf Stress. Die Jungs vermuteten, dass er bereits seit der Pubertät körperlich abbaute, wenn man sich seinen Haaransatz betrachtete, der schon weit in Richtung Genick gerutscht war. Welche Hormone ihm auch immer geblieben waren, die, die seinen Haarwuchs hätten fördern können, hatten sich fälschlicherweise auf seine Augenbrauen konzentriert, die ausdrucksstark wie zwei große Raupen über seinen leuchtend blauen Augen saßen und ihm tatsächlich den Anschein von Weisheit verliehen. Niemand missgönnte ihm dieses Glück — es war die letzte Hoffnung eines Menschen, der aussah wie eine voll gefressene Eule mit Haarausfall.

Keable hob fragend eine Augenbraue. »Es könnte von Vorteil sein, wenn wir unseren Radius erweitern, Tom. An Arbeitskräften mangelt es uns nicht.«

Thorne blickte skeptisch drein, doch Keable klang zuversichtlich.

»Es ist ein großer Fall, Tom, das wissen Sie. Wenn Sie Leute brauchen, um die Sache ein bisschen auszuweiten, kriege ich das schon hin.«

»Schaden kann es nicht, Sir, schließlich ist die Liste der Verdächtigen endlos. Aber ich bin mir sicher, er kommt von hier.«

»Der Brief?«

Thorne spürte erneut die schweren Regentropfen in seinem Hemdkragen, die zwischen seine Schulterblätter gelaufen waren. Und noch immer fühlte er das Plastik zwischen seinen Fingern, während er die Worte des Mörders gelesen hatte und ihm das Wasser in die Augen gelaufen war wie Tränen, die nach Hause kommen.

Der Mörder hatte gewusst, wo Alison behandelt wurde. Offenbar verfolgte er den Fall aus nächster Nähe — sowohl die Seite der Polizei als auch die von Alison.

»Ja, der Brief. Und der Ort. Ich glaube, er möchte in der Nähe sein, um ein Auge auf die Dinge zu haben.«

Um seine Arbeit zu überwachen.

»Lohnt es sich, das Krankenhaus zu beobachten?«

»Mit Verlaub, Sir, dort wimmelt es nur so von Ärzten ... im Moment sehe ich keinen Sinn darin.« Sein Blick wanderte zu dem Kalender an der schmutzig gelben Wand — ein Bild des West Country. Keable stammte ursprünglich aus Bristol ... Bei der Hitze konnte man sich nicht konzentrieren. Thorne öffnete einen weiteren Knopf seines Hemdes. Polyester. Ganz schön dumm. »Ist es möglich, den Ventilator einzuschalten?«

»Oh, Entschuldigung, Tom.«

Keable drückte einen Schalter am Ventilator, der vor- und zurückschwenkte und Thorne etwa alle dreißig Sekunden einen angenehmen Schwall kühler Luft zuwehte. Keable lehnte sich zurück und seufzte. »Sie glauben nicht, dass wir den Fall knacken können, Tom?«

Thorne schloss die Augen, als der Ventilator in seine Richtung schwenkte.

»Tom, hat das etwas mit dem Calvert-Fall zu tun?«

Thorne blickte erneut zum Kalender. Zwei Wochen waren vergangen, seit sie Alison gefunden hatten, und bis jetzt hatten sie nichts in der Hand. Zwei Wochen hatten sie ihre Köpfe gegen die Wand geknallt und nichts als Kopfschmerzen bekommen.

Besorgnis, oder wie immer man es auch nennen wollte, war aus Keables Stimme herauszuhören. »Fälle wie dieser, das ist doch völlig verständlich ... «

»Seien Sie nicht albern, Frank ... «

Keable lehnte sich rasch nach vorn. »Ich bin nicht unempfänglich für ... Stimmungen, Tom. Dieser Fall riecht danach. Es ist kein ... üblicher Fall. Sogar ich spüre das.«

Thorne lachte. Sie waren alte Kollegen. »Sogar Sie, Frank?«

»Genau, Tom.«

»Calvert ist Geschichte.«

»Das hoffe ich. Ich möchte, dass Sie das im Auge behalten.« Keable sah, dass Thorne unmerklich nickte. »Ich denke, wir werden in die Polizeigeschichte eingehen, wenn wir ihn schnappen. Zunächst sollten wir die Schreibmaschine finden, auf der der Brief geschrieben wurde.«

Keable seufzte erneut und nickte. Die altmodische Schreibmaschine war ein Glücksfall und würde einfacher zu identifizieren sein als ein Laserdrucker, doch zuerst brauchten sie einen Verdächtigen. Er war schon oft in einer ähnlichen Situation gewesen. Es war nicht einfach, Begeisterung über Beweismaterial zu zeigen, das nur von Nutzen war, wenn sich jemand bereits in Polizeigewahrsam befand. Keable, der sich stets an die Vorschriften hielt, wusste, wo seine Stärken lagen. Er war ein guter Koordinator. Sein Bewusstsein für diese Eigenschaft hatte es ihm ermöglicht, während seiner Karriere andere Kollegen zu überspringen, Thorne inbegriffen. Deswegen nahmen ihm seine Kollegen seinen Erfolg auch nicht übel. Er erkannte die Talente der anderen und hielt die Fahne des Teamgeistes hoch. Er war beliebt. Er half, wo er konnte, und ließ die Arbeit am Ende des Tages im Büro. Er schlief gut und führte eine glückliche Ehe — anders als mancher Kollege. Thorne inbegriffen. »Er wird einen Fehler machen, Tom. Wenn wir etwas über einen Medikamentendiebstahl herausfinden, können wir die Sache eingrenzen.«

Thorne beugte sich zum Ventilator vor. »Ich würde gern zum Queen Square gehen, wenn das in Ordnung ist. Es ist schon eine Weile her, dass ich dort war, und ich würde gerne sehen, wie es Alison geht.«

Keable nickte nur. Sein Versuch, Tom Thorne moralisch zu unterstützen, war gescheitert, aber er hatte nichts anderes erwartet. Er räusperte sich, als Thorne sich erhob und zur Tür ging, sich dann aber noch einmal umdrehte.

