Читать книгу Der Kuss des Sandmanns - Mark Billingham - Страница 15
ОглавлениеFünf
Thorne saß auf Tughans Schreibtisch im Großraumbüro der Einsatzzentrale. Während Tughan die Maus bewegte und seine Finger über die Tastatur flogen, konnte Thorne förmlich sehen, wie der Rücken des Iren steif wurde. Er wusste, dass er sich über ihn ärgerte.
»Hast du nichts zu tun, Tom?«
Phil Hendricks hatte die Nacht durchgearbeitet, und noch bevor Keable sich mit seinem Chef zu einem zweiten Frühstück mit Kaffee und Croissants zusammengesetzt hatte, hatte Thorne die gewünschten Informationen erhalten. Helen Doyle war mit Midazolam zugedröhnt worden und infolge eines Gehirnschlags gestorben. Trotz des Fundorts der Leiche und der veränderten Vorgehensweise des Mörders gab es keinen Zweifel, dass Helen das fünfte Opfer desselben Mannes war. Das war so ziemlich alles, was sie wussten, abgesehen davon, dass die Gerichtsmediziner einige Fasern an Helen Doyles Rock und Bluse gefunden hatten. Thorne setzte sich sogleich ans Telefon.
»Gibt’s irgendwelche Informationen über diese Fasern?«
»Nun, es sind Teppichfasern, vielleicht vom Boden des Wagens.«
»Kannst du den Typ bestimmen?«
»Was glaubst du, wo wir hier sind? In Quantico?«
»Wo?«
»Vergiss es. Wir arbeiten dran. Treib uns lieber den passenden Boden dazu auf ... «
Die veränderte Vorgehensweise des Mörders beschäftigte Thorne, doch es blieben dieselben Fragen, die beantwortet werden mussten. Wie hatte er die Frauen so weit gebracht, dass sie ihn mit zu sich nach Hause nahmen oder, wie in Helen Doyles Fall, zu ihm ins Auto stiegen? Helen Doyle wies ebenso wenig wie Alison Willetts und Susan Carlish äußere Verletzungen auf und war ebenfalls voll gepumpt mit Alkohol und einem Benodiazepin. Aber wie kam das? Hatte der Mörder Helen den ganzen Abend über beobachtet und etwas in ihr Getränk geschüttet, bevor sie den Pub verlassen hatte? Das wäre schwierig gewesen — sie war mit ein paar Freundinnen unterwegs gewesen, und außerdem wäre es fast unmöglich gewesen, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Woher hätte er so genau wissen sollen, wann das Medikament wirkt? Eine bessere Theorie hatte Thorne nicht, sodass er so viele Zeugen wie möglich finden musste, die zu besagtem Zeitpunkt im Marlborough Arms gewesen waren. Das hieß, dass nicht nur Helens Heimweg überprüft werden, sondern dass Frank Keable so viele Mitarbeiter wie möglich auftreiben musste. Thorne hoffte, jemanden zu finden, der Helen nach Verlassen des Pubs gesehen hatte.
»Gibt es etwas, womit ich dir helfen kann?«
Tughan lächelte, doch seine Augen sahen aus wie eingelegte Zwiebeln. Er war gertenschlank, hoch intelligent und seine Stimme konnte sich wie ein Skalpell durch den Lärm in der Einsatzzentrale schneiden. Thorne stellte sich immer Tughans schmale Lippen vor, die in die Sprechmuschel flüsterten, wenn irgendein Wahnsinniger Scotland Yard mit einer codierten Warnung behelligte. Es war nicht so, dass Thorne nicht schätzte, wozu Tughan fähig war oder was er zu den Ermittlungen beitrug — Thorne hatte einfach nur seine eigene Art, sich mit einem Fall zu beschäftigen, und er konnte ums Verrecken nicht tippen und hatte immer das Gefühl, von den Bildschirmschonern hypnotisiert zu werden. Wenn neue Beweise gefunden wurden, war Tughan der Mann, der ihnen mit seinen Vergleichs- und Ordnersuchprogrammen einen Sinn gab. Thorne wusste, dass Calvert sein Verbrechen nicht hätte begehen können, wenn es schon vor fünfzehn Jahren statt der tausend Aktenordner einen Nick Tughan und statt des antiquierten Karteikartensystems ein Holmes-Computersystem gegeben hätte.
