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Vier

Der Sierra blieb hinter dem Krankenwagen stehen. Als Thorne ausstieg, wusste er, dass die Sache schwierig werden würde. Selbst um zwei Uhr morgens war es noch schwül, doch es würde bald regnen. Wertvolle Beweise würden verloren gehen, wenn sich der Schauplatz in Matsch verwandelte. Die Fotografen, die Polizisten und die Mitglieder des forensischen Teams gingen ihrer Aufgabe mit schweigsamer Effizienz nach. Sie wussten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Alles, was nützlich war, wurde gewöhnlich innerhalb der ersten Stunde gefunden. Die goldene Stunde.

Tughan würde ohnehin alles abdecken lassen. Er hatte bestimmt die Wettervorhersage gehört.

Thorne ging die steilen Stufen hinunter, die zur U-BahnStation Highgate führten und den Zugang zu Queens Wood bildeten, dem Stück Grünfläche, das die Archway Road säumte. Beim Gehen sah er die Scheinwerfer durch die Bäume hindurchschimmern, er sah, wie sich die forensischen Spezialisten in ihren weißen Kunststoffanzügen über etwas beugten, das die Leiche zu sein schien, und in der Kleidung des Mädchens nach Fasern oder Haaren suchten. Er hörte, wie Befehle gebellt wurden, er hörte das Zischen von Blitzlichtern und das konstante Dröhnen des tragbaren Generators. Er war in der Vergangenheit an vielen Tatorten gewesen, an zu vielen, doch hier hatte er den Eindruck, als würde er dem A-Team zuschauen. Eine solche Zielstrebigkeit hatte er bisher nur einmal erlebt.

Kein Pfeifen, kein Galgenhumor und keine Thermosflasche mit Tee.

Erst als Thorne unter dem Geländer hindurchgekrabbelt war und sich die Plastiküberschuhe angezogen hatte, die ihm ein Mitarbeiter der Spurensicherung gegeben hatte, wurde ihm bewusst, wie schwer es sein würde, diesen Tatort zu untersuchen. Er sah auch sofort, wie abgebrüht der Mörder bei seiner Wahl des Abladeplatzes gewesen war. Die Leiche lag direkt an dem hohen Metallgeländer, das den ganzen Weg den Hügel hinunter säumte. Auf einer Seite lag die Hauptstraße, auf der anderen ein breiter, dicht bewachsener Streifen Wald an einem steilen Abhang, der zur UBahn-Station Highgate führte. Die Leiche war nur zu erreichen, wenn man den Hügel hinauf-, und zwischen den Bäumen hindurchging. Obwohl bereits eine Art Pfad entstanden war, war es immer noch eine langwierige Angelegenheit, bis zur Leiche zu gelangen. Der Untergrund war hart und trocken, doch es würde nur zehn Minuten dauern, bis er sich in eine matschige Rutschbahn verwandelt hätte. Es lohnte sich nicht, den Tatort mit Kunststoffzelten abzudecken. Er hoffte, sie würden schnell die Hinweise bekommen, die sie brauchten.

Dave Holland rannte ihm auf dem Pfad entgegen, eindrucksvoll von den Scheinwerfern beleuchtet. Thorne konnte die Silhouette des Notizbuchs erkennen, das er in der Luft schwenkte. Er sieht gar nicht aus wie ein Polizist, dachte Thorne, eher wie ein Vertrauensschüler. Trotz der angedeuteten Bartstoppeln provozierten seine blonden Haare und die rötliche Gesichtsfarbe Bemerkungen wie: »Ach, die Polizisten sehen heute ja noch so jung aus.« Rentnerinnen himmelten ihn an. Hollands Vater war bei der Armee gewesen, und Thorne hatte die Erfahrung gemacht, dass dies selten ohne Probleme vonstatten ging. Holland bewegt sich nicht einmal wie ein Polizist, dachte er. Polizisten hüpfen einen Abhang nicht wie eine Bergziege hinunter. Polizisten bewegen sich wie ... Krankenwagen.