»Dieser Brief war makellos, Frank. Der Bericht darüber war der kürzeste, den ich je gelesen habe. Und der Kerl wäscht die Leichen nicht auf Grund eines Rituals. Er ist nur sehr, sehr vorsichtig.«

Keable richtete den Ventilator wieder in seine Richtung. Er war sich unsicher, welche Antwort Thorne von ihm erwartete. »Ich habe mich gefragt, ob die Jungs nicht ein paar Blumen oder so was vorbeibringen sollten. Ich meine, ich habe darüber nachgedacht, aber ... «

Thorne nickte.

»Ja, Sir, ich weiß. Es scheint kaum der Mühe wert zu sein.«

»Sie sind wirklich schön. Es war nett, dass Sie daran gedacht haben.« Anne Coburn stellte die Blumen in eine Vase und schloss die Vorhänge in Alisons Zimmer.

»Ich wollte schon früher kommen, aber ... «

Sie nickte verständnisvoll. »Sie hätten kurz schriftlich gratulieren können, allerdings ... «

Thorne blickte auf Alison hinunter. Im gleichen Augenblick hatte er verstanden. Es war nicht leicht zu erkennen, dass ein Gerät inmitten des Wirrwarrs von lebenserhaltenden Maschinen fehlte. Sie atmete. Der Atem war flach, aber es war ihr eigener. Ein Schlauch führte durch ein Loch in ihre Luftröhre, die mit einer Sauerstoffmaske abgedeckt war.

»Gestern Abend wurde sie von der Beatmungsmaschine genommen, und wir haben einen Luftröhrenschnitt gemacht.«

Thorne war beeindruckt. »Aufregender Abend.«

»Oh, hier herrscht ununterbrochen Aufregung. Vor einer Weile gab es eine kleine Überschwemmung. Haben Sie jemals Krankenschwestern in Gummistiefeln gesehen?«

Er grinste. »Ich habe mal einen komischen Pornofilm gesehen ... «

Er hörte sie zum ersten Mal lachen. Es klang dreckig.

Thorne nickte in Richtung der Blumen, die er unterwegs an einer Tankstelle gekauft hatte. Sie waren nicht so schön, wie Anne Coburn gesagt hatte. »Ich kam mir letztes Mal wie ein Idiot vor, wissen Sie. Als ich geflüstert habe. Wenn sie hören kann, habe ich mir gedacht, muss sie auch riechen können ... «

»Diese hier wird sie auf jeden Fall riechen.«

Plötzlich bemerkte Thorne wieder, wie er unter den Armen schwitzte. Er drehte sich zu Alison um. »Wenn wir schon beim Thema sind ... es tut mir Leid, Alison. Ich muss echt müffeln.« Er war verlegen angesichts der Stille, wo er normalerweise eine Antwort erwartet hätte. Er hoffte, er würde sich daran gewöhnen, mit dieser Frau zu reden, in deren Hals und Nase jeweils ein Schlauch steckte. Sie war unfähig, sich zu räuspern. Sie war unfähig, ihre Hand zu heben, die blass und schwer auf der rosa geblümten Steppdecke lag. Sie war ... unfähig. Und trotzdem hoffte Thorne selbstsüchtig, dass sie gut über ihn dachte, dass sie ihn mochte. Er wollte mit ihr reden. Er würde mit ihr reden müssen.

»Sie müssen die Lücken selbst füllen«, sagte Coburn. »Das tue ich auch immer. Wir führen wirklich tolle Gespräche.«

Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann mittleren Alters in einem tadellosen Anzug trat ein. Auf den ersten Blick schien er Zuckerwatte auf dem Kopf zu tragen.

»Oh ... « Coburns Gesicht verhärtete sich. »David, entschuldige, aber ich bin beschäftigt.«

Sie blickten einander an, bis sie die bedrückende, feindliche Stille schließlich durchbrach. »Das hier ist Detective Inspector Thorne. David Higgins.«

Der zukünftige Exmann. Der hilfreiche Pathologe.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Thorne streckte die Hand aus, die der makellose Anzug schüttelte, ohne ihn — oder Alison — anzuschauen.

»Du hast gesagt, die Zeit sei günstig«, sagte der Anzug mit einem angestrengten Lächeln.

Er versuchte offenbar, Thorne gegenüber freundlich zu sein, wirkte dabei aber völlig unnatürlich. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass die Zuckerwatte in Wirklichkeit eine aufgemotzte und mit Haarspray in Form gehaltene blonde Tolle war — eine lächerliche Affektiertheit bei einem Mann, der mindestens fünfundfünfzig war und damit aussah, als würde er gerade von den Dreharbeiten zu Denver-Clan kommen.

»Nun, jetzt nicht mehr«, erwiderte Coburn kalt.

»Mein Fehler, Mr. Higgins«, sagte Thorne. »Ich hatte keinen Termin.«

Higgins ging zur Tür, während er seine Krawatte zurechtrückte. »Gut, dann würde ich an Ihrer Stelle in Zukunft lieber einen Termin vereinbaren. Genau aus diesem Grund rufe ich dich später an, Anne.« Geräuschlos schloss er die Tür hinter sich. Auf dem Flur wurde leise geredet und die Tür von einer Krankenschwester erneut geöffnet. Es war Zeit, Alison zu waschen.

Anne Coburn wandte sich Thorne zu. »Gehen Sie mittags essen?«

Sie saßen im hinteren Teil einer kleinen Sandwich-Bar auf der Southampton Row. Baguette mit Schinken und Brie, dazu Mineralwasser. Ein Sandwich mit Tomaten und Käse, dazu ein Kaffee. Wie zwei wichtige Geschäftsleute.