»Hey, Tommy, scheiß auf den Fall Calvert, was ist mit unserem Fall!«
»Tom?«
»Genau ... tut mir Leid, Nick. Hast du eine Kopie von den Leicester/London-Treffern parat?«
Tughan brummte, blätterte am Bildschirm und klickte zweimal. Der Drucker am anderen Ende des Büros surrte los. Thorne hatte eigentlich gehofft, dass Tughan schon einen Ausdruck bereitliegen hatte. Es wäre einfacher gewesen, zu seinem eigenen Goldfischglas hinüberzugehen und die Kopie von seinem Schreibtisch zu holen, doch er wollte Tughan den kleinen Triumph in Sachen Effizienz nicht missgönnen. Schließlich missgönnte er ihm sonst alles, ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte.
Thorne blickte auf die Liste. Ein halbes Dutzend Ärzte, die im Leicester Royal Infirmary zu dem Zeitpunkt turnusmäßig gewechselt hatten, als das Midazolam geklaut worden war, arbeiteten jetzt in Londoner Krankenhäusern. Anne Coburns Aussage hatte jeglichen Enthusiasmus gedämpft, der in diese Richtung der Nachforschungen geführt hätte, und die Entdeckung von Helen Doyles Leiche hatte mit Recht alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, doch Thorne hatte immer noch das Gefühl, dass diese Liste wichtig sein könnte. Das Datum des Midazolam-Diebstahls ließ sich auch genauso gut andersherum deuten. Könnte nicht der Mörder (wenn es tatsächlich der Mörder gewesen war) dieses Datum gewählt haben, damit es so aussah, als hätte er auch von woandersher kommen können, obwohl er tatsächlich zu dem Zeitpunkt im Krankenhaus beschäftigt gewesen war?
Außerdem arbeiteten sie sich immer noch durch die weitaus längere Liste der Ärzte, die zum fraglichen Zeitpunkt in den anderen örtlichen Krankenhäusern turnusmäßig gewechselt hatten.
Jeremy Bishops Name war der zweite auf der Liste.
Thorne bemerkte das, was nur als einfältiges Grinsen auf Hollands Gesicht beschrieben werden konnte, als sie im Fahrstuhl zum Parkplatz hinunterfuhren. »Ist er nicht der Freund von Dr. Coburn?«
»Sie kennt ihn, ja. Und sein Alibi ist theoretisch wasserdicht, ja.«
Jeremy Bishop war der Arzt, der Alison Willetts bei ihrer Einlieferung in der Notaufnahme behandelt hatte.
»Aber Alison wurde aus einem bestimmten Grund ins Royal London eingeliefert«, erklärte Thorne, als würde er mit einem Kind sprechen. »Ich möchte genau überprüfen, wann Bishop seinen Dienst angetreten hat und wann sie eingeliefert wurde.«
Holland grinste weiterhin. Er wusste über Thornes Besuch am Queen Square Bescheid. Aber nicht, ob er Alison Willetts oder die behandelnde Ärztin besuchte. Er war sich sehr wohl bewusst, dass sich die Sache mit Bishop mit einem Anruf erledigen lassen könnte.
Thorne fühlte sich nicht veranlasst, Holland gegenüber eine Erklärung abzugeben. Als sie im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl stiegen und zum Auto gingen, versuchte er, sich zu überzeugen, dass Bishops Freundschaft mit Anne Coburn, über die er mehr nachdachte, als er sollte, nicht der Hauptgrund war, warum er Bishop bezüglich der Ermittlungen so schnell wie möglich abhaken wollte.
Während er sein spätes Frühstück verdrückte, dachte er darüber nach, wie müde Thorne um acht Uhr an diesem Morgen ausgesehen hatte, als er zur Arbeit gekommen war. Er hatte von dem schmierigen Schnellimbiss gegenüber beobachtet, wie Thorne sich einen Augenblick gegen sein Auto gelehnt hatte, bevor er schwerfällig zur Tür gestapft war. Es hatte ihn gefreut, dass Thorne an dem Fall arbeitete. Er hatte Thorne nicht als schwerfälligen Typ eingeschätzt. Thorne, so dachte er, war hartnäckig eigensinnig und fast schon zu clever. Dies waren Eigenschaften, die er benötigte. Alles in allem war Thorne perfekt. Aber es hatte ihm Sorgen gemacht, dass Thorne so fertig ausgesehen hatte. Er hoffte, dass die Müdigkeit nur physischer Natur und der Detective Inspector nicht ausgebrannt war. Sie hatten das Mädchen schnell gefunden. Er war beeindruckt. Deswegen hatte Thorne eine harte Nacht hinter sich. Er auch.