»Eine Tasse Tee, Sir?«

Okay, er war vielleicht etwas voreilig gewesen. Es gab immer Tee.

»Nein. Erzählen Sie mir was über den Zeugen.«

»Gut, aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen.«

Thorne stöhnte. Also kein Durchbruch.

»Wir haben eine vage Beschreibung des Täters.«

»Wie vage?«

»Größe, Statur, dunkler Wagen. Der Zeuge, George Harnmond ... «

Und schon wieder dieses verdammte Notizbuch. Am liebsten hätte er es diesem kleinen Mistkerl in den Arsch geschoben.

» ... befand sich oberhalb des Pfads, ungefähr hundert Meter die Hauptstraße hinauf. Er dachte, der Kerl würde einen Müllbeutel rüberschmeißen.«

»Und das war’s? Größe und Statur?«

»Über den Wagen gibt’s noch mehr. Angeblich war es ein »schöner« Wagen. Ein teurer.«

Thorne nickte langsam. Zeugen. Noch so eine Sache, mit der er sich abfinden musste. Selbst die guten lieferten widersprüchliche Berichte über dasselbe Ereignis.

»Mr. Hammond sieht nicht mehr so gut, Sir. Er ist ein alter Mann. Er war mit dem Hund spazieren. Er sitzt jetzt bei uns im Auto.«

»Moment mal, dieses Geländer ist einsachtzig hoch. Wie groß war der Mann nach Meinung des Zeugen?«

»Einsfünfundachtzig, einsneunzig. Das Mädchen ist nicht besonders groß, Sir.«

Thorne blinzelte ins Licht. »Gut, ich werde gleich mit dem optisch überforderten Mr. Hammond reden. Diese Sache werden wir auch noch überstehen.«

Phil Hendricks stand über die Leiche gebeugt, sein Pferdeschwanz steckte unter der grellgelben OP-Haube. Die forensischen Spezialisten hatten ihre Arbeit beendet; nun war Hendricks an der Reihe. Thorne beobachtete den allzu vertrauten Ablauf, bei dem der Pathologe die Temperatur maß und eine oberflächliche Untersuchung durchführte. Etwa jede Minute ging Hendricks in die Hocke und murmelte etwas in sein Diktiergerät. Wie immer wurden sämtliche Details vom Kameramann der Polizei unsterblich gemacht. Thorne wunderte sich stets über diese Leute. Einige von ihnen schienen sich einzubilden, Filmemacher zu sein — einmal hatte Thorne einen Kameramann angeblafft, weil der gerufen hatte: »Ich habe alles im Kasten.« Einige hatten so einen merkwürdigen Glanz in den Augen, als wollten sie sagen: »Du solltest mal zu mir nach Hause kommen und dir das Filmmaterial anschauen, das ich meinen Kumpels an Weihnachten zeige.« Thorne fragte sich, ob sie alle darauf warteten, von einer Fernsehgesellschaft entdeckt zu werden, die scharf auf Pseudodokumentarfilme war. Vielleicht war er zu hart — auch in Bezug auf Holland. Vielleicht waren es einfach die perfekt gebügelten Bundfaltenhosen, die er nicht mochte. Vielleicht war es auch nur, weil Holland als junger Polizist jedem gefallen wollte.

War er nicht selbst so gewesen? Vor fünfzehn Jahren auf seinem Weg ins Unglück?

Hendricks packte seine Instrumente ein und blickte zu Thorne in einer Art auf, wie er es schon bei vielen Gelegenheiten getan hatte. Pathologen waren angeblich kälter als alle anderen, doch trotz der schnoddrigen Art des Mannes, dem Näseln und dem schwarzen Humor wusste Thorne, was Hendricks fühlte. Er hatte oft genug gesehen, wie er in sein Bierglas geweint hatte.