»Wie stehen Alisons Chancen auf bedeutsame ... «

»Leider gleich null. Ich nehme an, es hängt ein bisschen von Ihrer Definition von ›bedeutsam‹ ab, aber wir müssen realistisch sein. Es gibt dokumentierte Fälle von Patienten, die wieder in der Lage sind, sich so zu bewegen, dass sie mit einem automatischen Rollstuhl fahren können. In Amerika wird viel mit Computern gearbeitet, die über einen Stab am Kopf bedient werden, aber realistisch betrachtet sind die Aussichten düster.«

»Gab es nicht jemanden in Frankreich, der ein ganzes Buch mit den Augenlidern diktiert hat?«

»Der mit dem Auge spricht — Sie sollten es lesen. Alisons Augen reagieren auf Stimmen, und sie scheint die Fähigkeit zu blinzeln zurückerlangt zu haben, aber ob sie die volle Kontrolle darüber hat, lässt sich im Moment schwer sagen. Ich sehe noch nicht, dass sie Ihnen irgendwelche Angaben machen kann.«

»Das war nicht der Grund, warum ich gefragt habe ... jedenfalls nicht der einzige.« Thorne nahm einen Bissen von seinem Sandwich.

Anne hatte zwar den größten Teil des Gesprächs bestritten, ihr Baguette aber bereits aufgegessen. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. »Also, Sie haben einen Einblick in mein verheerendes Privatleben bekommen«, sagte sie mit verschwörerischer Stimme. »Wie sieht es mit Ihrem aus?« Sie trank einen Schluck von ihrem Mineralwasser und schaute ihm mit theatralisch gebogenen Augenbrauen beim Kauen zu. Sie lachte, als er zweimal versuchte zu antworten und zweimal seine Bemühungen aufgab, um zu schlucken.

»Was — Sie meinen, es ist verheerend?«, konnte er schließlich sagen.

»Nein. Nur ... haben Sie ein Privatleben?«

Thorne bekam diese Frau nicht in den Griff. Ein hitziges Temperament, eine dreckige Lache und eine direkte Art, Fragen zu stellen. Es war zwecklos, um den heißen Brei herum zu reden.

»Ich habe einen mühelosen Wechsel von ›verheerende‹ zu ›trübe‹ vollzogen.«

. »Ist das die normale Entwicklung?«

»Ich denke ja. Manchmal gibt es auch eine kurze ›mitleidsvolle‹ Phase, aber nicht immer.«

»Oh, gut, darauf freue ich mich schon.«

Thorne beobachtete sie, wie sie in ihrer Tasche nach Zigaretten kramte und schließlich die Schachtel in die Höhe hielt. »Stört es Sie?«

Thorne verneinte, und sie zündete sich eine Zigarette an. Sie stieß den Rauch seitlich aus, weg von ihm. Es war viel Zeit vergangen seit seiner letzten Zigarette.

»Es rauchen mehr Ärzte, als man denkt. Und eine überraschend große Anzahl von Krebsspezialisten. Ich bin erstaunt, dass nicht mehr von uns Drogen nehmen, um ehrlich zu sein. Sie rauchen also nicht?« Thorne schüttelte den Kopf. »Ein Polizist, der nicht raucht. Dann heben Sie bestimmt gerne mal einen.«

Er lächelte. »Ich dachte, Sie arbeiten viel zu viel, um Zeit zum Fernsehen zu haben.«

Sie zog genüsslich an ihrer Zigarette und lächelte.

Thorne sprach langsam und grinste, als er ihre Frage beantwortete. »Ich hebe mehr als einen ... «

»Ich bin froh, das zu hören.«

»Aber das wär´s dann schon, was die Klischees angeht. Ich bin nicht religiös, ich hasse Opern, und ich schaffe es ums Verrecken nicht, ein Kreuzworträtsel zu lösen.«

»Dann müssen Sie sich getrieben fühlen, oder gejagt. Ist das das richtige Wort?«

Thorne bemühte sich, sein Grinsen beizubehalten, als er sich zur Theke umdrehte. Als er den Blick der Frau an der Kasse auf sich gezogen hatte, hielt er seine Kaffeetasse hoch, um eine weitere zu bestellen. Er drehte sich in dem Moment zurück, als Anne ihre Zigarette ausdrückte. Sie stieß den Rauch aus und ließ ihre eleganten Finger durch ihr silbergraues Haar gleiten.

»Und gehören zu »verheerend« und »trübe« auch Kinder?«

»Nein. Bei Ihnen?«

Ihr breites Lächeln war ansteckend wie die Pocken. »Eins. Rachel. Sechzehn und schwierig.«

Sechzehn? Thorne hob die Augenbrauen. »Sind Frauen immer noch beleidigt, wenn man sie nach ihrem Alter fragt?«

Sie knallte den Ellbogen auf den Tisch, legte ihr Kinn in die Hand und tat ihr Bestes, um ernst zu wirken. »Diese hier ist es jedenfalls.«

»Tut mir Leid.« Nun tat er sein Bestes, um zerknirscht zu wirken. »Wie viel wiegen Sie?«

Sie lachte laut auf. Nicht dreckig, eher schon wollüstig. Auch Thorne lachte und grinste die Kellnerin an, als diese die zweite Tasse Kaffee brachte. Sie hatte kaum die Tischplatte berührt, als Annes Piepser losging. Sie blickte darauf, erhob sich und griff nach ihrer Tasche auf dem Boden. »Vielleicht bin ich nicht drogensüchtig, aber ich schlucke eine Menge Magentabletten.«

Thorne nahm seine Jacke von der Stuhllehne. »Ich bringe Sie zurück.«

Auf dem Weg zum Queen Square wurde die Stimmung wieder seltsam formell. Das beinahe unbeschwerte Geplapper über den bevorstehenden Herbst machte einer unangenehmen Stille Platz. Vor Annes Büro blieb Thorne zögernd an der Türschwelle stehen. Er hatte das Gefühl, dass er eigentlich gehen müsste, doch sie hielt ihre Hand nach oben, um ihn aufzuhalten, während sie rasch telefonierte. Der Ruf mit dem Piepser war nicht dringend gewesen.

»Wie geht es mit den Untersuchungen voran?«

Thorne trat ins Büro und schloss die Tür. Er hatte vorgehabt, das Thema beim Essen zu besprechen, war dann aber an anderem mehr interessiert gewesen.

»Die Aussichten sind ... eher trübe.«

Sie lächelte.

»Jeden Tag gibt es in der Zeitung irgendeine dumme Geschichte über Einbrecher, die in der Wohnung einschlafen, in die sie eingebrochen sind, doch Tatsache ist, dass die meisten Menschen, die das Gesetz brechen, ernsthaft glauben, sie würden nicht geschnappt werden. Bei Mördern hat man eine Chance, wenn das eigene Zuhause oder Sex im Spiel ist.«

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und trank einen Schluck Wasser.