Eins zu fünf. Von fünfundzwanzig auf zwanzig Prozent abgerutscht. Er hatte den notwendigen Telefonanruf erledigt und sich dann seiner Aufgabe gewidmet, aber innerhalb einer Minute war klar gewesen, dass sie ihn im Stich lassen würde. Diese betrunkene, dumme Ziege. Sein Herz war wegen der bevorstehenden eiligen Fahrt ins Krankenhaus, um die Nächste an die Geräte anschließen zu lassen, gerast, dann aber rasch wieder in seinen üblichen gleichmäßigen Takt verfallen. Ihr nutzloses, mit Cholesterin voll gepumptes Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Was für eine Gelegenheit er ihr geboten hatte! Aber sie hatte ihr trauriges, dummes kleines Leben verebben lassen. Oh, mit ziemlicher Sicherheit war er dabei beobachtet worden, wie er sich dieses Mädchens entledigt hatte. Es würde bereits irgendeine Beschreibung geben. Vielleicht hatte man sogar das Auto gesehen. Umso besser.
Er kaute auf seinem Toast und blickte aus dem Fenster quer über London. Der Nebel hob sich bereits, und es würde wieder herrliches Wetter geben. Helen war so leicht vorzubereiten gewesen wie die anderen. Leichter sogar. Er wurde dabei immer besser. Zuvor hatte es ein paar verheerende Versuche gegeben, doch jetzt ging er entspannter an die Sache ran.
Christine und Madeleine waren am Anfang vorsichtig gewesen. Sie hatten ihn nur widerwillig eintreten lassen, doch sie waren einsame Frauen gewesen, und er war ein attraktiver Mann. Sie wollten reden. Und mehr. Und er war sehr überzeugend. Susan und Alison hatten ihn beinahe sofort hereingebeten und sich in Vergessenheit getrunken. Sprichwörtlich. Der Champagner war eine geniale Idee. Er hatte zuerst an eine Spritze gedacht, aber das wäre ein Chaos geworden, und er wollte keinen Kampf. Die Wartezeit war beim Champagner natürlich etwas länger, aber ihm gefiel es, wenn sie langsam wegsackten. Er genoss es schon im Voraus, wie dehnbar sie gleich sein würden. Die andere — er hatte nicht einmal Zeit gehabt, ihren Namen herauszufinden — hatte das Zeug förmlich hintergestürzt. Aber dann hatte er gehen müssen, weil er das mit der zeitlichen Abstimmung nicht auf die Reihe bekommen hatte. Aber er war sicher, dass sie nichts über den Vorfall erzählt hatte. Es wäre bestimmt schwer für sie gewesen, ihrem Mann, ihrem Freund oder ihrer Freundin zu erklären, warum sie so fertig war. Mit Sicherheit hätte sie nicht erwähnt, dass sie einen Fremden in die Wohnung gelassen hatte.
Es war eine Erleichterung gewesen, mit Helen bei sich zu Hause zu arbeiten. Er hatte es gehasst, ihnen etwas vorzumachen und in diese trostlosen Wohnungen zu schleichen. Es war ihm zuwider gewesen, die Seifenstücke und Pillendosen in diesen kleinen, schmierigen Badezimmern zu lassen. Aufgerollte Strumpfhosen und Klopapier in der Toilettenschüssel. Er hasste es, sie anzufassen. Am Kopf. Auch durch die Handschuhe hindurch spürte er den Dreck und das Fett in ihren Haaren. Er hätte schwören können, dass er sogar spürte, wie sich etwas ... bewegte. Doch nun konnte er in einer sauberen, bequemen Umgebung arbeiten. Jetzt wusste er, dass sie wussten, dass er wusste, dass ...
Er pfiff eine erfundene Melodie, während er versuchte wach zu bleiben. Thorne war nicht der Einzige, der die Anstrengungen spürte. Er brauchte noch einen Kaffee. Einen Augenblick lang schloss er die Augen und dachte an Alison. Sie hatte ihn nicht im Stich gelassen. Sie wollte leben. Er dachte darüber nach, sie noch einmal zu besuchen, doch vielleicht war das ein wenig riskant. Die Sicherheitsvorkehrungen im Krankenhaus waren ziemlich verschärft worden. Die Überschwemmung war eine geniale Idee gewesen, die er aber nur einmal umsetzen konnte. Langsam verschwammen seine Gedanken. Ja, er musste sich etwas anderes ausdenken, wenn er Alison ein zweites Mal besuchen wollte, ohne erwischt zu werden.