»Er wird langsam leichtsinnig, wenn du mich fragst.« Hendricks spielte an einem seiner vielen Ohrringe. Acht waren es das letzte Mal, als Thorne sie gezählt hatte. Die dicken Brillengläser verliehen ihm etwas Gelehrtenhaftes, doch die Ohrringe, Tätowierungen und der Hang zu extravaganter Kopfbedeckung stuften ihn, gelinde gesagt, als unkonventionell ein. Thorne kannte den geselligen GruftiePathologen, der zehn Jahre jünger und außerordentlich tüchtig war, seit fünf Jahren. Thorne mochte ihn sehr.

»Ich frag dich nicht, aber danke für die Untersuchung.«

»Kein Wunder, dass du empfindlich reagierst, Kumpel. Zwei zu eins verloren im Heimspiel gegen Bradford?«

»Wurden richtig vorgeführt.«

»Klar!«

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den dunklen Nachthimmel hinauf, wo er den Großen Wagen erkannte. Er suchte immer nach ihm — es war die einzige Konstellation, die er vom Sehen her kannte. »Dann war er es also?«

»Bis zum Morgen weiß ich das sicher. Ich denke ja. Aber was macht sie hier? Das ist doch eine ziemlich belebte Straße. Man hätte ihn leicht sehen können.«

»Das wurde er auch. Leider nur von einer Blindschleiche. Allerdings glaube ich nicht, dass er sich lange hier aufgehalten hat.«

Hendricks trat zur Seite, sodass sich Thorne die Frau anschauen konnte, die in wenigen Stunden als Helen Theresa Doyle identifiziert werden würde. Sie war noch sehr jung, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Ihre Bluse war hochgerutscht und enthüllte einen gepiercten Bauchnabel. Sie trug große runde Ohrringe, und unter ihrem zerrissenen Rock zeigte sich am Beinansatz eine hässliche Wunde.

Hendricks schloss seine Tasche. »Ich glaube, die Wunde hat sie sich zugezogen, als der Mistkerl sie übers Geländer geworfen hat.«

Plötzlich nahm Thorne aus dem Augenwinkel etwas wahr, und er drehte den Kopf nach rechts. Ein paar Meter entfernt stand ein Fuchs. Ein Weibchen, vermutete er. Völlig reglos stand das Tier da und beobachtete das seltsame Geschehen. Die Menschen hielten sich in ihrem Revier auf. Thorne empfand einen plötzlichen Schmerz. Er hatte Bauern und Jäger darüber schimpfen gehört, mit welcher Grausamkeit diese Tiere beim Töten vorgingen, doch er bezweifelte, dass ein Wesen, das tötete, um sich und seine Nachkommen zu ernähren, dies mit Freuden tat. Oberhalb des Abhangs rief jemand. Der Fuchs wollte schon losspringen, entspannte sich aber wieder. Thorne konnte seinen Blick nicht von dem Tier abwenden. Eine halbe Minute verging, bevor der Fuchs am Boden schnüffelte und, nachdem seine Neugier befriedigt war, davontrottete.

Thorne blickte zu Hendricks. Auch er hatte den Fuchs beobachtet. Thorne atmete tief ein und wandte sich wieder dem Mädchen zu.

Gefühle, die miteinander in Widerstreit lagen.

Er empfang Abscheu beim Anblick der Leiche, Wut über die Verschwendung. Mitleid für die Angehörigen und Schrecken angesichts des Gedankens, dass er ihnen, ihrer Wut und ihrer Trauer gegenübertreten musste.

Aber er spürte auch, wie er innerlich zitterte.

Die Aufregung angesichts des Tatorts. Direkt vor ihren Augen lag vielleicht das, was ihre Ermittlungen in ungeahnte Bahnen lenken könnte. Es wartete nur darauf, es flehte geradezu, gefunden zu werden.

Wenn es hier wäre, würde er es finden.

Ihre Leiche ...

In ihren langen braunen Haaren hatten sich Blätter verfangen. Ihre Augen waren geöffnet. Thorne sah, dass sie eine hübsche Figur hatte, versuchte aber, den Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.