Thorne beobachtete sie. »Entschuldigung, ich wollte keinen Vortrag halten.«

»Nein, das interessiert mich, wirklich.«

»Jede Art von sexueller Obsession kann dazu führen, dass die Leute nachlässig werden. Sie lassen es darauf ankommen und machen Fehler. Bei unserem Freund sehe ich nicht, dass er einen Fehler macht. Was ihn auch antreiben mag, es ist nicht sexuell motiviert.«

Ihr Blick wurde plötzlich kalt und leer. »Tatsächlich?«

»Nicht körperlich. Er ist pervers ... aber er ist —«

»Was er macht, ist grotesk.«

An der Aussage war etwas Endgültiges, gegen das Thorne nichts einwenden konnte. Was ihn betroffen machte, war, dass sie die Gegenwartsform verwendet hatte. Es gab Leute, die dachten oder hofften — und bei Gott, er hoffte es —, dass vielleicht keine neuen Bilder an die Wand gehängt werden mussten. Aber er wusste es besser. Welcher Mission dieser Mann auch immer meinte folgen zu müssen, was auch immer er zu erreichen hoffte, Tatsache war, dass er Frauen verfolgte und sie in ihren Wohnungen umbrachte. Und er hatte Spaß daran. Thorne spürte, wie er rot wurde.

»In diesem Fall gibt es kein herkömmliches Muster. Das Alter der Opfer scheint für den Mörder unwichtig zu sein, Hauptsache, sie sind verfügbar. Er sucht sich irgendwelche Frauen aus, und wenn er nicht kriegt, was er will, lässt er sie einfach liegen. Gewaschen und geschrubbt, zusammengesunken auf einem Stuhl oder flach ausgestreckt auf dem Küchenboden, bis sie von ihren Angehörigen gefunden werden. Niemand sieht etwas. Niemand weiß etwas.«

»Außer Alison.«

Unangenehme Stille senkte sich über das kleine Büro, was die Luft irgendwie noch stickiger machte. Als sein Mobiltelefon klingelte, fühlte sich Thorne nicht wie üblich gestört. Dankbar griff er danach. Detective Inspector Nick Tughan leitete das Backhand-Büro. Tughan konnte gut organisieren und Informationen ordnen — noch einer, der auf Vorschriften stand. Mit seinem weichen Dubliner Akzent war er in der Lage, Vorgesetzte zu beruhigen oder zu überzeugen. Anders als Frank Keable hatte Tughan jedoch das aufgeblasene Selbstbewusstsein eines Herkules und wenig Zeit für Leute wie Tom Thorne. Der bisherige Erfolg der Sonderkommission war in der Hauptsache ihm und seiner unerschütterlichen Effizienz zu verdanken. Nie verlor er die Beherrschung.

»Es gab einen größeren Midazolam-Diebstahl. Vor zwei Jahren im Leicester Royal Infirmary. Fünf Gramm wurden entwendet.«

Thorne griff über den Schreibtisch nach einem Stück Papier und einem Stift. Anne schob ihm den Block zu, und er schrieb sich die Einzelheiten auf. Vielleicht hatte sich der Kerl doch einen Ausrutscher geleistet.

»Gut, schicken wir Holland nach Leicester, um weitere Einzelheiten herauszubekommen. Wir brauchen auch eine Liste von allen, die, sagen wir, seit 1997 dort gearbeitet haben.«

»Seit 1996. Schon aussortiert. Wurde durchgefaxt.«

Tughan war mal wieder einen Schritt voraus und schien es zu genießen. »Nächste Frage ist klar: Gibt es Treffer?«

»Ein paar im Südwesten und ein halbes Dutzend in London. Einer davon ist interessant. Arbeitet im Royal London.«

»Interessant« war das richtige Wort. Anne Coburn hatte es gleich erkannt. Vorausgesetzt, Alison war bei sich zu Hause überfallen worden — warum war sie dann ins Royal London gebracht worden? Warum nicht ins nächstgelegene Krankenhaus? Thorne notierte sich den Namen, ließ die obligatorischen und widerlich jovialen Anweisungen über sich ergehen und drückte die Aus-Taste.

»Hat sich wie eine gute Nachricht angehört.« Sie entschuldigte sich nicht dafür, dass sie mitgehört hatte.

Thorne fand sie immer sympathischer. Er erhob sich und griff nach seiner Jacke. »Hoffen wir’s. Fünf Gramm Midazolam — ist das viel?«

»Das ist verdammt viel. Wir verwenden höchstens fünf Milligramm, um einen Erwachsenen zu sedieren. Intravenös, natürlich.«

Auch Anne Coburn erhob sich, um Thorne hinauszubegleiten. Als sie zur Tür ging, warf sie einen Blick auf den Zettel, den Thorne noch nicht an sich genommen hatte, und blieb abrupt stehen.

»O Gott!«, sagte sie und griff im gleichen Moment nach dem Zettel wie Thorne. Er hätte dafür sorgen müssen, dass sie nicht zu Gesicht bekam, was darauf stand, doch eine Rauferei wäre ... ungehörig gewesen. Er öffnete die Tür.

»Ist dieser Mann Ihr ... Treffer, Detective Inspector?« Sie ging zu ihrem Schreibtisch zurück und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

»Es tut mir Leid, Mrs. Coburn, ich bin sicher, Sie verstehen das. Ich kann wirklich nicht ... «

»Ich kenne ihn«, sagte sie. »Und zwar sehr gut.«

Thorne blieb zögernd an der Tür stehen. Die Sache wurde langsam unangenehm. Die Vorschriften besagten, dass er sofort gehen und einen Kollegen herschicken musste, um die Aussage aufzunehmen. Er aber wartete, dass sie fortfuhr.

»Ja, er hat in Leicester gearbeitet, aber auf keinen Fall hat er was mit dem Midazolam-Diebstahl zu tun.«

»Mrs. Coburn —«

»Und er hat ein felsenfestes Alibi, was Alison Willetts betrifft.«

Thorne schloss die Tür. Er war ganz Ohr.