Ohne auf Anne Coburn zu stoßen.
»Haben Sie Schmerzen, Alison?« Dr. Anne Coburn und Steve Clark blickten aufmerksam in das blasse, friedliche Gesicht. Sie erhielten keine Reaktion. Anne versuchte es erneut. »Blinzeln Sie einmal für Ja, Alison.« Nach einem kurzen Moment bemerkten sie eine winzige Bewegung — ein angedeutetes Zucken um Alisons linkes Auge. Anne schaute hinüber zu dem Beschäftigungstherapeuten, der sich Notizen auf seinem Klemmbrett machte und ihr zunickte. Sie fuhr fort. »Ja, Sie haben Schmerzen? War das ein Ja, Alison?« Nichts. »Alison?« Steve Clark legte seinen Stift zur Seite. Alisons linkes Augenlid flatterte dreimal schnell hintereinander. »Gut, Alison.«
»Vielleicht ist sie einfach nur müde, Anne. Ich bin sicher, dass Sie Recht haben. Es kommt nur darauf an, dass sie genügend Kontrolle über sich erhält.«
Anne Coburn arbeitete oft mit Steve Clark zusammen, ein hervorragender Therapeut und netter Mann, aber er konnte nicht besonders gut lügen. Er war ganz und gar nicht überzeugt. Aber Anne Coburn war es. »Ich komme mir vor wie jemand, der den Fernsehmonteur geholt hat, und dann ist nichts kaputt, nur andersrum ... oh, Mist, Sie wissen, was ich meine, Steve.«
»Ich glaube einfach, dass Sie etwas zu voreilig sind.«
»Ich folge nur zuverlässigen Richtlinien, Steve. Das Elektroenzephalogramm zeigt normale Gehirnaktivität.«
»Niemand bestreitet das, aber das heißt doch nicht, dass sie fähig ist zu kommunizieren. Ich stimme zu, dass sie ihr Lid bewegt hat, aber ich habe nichts gesehen, was mich überzeugt, dass es gewollt war.«
»Aber ich stehe damit doch nicht allein, Steve. Sie können mit dem Pflegepersonal sprechen. Ich bin sicher, sie ist bereit zu kommunizieren.«
»Sie könnte bereit sein —«
»Und fähig dazu. Ich habe es gesehen. Sie hat mir gezeigt, dass sie Schmerzen hat, dass sie müde war. Sie grüßt mich, Steve.«
Clark öffnete die Tür. »Vielleicht fühlt sie sich nicht wohl unter diesem Druck, etwas vorführen zu müssen — wie im Theater.«
Später, wenn sie sich beruhigt haben würde, würde sie merken, dass er einfach nur Anteilnahme zeigen wollte. Doch im Moment war sie wütend und frustriert — wegen sich selbst und wegen Alison. »Weder ist sie jemand, der anderen etwas vorführen will, noch hat das etwas mit Theater zu tun.«
Als Holland mit dem offenen Rover in die ruhige, von Bäumen gesäumte Straße in Battersea einbog, überfuhr er die heimtückische Schwelle gerade so schnell, dass der Wagen mit der Unterseite aufsetzte und sein Chef auf rüde Weise geweckt wurde.
»Jesus, Holland ... «
»Tut mir Leid, Sir ... «
»Ich weiß, dass es nur ein Dienstwagen ist, aber ich muss doch sehr bitten!«
Die Sonne blendete, und Thorne spürte jede einzelne der achtundzwanzig Stunden, die er seit dem Aufwachen hinter sich gebracht hatte. Holland hielt sogar die Wagentür für ihn auf! Thorne spürte, dass er dies nicht so sehr aus Achtung vor seinem Vorgesetzten tat, sondern weil sich die fünfzehn Jahre Altersunterschied langsam bemerkbar machten.
Jeremy Bishop wohnte in einem vornehmen dreistöckigen Haus mit einem kleinen, aber gepflegten Vorgarten. Vermutlich vier Schlafzimmer. Vermutlich geschmackvoll eingerichtet, dachte Thorne, und voll gestopft mit dem, was Immobilienmakler als »Stilmöbel« bezeichnen würden. Vermutlich läppische fünfhunderttausend Pfund wert. Und auf dem Parkplatz davor ein hübscher Volvo. Offenbar hatte Bishop zumindest keine Geldsorgen.