»Er hat sich doch vorher immer Zeit gelassen, oder?«, grübelte Hendricks. »Alles hübsch arrangiert. Sich die Mühe gemacht, sie hinzulegen, als hätte sie beim Fernsehen oder Kochen der Schlag getroffen. Diesmal hat er sich offenbar keine Mühe gegeben. Irgendwie scheint er in Eile gewesen zu sein.«

Thorne blickte ihn fragend an.

»Eine, höchstens zwei Stunden. Sie ist noch nicht einmal kalt.«

Thorne beugte sich nach unten und ergriff die Hand des Mädchens. Hendricks nahm die OP-Haube vom Kopf und zog sich die Gummihandschuhe aus. Als sich Thorne vorbeugte, um dem Mädchen die Augen zu schließen, dröhnte das Summen des Generators in seinem Kopf. Hendricks’ Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm durchzudringen.

»Ich kann immer noch das Karbol riechen.«

Anne Coburn saß in einem dunklen Zimmer, am Ende eines furchtbaren Arbeitstages, der laut Vorschrift schon drei Stunden zuvor hätte enden sollen. In den Zeitungen wurde ständig über die unzumutbaren Überstunden von Assistenzärzten berichtet, doch Stationsärzte hatten es weiß Gott auch nicht leicht. Ein Treffen mit dem Verwalter, das eine Stunde hätte dauern sollen, aber erst nach drei Stunden zu Ende gewesen war, hatte ihr Kopfschmerzen bereitet, die erst jetzt langsam nachließen. Zwei Vorlesungen, eine Visite, einen Streit mit dem Krankenhausverwalter und einen riesigen Papierberg hatten sie schon überlebt. Und David befand sich immer noch auf dem Kriegspfad ...

Sie lehnte sich zurück und massierte ihre Schläfen. Mein Gott, waren diese Stühle unbequem. Waren sie etwa mit Absicht so gemacht worden, damit Besucher schnell wieder verschwanden?

Wenn David noch zu Hause wohnen würde, hätte sie den Papierkram vielleicht liegen lassen, doch jetzt war das anders. Im Haus würde es ruhig sein. Rachel würde schon im Bett liegen und sich auf MTV irgendein ausgemergeltes Drogenopfer mit zu viel Eyeliner anschauen.

Eine Weile dachte sie über ihre Tochter nach.

In letzter Zeit waren sie nicht besonders gut miteinander ausgekommen. Die Abschlussprüfungen hatten sie beide zu sehr unter Stress gesetzt. Rachel ließ, nachdem sie sich derart abgerackert hatte, nur etwas Dampf ab, das war alles. Anne hatte sich entschlossen, ihr nach Bekanntgabe der Ergebnisse ein Geschenk zu kaufen — als Anerkennung für die harte Arbeit. Einen neuen Computer vielleicht. Jetzt überlegte sie stattdessen, ihn schon vorher zu kaufen.

Dann dachte sie an Tom Thorne.

Sie blickte zu den Blumen, die er mitgebracht hatte, und lächelte, als sie sich erinnerte, wie er sich bei Alison dafür entschuldigt hatte, dass er ... was für ein Wort hatte er verwendet? Genau, dass er gemüffelt hatte. Es war nicht schwer, ihn attraktiv zu finden. Vielleicht hatte sie ein paar Jahre mehr auf dem Buckel als er, aber instinktiv wusste sie, dass er nicht der Typ war, der sich darüber Gedanken machte. Er war stämmig. Nein ... stabil. Er sah aus, als sei er schon oft um die Häuser gezogen, und entsprach dem Typ Mann, von dem sie sich seit dem Zeitpunkt angezogen fühlte, ab dem die Geschichte mit David den Bach runterging — und das hatte schon vor vielen Jahren angefangen, wenn sie ehrlich war.

Es war komisch, dass Thorne auf der linken Seite mehr graue Haare hatte als rechts. Außerdem hatte sie braune Augen schon immer gemocht.