»Jeremy Bishop war der Anästhesist, der an dem Abend im Royal London in der Notaufnahme Dienst hatte, als Alison eingeliefert wurde. Er hat sie behandelt. Erinnern Sie sich? Ich sagte Ihnen, dass ich ihn kennen würde. Er erzählte mir von dem Midazolam.«

Thorne blinzelte und schloss einen Moment die Augen. Tote Susan. Tote Christine. Tote Madeleine.

»Komm schon, Tommy, du brauchst doch was, damit es weitergeht.«

Er öffnete die Augen wieder. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte das Datum auf dem Zettel gesehen. »Es tut mir Leid, Detective Inspector, aber so wenig Sie Detective Constable Holland auch leiden können ... «

Thorne öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

» ... es ist reine Zeitverschwendung, ihn nach Leicester zu schicken. Der Mann, nach dem Sie suchen, ist mit Sicherheit clever, aber es gibt keine Garantie, dass er jemals im Leicester Royal Infirmary gearbeitet hat.«

Thorne stellte seine Tasche ab und setzte sich wieder. »Warum fange ich an, mich wie Dr. Watson zu fühlen?«

»Am ersten August ist turnusmäßiger Wechsel im Krankenhaus. Normalerweise würde man annehmen, dass jemand in einem Krankenhaus arbeitet, wenn er dort eine größere Menge Medikamente klaut. Ja, Krankenhausmitarbeiter sind überarbeitet und hin und wieder ineffizient, aber was gefährliche Substanzen angeht, gibt es eindeutige Vorschriften.«

Da war es wieder, Thornes Lieblingswort.

»Aber am Tag des turnusmäßigen Wechsels kann es vorkommen, dass die Dinge ein bisschen lasch gehandhabt werden. Ich habe in Krankenhäusern gearbeitet, aus denen hätte man am ersten August ein Bett oder ein Dialysegerät rausschieben können. Es tut mir Leid, aber wer auch immer dieses Midazolam genommen hat, könnte von überallher gekommen sein.«

Susan. Christine. Madeleine. »Irgendetwas, Tommy. Eine Spur. Irgendwas ... «

Thorne zog sein Telefon heraus, um Tughan anzurufen.

Es war Helen Doyles erste Getränkerunde, doch sofort machte sie sich Sorgen, wie viel sie ausgegeben hatte. Einige Designer-Flaschen und ein paar Cola mit Rum, und schon war dreimal so viel weg, wie sie in einer Stunde verdiente.

Mist! Aber es war Nitas Geburtstag, und sie tat so etwas schließlich nicht jeden Tag.

Sie lud die Getränke auf ein Tablett und blickte in die Ecke, wo ihre Freundinnen saßen. Drei von ihnen kannte sie seit ihrer Schulzeit, die anderen beiden fast ebenso lang. Der Pub war noch leer, und die wenigen Gäste waren vermutlich genervt wegen des Lärms, den die Bande veranstaltete. Wie auf Kommando fingen sie an zu lachen. Jos schrilles Gegacker war am lautesten. Vielleicht hatte Andrea wieder einen ihrer dreckigen Witze erzählt.

Helen ging langsam zum Tisch zurück. Unter den Jubelrufen der anderen stellte sie das Tablett ab. Die Frauen grabschten nach ihren Gläsern, als wäre es das Erste, was sie an diesem Abend bekamen.

»Hast du keine Chips mitgebracht?«

»Vergessen, tut mir Leid ... «

»Wirres Huhn.«

»Erzähl ihr den Witz ... «

»Wie viel Eis hat der Trottel da denn reingetan?«

Helen nahm einen Schluck und betrachtete den Aufkleber auf der Flasche, der nicht enthüllte, was eigentlich darin war. Sie war sich nie wirklich sicher, was oder welchen Alkohol sie trank, aber sie mochte die Farben, und sie kam sich schick vor mit der schlanken, kalten Flasche in ihrer Hand. Nita nippte die Hälfte von ihrem Cola-Rum, Jo leerte den Rest ihres Lagerbiers und rülpste laut.

»Wozu trinkst du das? Das ist doch wie Limo!«

Helen spürte, wie sie rot wurde. »Ich mag den Geschmack.«

»Es soll aber gar nicht gut schmecken, das ist der Punkt.«

Nita und Linzi lachten. Helen zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck. Andrea stupste sie. »Es schmeckt wie ... na, du weißt schon.«

Stöhnen. Jo steckte sich zwei Finger in den Hals. Helen wusste, worüber sie redeten. Sex war so ziemlich das Einzige, worüber Andrea redete.

»Sag uns doch noch mal, wie groß sein Schwanz war, Jo.«

Der Stripper war Andreas Idee gewesen, und Nita schien es zu gefallen. Helen fand, dass er, von oben bis unten eingeölt, gut in Form war, und er hatte dafür gesorgt, dass sie rot wurde. Sie hatte bemerkt, dass er genauso verlegen war wie sie, als ihm Jo in den Schritt gefasst hatte, und eine Sekunde lang hatte er fassungslos ausgesehen. Dann hatte er gelächelt und unter den Pfiffen und dem Gejohle des Publikums seine Sachen vom Boden aufgehoben. Auch Helen hatte gepfiffen und gejohlt, doch ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie etwas besoffener gewesen wäre.

»Groß genug!«, kreischte Jo.

»Mehr als genug!«

Helen beugte sich zu Linzi vor.« Wie läuft’s in der Arbeit?«

Sie war mit Linzi eng befreundet, doch sie hatten den ganzen Abend noch nicht richtig miteinander geredet.

»Beschissen. Wahrscheinlich werde ich das Handtuch schmeißen ... bei irgendeiner Zeitarbeitsfirma arbeiten, oder so.«

»Hast Recht.«

Helen liebte ihre Arbeit. Sie bekam zwar wenig Geld, doch die Kollegen waren nett, und obwohl sie ihren Eltern etwas abgeben musste, war es immer noch billiger, zu Hause zu wohnen. Sie sah keinen Sinn darin, auszuziehen, nicht, bis sie jemanden kennen gelernt hatte. Warum sollte sie eine Bruchbude mieten wie Jo und Nita? Andrea wohnte übrigens auch noch zu Hause. Weiß Gott, woher sie die vielen Gelegenheiten zum Sex hatte, über die sie immer sprach ...

