Читать книгу Der Kuss des Sandmanns - Mark Billingham - Страница 7

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Eins

Thorne hasste den Gedanken an abgestumpfte Polizisten. Sie waren nutzlos. Wie eingetrocknete Farbe. Er hatte sich einfach ... damit abgefunden. Mit einem Pennbruder, dessen Schädel eingeschlagen und auf dessen Brust ABSCHAUM eingeritzt worden war. Mit einem halben Dutzend Pfadfinderinnen, die dank eines betrunkenen Busfahrers und einer niedrigen Brücke geköpft worden waren. Und noch schlimmeren Sachen. Abgefunden damit, dass er in die Augen von Frauen blickte, die ihre Söhne verloren hatten, sie anschaute, während sie auf ihre Unterlippe bissen und abwesend zum Wasserkessel griffen. Mit all dem hatte sich Thorne abgefunden. Und er hatte sich mit Alison Willetts abgefunden.

»Eine gehörige Portion Glück, Sir, wirklich.«

Er hatte sich damit abgefunden, an dieses kleine Wesen in Mädchengestalt, das in einen Kilometer Mull-Spaghetti gewickelt war, wie an einen großen Erfolg zu denken. Eine gehörige Portion Glück. Ein Glückstreffer. Und sie war kaum anwesend. Glück war es vor allem, dass man sie gefunden hatte. »Und, wer hat sie so versaut?« Detective Constable David Holland hatte von Thornes direkter Vorgehensweise gehört, aber auf diese Frage war er so schnell nach seinem Eintreffen am Bett des Mädchens nicht vorbereitet.

»Na ja, um ehrlich zu sein, Sir, sie passte nicht ins Profil. Ich meine, zum einen lebt sie noch, und dann ist sie zu jung.«

»Das dritte Opfer war erst sechsundzwanzig.«

»Ja, ich weiß, aber schauen Sie doch mal hin.«

Das tat er. Vierundzwanzig und hilflos wie ein Kind.

»Am Anfang war das nur eine Vermissten-Geschichte, bis die Kollegen vor Ort ihren Freund auftrieben.« Thorne hob eine Augenbraue.

Holland griff instinktiv zu seinem Notizbuch. »Äh ... Tim Hinnegan. Man könnte ihn als eine Art nächsten Angehörigen bezeichnen. Ich habe eine Adresse. Er müsste später vorbeikommen. Scheint jeden Tag hier zu sein. Sie sind seit achtzehn Monaten zusammen — sie zog vor zwei Jahren von Newcastle hierher und trat eine Stelle als Kindergärtnerin an.« Holland schloss sein Notizbuch und blickte seinen Boss an, der immer noch auf Alison Willetts hinunterschaute. Ob Thorne wusste, dass er von den anderen aus seinem Team »Stehaufmännchen« genannt wurde? Es war nicht schwer zu erkennen, warum. Thorne war ... wie groß? Einsneunundsechzig? Einssiebzig? Doch sein tief liegender Schwerpunkt und seine ... Breite ließen vermuten, dass es schwer sein würde, ihn ins Schwanken zu bringen. In seinen Augen war etwas, das Holland sagte, dass er bestimmt nicht umkippen würde.

Schon sein Vater hatte Polizisten wie Thorne gekannt, doch Thorne war der erste von der Sorte, mit dem Holland zusammenarbeitete. Er hielt es für besser, sein Notizbuch noch nicht wegzustecken. Das Stehaufmännchen sah aus, als hätte es noch mehr Fragen auf Lager. Und der Mistkerl hatte so eine komische Art, diese Fragen zu stellen, ohne richtig den Mund aufzumachen.

»Ja, sie geht also nach einer Junggesellinnenabschiedsparty nachts nach Hause ... äh, vor einer Woche, am Dienstag ... und landet vor der Notaufnahme des Royal London Hospital.«

Thorne zuckte zusammen. Er kannte das Krankenhaus. Die Erinnerung an die Schmerzen nach seiner Leistenbruchoperation vor sechs Monaten war noch erschreckend frisch. Er blickte auf, als eine Krankenschwester in blauer Tracht die Tür öffnete und zuerst auf die beiden und dann auf die Uhr schaute. Holland griff nach seiner Dienstmarke, doch die Schwester schloss schon wieder die Tür hinter sich.