Anne war sich plötzlich bewusst, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. Die nächtlichen Gespräche mit Alison wurden zur Routine. Die Krankenschwestern waren es gewohnt, sie mitten in der Nacht plappernd anzutreffen. Mit der Zeit hatte sie sich immer mehr darauf gefreut, mit Alison zu reden. Die Beschäftigung mit Alisons Gehirn war wesentlicher Bestandteil der Behandlung, doch für Anne war es auch eine therapeutische Angelegenheit. Es war seltsam und aufregend, das eigene Seelenleben auszubreiten, ohne ... beurteilt zu werden. Es war eine Art Beichte. Nun, vielleicht wurde sie von Alison ja doch beurteilt. Möglicherweise dachte sie: »Vergiss den mürrischen Bullen! Angle dir einen jungen, knackigen Medizinstudenten!«

Eines Tages würde Anne genau herausfinden, was Alison dachte. Doch in diesem Moment wurde sie vom Summen der Maschinen ganz schläfrig. Sie erhob sich, griff zu einem Fläschchen und drückte vorsichtig die Befeuchtungstropfen in Alisons Augen. Dann zog sie ihre Jacke aus, knäulte sie zusammen und legte sie unter ihren Kopf, als sie sich wieder setzte. Mit geschlossenen Augen wünschte sie Alison eine gute Nacht und war sofort eingeschlafen.

Um halb acht am nächsten Morgen war die Leiche offiziell identifiziert. Helen Doyles Eltern hatten etwa zum selben Zeitpunkt gemeldet, dass ihre Tochter nicht nach Hause gekommen sei, als George Hammond zusah, wie sie über das Geländer in Queens Wood purzelte. Wenige Stunden nach diesem ersten besorgten Anruf lehnte Thorne an einer Wand und sah ihnen hinterher, wie sie langsam den Flur entlanggingen und das Leichenschauhaus verließen. Michael Doyle schluchzte. Seine Frau Eileen blickte starr geradeaus und drückte den Arm ihres Mannes. Sie gingen über die Steinstufen hinunter ins Freie, wo sie von dem strahlenden, frischen und völlig gewöhnlichen Morgen ihres ersten Tages ohne Tochter begrüßt wurden.

Jetzt lehnte Thorne an einer anderen Wand. Die tote Helen hatte ihren Platz neben den anderen eingenommen. Sie hatte noch nichts gesagt, aber das war nur eine Frage der Zeit. Etwa vierzig Beamte und weitere Hilfskräfte warteten darauf, dass Thorne zu ihnen sprach. Wie immer fühlte er sich wie der schlecht gekleidete stellvertretende Direktor einer heruntergekommenen Gesamtschule. Seine Zuhörer erzählten sich langweilige Witze oder machten zotige Bemerkungen. Die wenigen Frauen im Team saßen beisammen und ließen den Sexismus ihrer Kollegen an sich abprallen. Die Rauchschwaden von mehr als einem Dutzend Zigaretten sammelten sich unterhalb der Deckenbeleuchtung. Thorne hatte das Gefühl, als würde er noch immer ein Päckchen Zigaretten am Tag rauchen.

»Die Leiche von Helen Doyle wurde heute Morgen kurz nach halb zwei in Queens Wood in Highgate entdeckt. Sie wurde das letzte Mal gesehen, als sie das Marlborough Arms auf der Holloway Road um dreiundzwanzig Uhr fünfzehn verließ. Die Autopsie wird heute Vormittag durchgeführt, aber bis jetzt gehen wir von der Annahme aus, dass sie von demselben Mann getötet wurde, der für den Tod von Christine Owen, Madeleine Vickery und Susan Carlish verantwortlich ist ... «

Die toten Mädchen: »Oh, komm schon, Tom, du weißt, dass er es war.«

» ... ebenso wie für den versuchten Mord an Alison Willetts.«

Aber es war doch gar kein versuchter Mord, oder? Der Mörder versuchte eigentlich, etwas ganz anderes zu erreichen. Thorne wusste nicht, welches Wort er dafür verwenden sollte. Möglicherweise musste man erst eins erfinden, falls man diesen Kerl jemals schnappen sollte. Er räusperte sich und fuhr fort:

»George Hammond, der die Leiche entdeckte, gab uns eine vage Beschreibung des Mannes, der die Leiche aus seinem Wagen gezogen und übers Geländer geworfen hat. Einsfünfundachtzig bis einsachtundachtzig, mittlere Statur. Wahrscheinlich dunkles Haar. Vielleicht Brille. Bei dem Auto handelt es sich um eine blaue oder vielleicht schwarze Limousine, Fabrikat und Modell sind unklar. Das Opfer wurde irgendwo auf dem nur wenige hundert Meter langen Weg von dem Pub nach Hause in der Windsor Road entführt. Und zwar etwa zwischen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn und dreiundzwanzig Uhr dreißig. Niemand hat gemeldet, dass er irgendetwas gesehen hätte, aber jemand muss etwas gesehen haben. Diese Leute hätte ich gerne. Damit haben wir also ein Auto und eine bescheidene Beschreibung ... «

Thorne schwieg. Er sah, wie sich einige Beamte anblickten. Er hatte weniger als eine Minute gebraucht, um die dürftigen Einzelheiten mitzuteilen, mit denen die Fahndung vorangetrieben werden sollte.

Frank Keable erhob sich. »Ich brauche es Ihnen ja eigentlich nicht zu sagen, aber es gilt die übliche Nachrichtensperre.« Die Medien hatten von den Morden noch nichts mitbekommen, jedenfalls nicht als Tat eines einzigen Mannes. Der Umstand, dass sich die Morde nicht auf einen Stadtteil beschränkten und so gut getarnt gewesen waren, hatte es ihnen schwer gemacht. Schließlich hatte die Polizei selbst lange gebraucht, um eins und eins zusammenzuzählen. Dennoch war Thorne überrascht: Backhand lief mittlerweile seit Wochen, und in der Regel verfügte die Presse stets über irgendwelche Quellen. Mit der Zeit würde es ein Leck geben, und dann würde es darum gehen, wer den Schwarzen Peter zugeschoben bekam. Die Boulevardpresse würde einen grässlichen Spitznamen für den Mörder erfinden, öffentlichkeitshungrige Politiker würden nach Recht und Ordnung schreien, und Keable würde Thorne einen Vortrag darüber halten, unter welchem Druck sie stünden.

Keable nickte in Thornes Richtung. Er durfte weiterreden. »Helen Doyle war achtzehn Jahre alt ... « Wieder hielt er inne und blickte zu seinen Kollegen, die angewidert nickten. Er hatte die Pause nicht eingelegt, um Wirkung zu erzielen.Er spürte, wie sich der Knoten in seinem Magen zusammenzog.

Helen war nicht viel älter als Calverts Älteste.

»Anders als die übrigen Opfer war sie nicht bei sich zu Hause überfallen worden. Wir können davon ausgehen, dass er es nicht auf der Straße getan hat, und die Art des Mordes lässt darauf schließen, dass er es auch im Auto nicht tun konnte. Wohin hat er sie also gebracht?« Thorne redete noch eine Weile weiter. Das Übliche. Man wartete noch auf den Bericht der Gerichtsmediziner. Dies könnte der Durchbruch sein. Es war Zeit, die Finger auszustrecken. Sie würden ihn schnappen. Los, Jungs ...

Die Befragung der Nachbarn wurde aufgeteilt, und es wurde von einer Fernseh-Rekonstruktion gesprochen. Dann wurden die Stühle zurückgeschoben und Sandwichs bestellt. Frank Keable wurde ins Büro des Detective Superintendents zitiert.

»Wozu denn das? Er weiß doch, dass ich ihm bis heute Nachmittag absolut nichts zu berichten habe.«

»Vielleicht will er ja nur mit Ihnen frühstücken. Dabei haben Sie es doch schon hinter sich.« Thorne zeigte auf den Ketchupfleck auf Keables Hemd.

»Scheiße.« Er spuckte auf seinen Finger und versuchte, den leuchtend roten Fleck herauszureiben.