»Let Me Entertain You« dröhnte aus der Jukebox — eins ihrer Lieblingslieder. Sie bewegte den Kopf zum Rhythmus der Musik und sang den Text leise mit. Sie erinnerte sich an eine Schüler-Disko und an einen Jungen mit Ohrring, traurigen braunen Augen und einem nach Cidre riechenden Atem. Als der Refrain kam, fielen die anderen Mädchen mit ein, und Helen schwieg.

Der Barmann läutete die letzte Bestellung ein und rief etwas Unverständliches. Andrea und Jo waren ganz scharf auf eine letzte Runde. Helen grinste, obwohl sie eigentlich nach Hause wollte. Es würde ihr am nächsten Morgen schlecht gehen, und ihr Vater würde noch auf sein, um auf sie zu warten. Ihr war bereits ein wenig schwindlig. Sie wäre vor ihrer Verabredung besser erst nach Hause gegangen, um ihren Tee zu trinken und sich umzuziehen. Sie kam sich in ihrem schwarzen Rock und der anständigen Bluse wie eine verklemmte alte Schachtel vor. Auf dem Heimweg würde sie eine Tüte Chips und ein Stück Fisch für ihren Vater kaufen.

Andrea erhob sich und verkündete, dass sie noch eine letzte Runde bestellen würde. Helen jubelte ebenso wie die anderen, trank die Flasche leer und kramte in ihrer Handtasche nach ein paar Münzen.

Thorne hörte mit geschlossenen Augen Johnny Cash, drehte den Kopf und ließ genüsslich seine Halswirbel knacken. Der Sänger mit der tiefen Stimme betonte gerade, er werde aus seinem verrosteten Käfig ausbrechen. Thorne öffnete die Augen und blickte sich in seiner gemütlichen Wohnung um — die eigentlich kein Käfig war. Doch er wusste, wovon Johnny sprach.

Die Zweizimmerwohnung war klein, aber leicht in Ordnung zu halten. Außerdem lag sie nahe genug an der belebten Kentish Town Road, sodass er sicher sein konnte, dass ihm niemals der Tee oder die Milch ausging. Oder der Wein.

Das Paar im Stockwerk über ihm war ruhig und belästigte ihn nie. Keine sechs Monate wohnte er jetzt hier, seit er das Haus in Hyghbury schließlich verkauft hatte, doch er kannte schon jeden Zentimeter der Wohnung. An einem deprimierenden Sonntag hatte er sie mit IKEA-Möbeln eingerichtet.

Eigentlich konnte er nicht sagen, dass er unglücklich war, seit Jan ihn verlassen hatte. O Gott, sie waren seit drei Jahren geschieden, und gegangen war sie vor fast fünf, doch noch immer hatte er das Gefühl, als würde ... die Welt um ihn herum schwanken. Er hatte gedacht, durch den Umzug in die neue helle Wohnung würde sich einiges ändern. Er war optimistisch gewesen. Allerdings hatte er zu den Dingen, die ihn umgaben, keine wirkliche Verbindung. Sie waren funktionell. Er konnte in Sekundenschnelle vom Stuhl aufstehen und ins Bett steigen, doch das Bett war zu neu und tragischerweise noch nicht wirklich eingeweiht.

Er kam sich vor wie ein gesichtsloser Geschäftsmann in einem anonymen Hotelzimmer.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Jan wegen der Arbeit gegangen wäre. So etwas hatte er schon oft miterlebt und oft genug im Fernsehen mitverfolgt — die Ehefrauen hatten es satt, die zweite Geige neben der Arbeit zu spielen, aber Jan hatte ihre eigenen Gründe gehabt, um zu gehen. Die einzige Arbeit, die in der chaotischen Geschichte tatsächlich eine Rolle gespielt hatte, war ihr wöchentliches Treffen am Mittwochnachmittag mit dem Leiter des Kurses für kreatives Schreiben.

Bis er sie erwischt hatte. Mitten am Tag bei zugezogenen Vorhängen.

Jan sagte ihm später, sie habe nicht verstanden, warum Thorne ihn nicht geschlagen hätte. Darauf hatte sie nie eine Antwort bekommen. Selbst als der dürre Mistkerl mit hin und her pendelndem Schwanz aus dem Bett gehüpft war und nach seiner Brille gegriffen hatte, hatte Thorne gewusst, dass er ihn nicht schlagen würde. Während ihn der heftige Schmerz überrollt hatte, war ihm klar geworden, dass er es nicht ertragen hätte, sie schreien zu hören, den Hass in ihren Augen zu sehen oder zuzuschauen, wie sie zu dem kleinen Arsch gerannt wäre, der, vor der Garderobe zusammengesunken, gestöhnt und versucht hätte, die Blutung zu stoppen.

Einige Wochen später hatte Thorne vor dem College gewartet, war dem Kerl gefolgt, hatte ihn beobachtet. Beim Einkaufen. Beim Gespräch mit Studenten auf der Straße. Auf dem Weg zu seiner kleinen Wohnung in Islington, wo vor dem Haus bunte Fahrräder angekettet waren und Plakate in den Fenstern hingen. Dieses Wissen hatte ihm gereicht.

Du gehörst mir, falls ich mich je entscheide, dich zu schnappen.

Doch nach einer Weile schien auch das sinnlos zu sein. Er ließ die Sache bleiben. Jetzt verbrachte er seine freie Zeit mit Rotwein und mit leidenschaftlicher Musik.

Ja, er hatte die Arbeit mit nach Hause genommen — besonders nach Calvert, als ihm die Dinge eine Zeit lang aus den Händen geglitten waren —, doch sie hatten einfach zu jung geheiratet. Das war alles. Wenn sie Kinder gehabt hätten ...

Thorne überflog die Fernsehseiten im Standard. Dienstagabend und nur Mist im Fernsehen. Schlimmer noch, auf Sky hatten sie um acht Uhr das Spiel der Spurs gegen Bradford gezeigt. Er hatte das völlig vergessen. Heimspiel gegen Bradford — müsste eigentlich drei Punkte geben. Im Teletext, dem besten Freund des Fußballfans, erfuhr er die schlechten Nachrichten.