»Sah wie eine Überdosis aus, als sie eingeliefert wurde. Dann wurde diese komische Koma-Sache entdeckt, und sie wurde hierher gebracht. Doch auch als man herausfand, dass es ein Gehirnschlag war, gab es offensichtlich keine Verbindung zu Backhand. Also kein Grund, nach Benzos zu suchen, und vor allem kein Grund, uns da mit reinzuziehen.«

Thorne blickte auf Alison Willetts hinab. Ihr Pony musste geschnitten werden. Ihre Augen rollten in ihren Höhlen nach oben. Wusste sie, dass die Polizei hier war? Konnte sie sie hören? Und konnte sie sich an etwas erinnern?

»Wenn Sie mich fragen, ist der Einzige, der wirklich nicht mehr zu retten ist, der Mörder, Sir.«

»Holen Sie uns eine Tasse Tee, Holland.«

Thorne löste seinen Blick nicht von Alison Willetts, und nur das Quietschen der Tür wies ihn darauf hin, dass Holland gegangen war.

Detective Inspector Tom Thorne hatte sich nicht für die Sonderkommission Backhand stark gemacht, war aber dankbar für jede Verstärkung aus der brandneuen Serious Crime Group. Die Umstrukturierung war für jeden verwirrend, und zumindest war Backhand eine Sonderkommission im alten Stil. Dennoch hatte er sich nicht um sie gerissen. Natürlich stand er dort im Scheinwerferlicht, doch Thorne gehörte zu der Sorte von Polizisten, die nur widerwillig einen Fall übernahmen, wenn er augenscheinlich nicht zu lösen war. Und dieser Fall war total verrückt. Keine Frage. Drei Morde, von denen sie wussten und bei denen die Opfer durch die Einschnürung der Basilararterie gestorben waren. Irgendein Wahnsinniger passte Frauen in ihren Wohnungen ab, pumpte sie mit Drogen voll und versetzte ihnen einen Gehirnschlag.

Versetzte ihnen einen Gehirnschlag.

Hendricks gehörte zu den praktischeren Pathologen. Vor einer Woche war Thorne nicht gerade entzückt gewesen, als Hendricks in seinem Labor seine feuchtkalten Hände an seinen Kopf und Hals legte, um zu demonstrieren, wie die Opfer ermordet worden waren. »Verdammt noch mal, Phil, was glaubst du, was du hier treibst?«

»Halt’s Maul, Tom, du bist voll auf Beruhigungsmittel. Ich kann mit dir alles tun, was ich will. Ich biege deinen Kopf in diese Richtung und drücke auf diese Stelle hier, um deine Arterie zu knicken. Das ist ein ganz ausgefeiltes Verfahren, man braucht dafür spezielles Wissen ... ich weiß nicht, Armee? Kampfsport, vielleicht? Auf jeden Fall ist er ein ausgekochtes Bürschchen. Keine sichtbaren Verletzungen. Das ist praktisch nicht zu entdecken.«

Praktisch.

Christine Owen und Madeleine Vickery hatten beide zur Risikogruppe gehört: Eine war im mittleren Alter, die andere war starke Raucherin gewesen und hatte die Pille genommen. Sie wurden an jeweils entgegengesetzten Enden von London tot in ihren Wohnungen aufgefunden. Dass sie sich kurz zuvor mit Karbolseife gewaschen hatten, war vom zuständigen Pathologen entdeckt worden, und obwohl dies Christine Owens Ehemann und Madeleine Vickerys Mitbewohner seltsam vorkam, konnten sie das Stück Karbolseife im Badezimmer weder leugnen noch erklären. Bei beiden Opfern wurden Spuren eines Beruhigungsmittels nachgewiesen,• erklärt wurde dies in Owens Fall damit, dass sie wegen ihrer Depression das Mittel verschrieben bekommen hatte, bei Vickery führte man es auf ihren gelegentlichen Drogenkonsum zurück. Diese tragischen, aber offenbar natürlichen Tode waren somit nicht miteinander in Verbindung gebracht worden.

Bei Susan Carlish gab es keine allgemein gültigen Risikofaktoren für einen Gehirnschlag, auch die Beruhigungsmittel, die in ihrem Einzimmerapartment in Waterloo in einer Flasche ohne Etikett gefunden wurden, gaben Rätsel auf. Es lag an den durchtrennten Bändern in ihrem Hals und an einem verdammt guten Pathologen, dass sie der Sache auf die Spur gekommen waren. Selbst Hendricks musste dieses Puzzlestück pathologischer Arbeit bewundern. Sehr clever.

Aber nicht so clever wie der Mörder.