»Er hat die Sache von heute Nacht wieder vermasselt, und das gefällt ihm überhaupt nicht«, sagte Thorne.

Keable blickte, immer noch an dem Fleck reibend, zu ihm auf, griff in seine Hosentasche und zog ein Taschentuch heraus.

»Die Art, wie er das Mädchen abgeladen hat — er wollte sie nur schnell loswerden, Frank. Er dachte, nach Alison hätte er den Bogen raus, und als er die Sache erneut vermasselt hat, war er total genervt. Er wird ungeduldig. Und er wird leichtsinnig. Er ist ein großes Risiko eingegangen, indem er sich Helen Doyle einfach von der Straße weggeschnappt hat. Diese Frauen, diese Mädchen — sie sind nur Körper für ihn, ob tot oder lebendig. Er führt an ihnen nur ein Verfahren durch, und ich glaube, dass er ihnen die Schuld gibt, wenn es nicht klappt. Es wird keine richtige Gewalt ausgeübt, aber er ist wütend.«

»Wenn er es so eilig hat, sie loszuwerden, warum wäscht er sie dann so gründlich?«

»Ich weiß nicht. Es ist ... medizinisch.«

»Vielleicht desinfiziert sich der Mistkerl sogar vorher die Hände«, schnaubte Keable.

»Jedenfalls kommt uns diese Entwicklung entgegen, Tom. Wenn er ungeduldig oder leichtsinnig wird, ist es viel wahrscheinlicher, dass er einen Fehler macht und uns das gibt, was wir brauchen, um ihn zu schnappen.«

»Oder er tötet einfach schneller. Es sind zweiundzwanzig Tage vergangen, seit Alison Willetts überfallen wurde. Susan Carlish war sechs Wochen davor an der Reihe ... «

Keable strich sich über den Kopf. »Ich weiß, Tom.« Es war ein Hinweis auf seine Tüchtigkeit und Kompetenz, doch Thorne sah darin etwas anderes: einen leisen Befehl, sich zu beruhigen. Eine Warnung. Schon oft hatte er einen flüchtigen Blick erhaschen können, was sich hinter einer freundlichen Frage oder einem besorgten Blick in Wirklichkeit verbarg. Besonders häufig hatte er ihn gesehen, wenn es einen Verdächtigen gab. Irgendeinen. Dieser Blick brannte in seiner Seele, aber er verstand ihn. Der Fall Calvert war Teil einer gemeinsamen Geschichte. Eine Schuld, die sie in irgendeiner Weise alle geerbt hatten. Doch er hatte in dieser Geschichte mitgespielt, nicht die anderen. Er war mittendrin gewesen.

Keable drehte sich um und ging zum Fahrstuhl. Ein Wagen würde unten warten und ihn zu seinem Treffen fahren. Er drückte den Knopf und wandte sich wieder in Thornes Richtung. »Geben Sie mir Bescheid, sobald sich Hendricks meldet.«

Thorne blickte Keable hinterher, als er in den Fahrstuhl stieg, und beide überbrückten die fünfzehn Sekunden, bis die Türen sich schlossen, mit einem Achselzucken. Keable würde dem Chief Superintendent erzählen, dass die Möglichkeit für einen Durchbruch bestand, während sie auf die Testergebnisse warteten. Jemand musste gesehen haben, wie der Mörder das Mädchen aufgegabelt hatte.

Thorne fragte sich, ob sie das Thema anschneiden würden, das in der Luft schwebte, seit er den Brief an seinem Auto gefunden hatte. Es könnte bedeuten: »Kommt und holt mich.« Der Mörder gab sich jedenfalls keine Mühe mehr, zu verbergen, was er tat, weil er wusste, dass man hinter ihm her war. Wenn die Tatsache, dass die Polizei die Zusammenhänge erkannt hatte, den Mörder unvorsichtig werden ließ, war Thorne froh darüber. Worüber er sich wirklich Gedanken machte, war die Art, wie er es tat.

Der Kuss des Sandmanns

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