Sie war mit dem Rücken an seinen Beinen nach unten gerutscht. Ihre Fingerknöchel lagen auf dem polierten Holzboden. Er stand hinter ihr, hatte beide Hände in ihrem Nacken und machte sich bereit. Er blickte sich im Zimmer um. Alles war perfekt, die Sachen lagen in Reichweite.

Ihr Unterkiefer fiel herunter, und ein leises Gurgeln war zu hören. Ganz langsam erhöhte er den Druck an ihrem Hals. Es bestand kein Anlass zu sprechen. Abgesehen davon hatte er schon genug von ihr gehört.

Eineinhalb Stunden zuvor hatte er beobachtet, wie sich eine Gruppe von Mädchen getrennt hatte. Zwei waren zur U-Bahn gegangen, zwei andere zur Bushaltestelle. Eine war die Holloway Road hinuntergewankt. Sie schien hier zu wohnen. Vielleicht hätte sie Lust, noch etwas mit ihm zu trinken.

Er war mit dem Wagen links abgebogen, einmal um den Block gefahren und etwa zwanzig Meter vor ihr wieder auf die Hauptstraße gekommen. An der Kreuzung hatte er gewartet, bis sie den Wagen fast erreicht hatte, dann war er ausgestiegen.

»Entschuldigung ... es tut mir Leid ... aber ich habe mich offenbar furchtbar verfahren«, sagte er mit gekonntem Nuscheln, als wäre er angetrunken.

»Wohin wollen Sie denn?«

Argwohn. Aber nichts, worüber er sich Sorgen machen müsste — nur ein beschwipster Schnösel, der sich im Kreisverkehr auf der Archway Road verfahren hatte. Als er seine Brille abnahm, sah er aus, als hätte er Schwierigkeiten geradeaus zu schauen ...

»Hampstead ... tut mir Leid ... ich hatte ein bisschen zu viel ... sollte eigentlich nicht mehr fahren, wenn ich ehrlich bin.«

»Ach, ist schon in Ordnung, Kumpel. Hab’s selbst übertrieben ... «

»Eine Clubtour?«

»Nein, nur in einem Pub — Geburtstag einer Freundin ... echt toll.«

Gut. Er war froh, dass sie glücklich war. Umso mehr Lebenswillen hatte sie. Also ...

»Ich nehme an, Sie möchten keinen Schlummertrunk mehr?« Er griff durchs Wagenfenster und präsentierte mit einer schwungvollen Gebärde eine Flasche Champagner.

»Ich werd verrückt. Was feiern Sie denn?«

Du meine Güte, was machten die Mädchen bloß für ein Aufhebens um eine Flasche Schampus? Wie die Golduhr eines Hypnotiseurs.

»Hab sie bei einer Party gemopst.« Dann das Kichern. »Ein letzter Drink?«

Dreißig Minuten bedeutungsloses Blabla. Sie war vollkommen mit ihrem eigenen Zeug beschäftigt. Nitas Freund ... Linzis Probleme bei der Arbeit ... ein paar dreckige Witze. Er hatte gelächelt, genickt und gelacht. Dann war es Zeit für den unschuldig aussehenden Mann, seine narkotisierte Freundin hinten in den Wagen zu verfrachten und zu sich nach Hause zu fahren.

Dann hatte er telefoniert und sie zurechtgesetzt.

Und jetzt war Helen gar nicht mehr so geschwätzig.

Wieder dieses verzweifelte Gurgeln von irgendwo ganz tief unten.

»Psst, Helen, entspann dich. Es wird nicht lange dauern.«

Er positionierte seine Daumen jeweils rechts und links des knochigen Höckers am Schädelansatz und suchte nach dem Muskel, über den er mit ihr sprach.

»Spürst du diesen Muskel, Helen?«

Sie stöhnte.

»Der Sternocleidomastoideus. Ich weiß, ein dämlich langes Wort. Mach dir nichts draus. Es ist der Kopfwendermuskel, der bis zum Schlüsselbein reicht. Das, was ich suche, liegt hier drunter ... « Er keuchte, als er es gefunden hatte. »Hier.«

Langsam legte er seine Finger um die Halsschlagader und begann zu drücken.

Er schloss die Augen und zählte in Gedanken die Sekunden. Zwei Minuten würden reichen. Er spürte, wie ein Schauer durch ihren Körper und durch seine dünnen Einmal-Handschuhe lief. Er nickte respektvoll in Bewunderung der Anstrengung, die selbst eine solch kleine Bewegung gekostet haben musste.

Er dachte über ihren Körper nach und darüber, wie er ihn berühren könnte. Sie gehörte ihm, sodass er tun könnte, wonach ihm der Sinn stand. Er könnte seine Hände unter ihre Bluse gleiten lassen. Er könnte sie umdrehen und in ihren Mund eindringen. Doch das würde er nicht tun. Er hatte schon bei den anderen daran gedacht, doch die Sache hatte nichts mit Sex zu tun.

Nachdem er diese Möglichkeiten zur Genüge durchgespielt hatte, war er zu dem Ergebnis gekommen, dass dies ein normaler und gesunder Impuls war. Würde nicht jeder Mann das Gleiche bei einer Frau denken, die ihm ausgeliefert war? Die ihm so einfach zur Verfügung stand? Natürlich. Doch die Idee war nicht gut. Er wollte nicht, dass diese Angelegenheit als sexuelles Verbrechen eingestuft wurde.

Das würde sie von der Fährte abbringen. Und er wusste zuviel über DNA.

Aus Helens Kehle war ein Brummen zu hören. Sie konnte alles spüren, war sich ihrer selbst bewusst und kämpfte noch immer dagegen an.

»Es dauert nicht mehr lange ... bitte sei jetzt still.«

Er bemerkte ein Trommelgeräusch und blickte, ohne den Kopf zu drehen, hinunter, wo ihre Finger verkrampft auf den Boden schlugen. Das Adrenalin veranstaltete ein hoffnungsloses Rückzugsgefecht gegen das Betäubungsmittel. Sie könnte es schaffen, dachte er, sie hat einen so starken Lebenswillen.