»Er spielt ein Spiel mit Prozenten, Tom. Es laufen eine Menge Menschen mit Risikofaktoren für einen Gehirnschlag in der Gegend rum. Du zum Beispiel.«

»Häh?«

»Bei deinem Weinkonsum bist du doch Stammkunde im Threshers, oder?«

Thorne wollte protestieren, hielt sich dann aber zurück. Er hatte oft genug mit Hendricks eine Sauftour unternommen.

»Er wählt drei verschiedene Stadtteile von London aus und weiß, dass die Wahrscheinlichkeit praktisch bei null liegt, dass eine Verbindung zwischen den Opfern hergestellt wird. Er tötet weiter, und wir sind kein bisschen schlauer.«

Thorne lauschte dem beharrlichen Keuchen von Alisons Beatmungsmaschine. Locked-in-Syndrom wurde ihr Zustand genannt. Man wusste nicht sicher, ob sie hören, sehen oder fühlen konnte. Höchstwahrscheinlich bekam Alison alles um sich herum mit, war aber nicht in der Lage, sich zu bewegen. Nicht den kleinsten Muskel.

Syndrom war nicht das richtige Wort. Es war ein Urteil. Und was war mit dem Bastard, der das Urteil gesprochen hatte? Ein Kampfsport-Spinner? Ein Typ aus einer Spezialeinheit? Das war, was die Polizei bestenfalls vermuten konnte. Die einzige Vermutung. Aber damit waren sie auch nicht schlauer als vorher ...

Drei verschiedene Stadtteile von London. War das ein Durcheinander! Drei Commander, die um einen Tisch sitzen, »Wer hat den größten Pimmel?« spielen und die Sonderkommission Backhand ins Leben rufen.

Was das Team betraf, so hatte er keine Bedenken. Tughan war zumindest effizient, und Frank Keable war als Vorgesetzter ein guter Detective Chief Inspector, wenn auch manchmal ... zu vorsichtig. Thorne würde mit ihm einmal über Holland und dessen Notizbuch reden müssen. Er legte das blöde Ding niemals aus der Hand. Würde die Abteilung denn nie einen Mitarbeiter einstellen, dessen Gedächtnis etwas größer war als das eines durchschnittlichen Goldfisches?

»Sir?«

Der Goldfisch-Junge war mit dem Tee zurück.

»Wer hat uns den Tipp über Alison Willetts gegeben?«

»Das müsste die Neurologin gewesen sein ... äh ... Doktor ... «

Holland räusperte sich und schluckte. Er hielt zwei Plastikbecher mit heißem Tee in Händen und konnte sein Notizbuch nicht herausziehen. Thorne entschloss sich, nett zu sein, und nahm ihm einen Becher ab, sodass Holland nach seinem Notizbuch greifen konnte.

»Dr. Coburn, Anne Coburn. Sie unterrichtet heute im Royal Free Hospital. Ich habe für heute Nachmittag einen Termin mit ihr vereinbart.«

»Noch eine Ärztin, der wir danken müssen.«

»Ja, und noch eine Portion Glück, wie es aussieht. Ihr Mann ist Pathologe, David Higgins. Er arbeitet manchmal in der Gerichtsmedizin. Sie erzählt ihm von Alison Willetts, und er sagt: ›Das ist interessant, weil ... ‹«

»Was? Und er sagt, und sie sagt? Das hört sich doch eher wie Tratsch hinter vorgehaltener Hand an.«

»Ich weiß nicht, Sir. Das müssen Sie sie selbst fragen.«

Während er zur Seite trat, damit eine blasse, rotblonde Krankenschwester die Kanüle wechseln konnte, reichte Thorne seinen nicht angerührten Tee an Holland zurück.

»Sie bleiben hier und warten auf Hinnegan.«

»Aber, Sir, der Termin ist erst um halb fünf.«

Er stapfte eine Reihe von Fluren mit aufgesprungenen roten Linoleumböden entlang — auf der Suche nach dem nächsten Ausgang, um dem Geruch zu entkommen, den er genauso sehr hasste wie jeder andere rechtschaffene Mensch auf der Welt. Obwohl die Intensivstation sich in einem neueren Flügel des National Hospital für Neurologie und Neurochirurgie befand, war der Geruch der gleiche. Desinfektionsmittel, vermutete er. In Schulen benutzten sie etwas Ähnliches, doch das weckte in ihm nur die Erinnerung an die vergessenen Sportklamotten und den Schrecken, den Sportunterricht in Unterhosen absolvieren zu müssen. Das hier war ein anderer Geruch.

Dialyse und Tod.

Er nahm den Fahrstuhl nach unten zum Eingangsbereich, dessen imposante viktorianische Architektur einen überraschenden Kontrast zum modernen, offenen Stil des Krankenhausbaus bildete. Die Kappsteine entlang der Wände und die verstaubten Holztafeln mit den Namen der Krankenhausärzte strahlten eine verblichene Würde aus. Der Stolz des Hauses war ein lebensgroßes Porträt von Diana, Prinzessin von Wales, einer ehemaligen Förderin des Krankenhauses. Das Gemälde war vollendet, anders als die Büste der Prinzessin, die daneben auf einer Säulenplatte stand. Ob sie von einem Patienten stammte?, fragte er sich.

Als Thorne sich dem Ausgang näherte, verrieten ihm die gemurmelten Flüche und tropfenden Regenschirme der Entgegenkommenden, dass der Sommer zu Ende war — und das in der zweiten Augustwoche. Er stand in dem mit roten Backsteinen versehenen Säulengang des Krankenhauses und spähte durch den Regen zu seinem Wagen, der ganz nah am Geländer stand, das um den Queen Square herumlief. Menschen huschten mit gesenkten Köpfen durch den Park oder zur U-Bahn-Haltestelle Russell Square. Wie viele von ihnen waren Ärzte oder Pflegekräfte? Im Umkreis von einem guten Kilometer gab es ein Dutzend Krankenhäuser und Spezialkliniken. Er konnte direkt auf das Great Ormond Street Children’s Hospital blicken.

Er schlug seinen Kragen hoch und rannte los.

Zuerst dachte er, es sei ein Strafzettel für Falschparken, den er unwirsch unter dem Scheibenwischer hervorzog. Als er jedoch das A4-Blatt aus dem Plastikumschlag herauszog und auffaltete, sah er, dass es etwas anderes war. Vorsichtig schob er es in die Schutzhülle zurück, wischte die Regentropfen weg und sah sich den sorgfältig getippten Brief an. Nach den ersten vier Worten merkte er nicht mehr, wie ihm das Wasser den Kragen hinunterlief.

LIEBER DETECTIVE INSPECTOR THORNE. WAS SOLL ICH SAGEN? ÜBUNG MACHT DEN MEISTER. UND BENEIDEN SIE SIE NICHT EINFACH UM DIESE PERFEKTE ... DISTANZ? DENKEN SIE ÜBER DIE IDEE DER FREIHEIT NACH. WAHRE FREIHEIT. HABEN SIE JE WIRKLICH DARÜBER NACHGEDACHT? WEGEN DER ANDEREN FRAUEN TUT ES MIR LEID. WIRKLICH. ICH WERDE IHRE INTELLIGENZ NICHT MIT GESCHWÄTZ ÜBER ZIEL UND ZWECK BELEIDIGEN, SONDERN ALS MILDERNDE UMSTÄNDE ANFÜHREN, DASS BEI EINEM GROSSEN VORHABEN EBEN HÄUFIG FEHLER GEMACHT WERDEN. DAS HAT MIT DRUCK ZU TUN, DETECTIVE INSPECTOR THORNE, ABER DARÜBER WERDEN SIE JA ALLES WISSEN. ICH MEINE ES ERNST, TOM. ICH WERDE SIE VIELLEICHT EINMAL ANRUFEN.

Druck ...

Thorne blickte sich mit klopfendem Herz um. Wer auch immer ihm diese Nachricht hinterlassen hatte, musste noch in der Nähe sein — der Wagen hatte nicht lange hier gestanden. Er sah nur verbissene, vom Regen nasse Gesichter und Holland, der um die Pfützen herumsprang, während er auf ihn zueilte.

»Sir, Alisons Freund ist gerade gekommen. Sie müssen ihn auf dem Weg nach draußen verpasst haben.«

Thornes Gesichtsausdruck ließ ihn zu einer Salzsäule erstarren.

»Alison ist nicht versaut, Holland.«

»Natürlich nicht, Sir. Ich meinte bloß —«

»Hören Sie. Er will genau das.« Thorne zeigte nach hinten aufs Krankenhaus. »Verstehen Sie?« Sein Hemd klebte ihm am Rücken. Regen und Schweiß. Er verstand es selbst kaum. Er konnte kaum glauben, was sich einen Weg über seine Lippen bahnte. Holland starrte Thorne an, der mit weit geöffnetem Mund die Worte formte, die ihn so viel Mühe kosteten. Worte, die ihm sagten, während er sie äußerte, dass er nie Teil dieser Angelegenheit hätte werden dürfen.

»Alison Willetts ist nicht sein erster Fehler. Sie ist die Erste, bei der er es richtig gemacht hat.«

Der Kuss des Sandmanns

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