Eine Minute fünfundvierzig Sekunden. Seine Finger blieben in Position, als er sich vorbeugte. »Gute Nacht, Schlafmütze, jetzt kommt der Sandmann ... «

Sie hörte auf zu atmen.

Dies war der kritische Moment. Seine Bewegungen mussten schnell und genau sein. Er lockerte den Druck auf der Halsschlagader und schob ihren Kopf heftig nach vorn, bis ihr Kinn die Brust berührte. In dieser Position ließ er ihn eine Weile, bis er ihn ganz nach hinten drückte, sodass er ihr ins Gesicht blicken konnte. Ihre Augen waren geöffnet, ihr Mund hing schlaff nach unten, Speichel lief an ihrem Kinn hinunter. Er widerstand dem Drang, sie zu küssen, und hielt ihren Kopf aufrecht, in einer neutralen Position. Dann krallte er seine Finger in ihr langes braunes Haar und drehte den Kopf nach hinten über die linke Schulter.

Dort hielt er ihn einen Moment. Dann über die rechte Schulter. Mit jeder Drehung riss er innen die Wirbelarterie entzwei. Jetzt war sie an der Reihe.

Vorsichtig legte er sie auf den Boden in die Stabile Seitenlage. Er schwitzte heftig, griff nach einem Glas Wasser und setzte sich auf einen Stuhl und beobachtete sie. Um darauf zu warten, dass sie anfing zu atmen.

Sein Kopf war leer, während er sich, ohne zu blinzeln, auf ihr Gesicht und ihren Brustkorb konzentrierte. Der Atem würde kurz und flach sein, er beobachtete sie genau, um auch die leiseste Bewegung mitzubekommen. Alle paar Sekunden beugte er sich vor und tastete nach ihrem Puls.

Helens Körper bewegte sich nicht.

Er griff nach dem Beutel und der Maske. Es war Zeit, einzuschreiten. Zehn Minuten hektisches Drücken und lautes Rufen. »Los, Helen, hilf mir! Du musst stark sein!«

Sie war nicht stark genug.

Außer Atem ließ er sich wieder auf den Stuhl fallen und blickte hinunter auf den leblosen Körper. Ein Knopf fehlte an ihrer Bluse. Sein Blick wanderte zu den schwarzen Schuhen, die neben ihr standen, zu dem Häufchen Schmuck in einer Schale aus rostfreiem Stahl — billige Armbänder und hässliche Ohrringe.

Er betrauerte sie, und er hasste sie.

Er musste sich beeilen. Jetzt ging es darum, sie zu entsorgen. Schnell und problemlos.

Er begann, sie auszuziehen.

Thorne griff zu der Flasche Rotwein neben seinem Sessel und schenkte sich noch ein Glas ein. Vielleicht waren vierzigjährige Männer besser dran, wenn sie alleine waren, alleine in ihren hübschen, gemütlichen, aber kleinen Wohnungen. Vierzigjährige Männer mit schlechten Angewohnheiten, Stimmungsschwankungen und einer Vorliebe für Country-Music.

Johnny sang über Erinnerungen. Thorne machte sich eine gedankliche Notiz, um den CD-Spieler das nächste Mal so zu programmieren, dass dieses Lied übersprungen wurde. Der Calvert-Fall — war er wirklich abgeschlossen?

»Man nehme eine frische, zarte Leiche ... «

Fünfzehn Jahre waren zu lang, um dieses Gepäck noch mit sich herumzuschleppen. Außerdem war es nicht seins. Er erinnerte sich daran, wie es ihm aufgebürdet worden war. Er war erst fünfundzwanzig gewesen. Diejenigen, die weit über ihm standen, hatten ihm entsprechend ihrer Position die Drecksarbeit zugeschoben. Nie hatte er die Möglichkeit gehabt, den anständigen Weg zu gehen, um aus der Sache herauszukommen. Hätte er es denn überhaupt getan?

» ... einen Strafentlassenen ... «

Er hatte kein Mitspracherecht gehabt, als es darum gegangen war, Calvert nach dem Verhör, dem vierten Verhör, gehen zu lassen. Über das, was auf diesem Flur und später in dem Haus geschehen war, schien er wie jeder andere auch irgendwo gelesen zu haben. Hatte er wirklich das Gefühl gehabt, dass Calvert der Richtige war? Oder war dies eine Einzelheit gewesen, die er später dazugedichtet hatte, im Licht dessen, was er an jenem Montagmorgen gesehen hatte? Sobald die Dinge nach und nach ans Tageslicht kamen, war sein Anteil am Fall ohnehin vergessen worden.

» ... vier tote Mädchen ... «

Wo lag denn abgesehen davon sein Trauma — du meine Güte, was für ein Wort —, verglichen mit diesen kleinen Mädchen, die heute immer noch umherlaufen könnten? Die heute schon eigene Kinder haben könnten?

»Memories are made of this.«

Er richtete die Fernbedienung auf die Stereoanlage und schaltete das Lied aus. Das Telefon klingelte.

»Tom Thorne.«

»Hier ist Holland, Sir. Wir glauben, wir haben eine weitere Leiche.«

»Ihr glaubt?«

Sein Magen fuhr Karussell. Calvert hatte gelächelt, als er aus dem Verhörzimmer gegangen war. Alison blickte ins Nichts. Die tote Susan, die tote Christine und die tote Madeleine drückten ihm die Daumen.

»Sieht genau gleich aus, Sir. Keinerlei äußere Verletzungen.«

»Die Adresse?«

»Das ist das Komische, Sir. Die Leiche liegt draußen. Im Gebüsch hinter dem Bahnhof von Highgate.«

Zu dieser nächtlichen Stunde nur ein paar Minuten entfernt. Er kippte den Rest Wein in einem Zug hinunter. »Sie schicken mir besser einen Wagen, Holland. Ich habe was getrunken.«

»Und das Beste, Sir ... «

»Das Beste?«

»Wir haben einen Zeugen. Jemand hat gesehen, wie er die Leiche abgeladen hat.«

Der Kuss des Sandmanns

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