Holland drückte auf die Klingel, während Thorne zu den Fenstern hinaufblickte. Die Vorhänge waren zugezogen. Nach ungefähr einer Minute wurde die Tür geöffnet. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, wurden sie von dem verschlafen wirkenden Jeremy Bishop hereingebeten.
Während Holland mit seinem Notizbuch bereitstand, ließ sich Thorne in einen Sessel fallen, sagte dankbar Ja zu einer Tasse Kaffee und zermarterte sich das Gehirn, warum ihm Jeremy Bishop so vertraut vorkam. Er war, wie Thorne vermutete, Mitte bis Ende vierzig und sah trotz der Bartstoppeln und der Ringe unter den Augen zehn Jahre jünger aus. Er war groß, mindestens einsachtundachtzig, und er erinnerte Thorne an Dr. Richard Kimble, der in Auf der Flucht von Harrison Ford gespielt wurde. Sein kurzes Haar war schon ziemlich grau, doch zusammen mit der schicken Brille diente es nur dazu, ihn »vornehm« aussehen zu lassen. Thorne war konsterniert — seine eigenen grauen Haare machten ihn einfach nur »alt«. Zweifellos spielte Bishop in der Fantasie der Schwesternschülerinnen regelmäßig eine große Rolle — »Aber Herr Doktor, hier im Desinfektionsraum? « Er dachte an Anne Coburn, versuchte aber, das Bild zu vermeiden, wie sie sich im Waschraum auszog. Waren Ärztinnen eigentlich nicht immer hässlich? Er erinnerte sich an die widerliche Krankenhausärztin, zu der er als Kind gezerrt worden war, ein altes Weib mit Männerhaarschnitt und Schnurrbart, die nach Käse gerochen und immer eine Craven A im Mundwinkel hängen hatte, wenn sie mit osteuropäischem Akzent unverständliches Zeug vor sich hin brummelte. Bei Jeremy Bishop bestand diesbezüglich keine Gefahr. Seine wohlklingende Stimme würde einen durchdrehenden Epileptiker in null Komma nichts beruhigen.
»Ich nehme an, Sie kommen wegen Alison Willetts«, sagte er.
Holland blickte zu Thorne, der an seinem Kaffee nippte. Sollte doch der Constable die Sache in die Hand nehmen.
»Und warum nehmen Sie das an, Sir?«
Thorne blickte Holland durch die Dampfwolke an, die seiner Kaffeetasse entstieg. Netter Anfang: Sarkasmus, Dominanz und ein Anflug von Aggression. Ermöglicht dem Gegenüber, sich gleich wohl zu fühlen.
Bishop ließ das kalt. »Alison Willetts wurde überfallen und schwer verletzt. Ich habe sie behandelt, und man schickt doch keine Detective Inspectors vorbei, wenn man seine Strafzettel wegen Falschparkens nicht bezahlt hat.« Er lächelte Holland zu, der daraufhin zum zweiten Punkt seiner selbst gebastelten Anleitung für Verhöre überging.
»Wir ermitteln in einem sehr ernsten Fall, der —«
»Hat er es wieder getan?«
Thorne spuckte beinahe seinen Kaffee aus, während er sich kerzengerade aufsetzte. Holland schaute völlig verdutzt zu ihm hinüber. Bishops Vergnügen beim Anblick von Hollands Gesicht entging Thorne nicht. Er vermutete, dass Bishop diesen Blick schon oft bemerkt hatte, wenn ein Assistenzarzt plötzlich unsicher wurde und bei seinem Vorgesetzten Bestätigung oder vorzugsweise praktische Hilfe suchte. Thorne entschied, dass die direkte Vorgehensweise die beste war. »Was wieder getan, Sir?«
»Es tut mir Leid, wenn Sie erwartet haben, dass ich von den anderen Opfern nichts weiß. Mir wurde erzählt, es habe weitere Überfälle gegeben. Anne Coburn und ich sind alte Freunde, Inspector, wie Sie mit Sicherheit wissen.«
Thorne wusste jedenfalls, dass trotz Frank Keables Bemühungen der Deckel nicht lange auf diesem Fall bleiben würde. Nicht dass er jemals darüber nachgedacht hätte, ob Fälle einen Deckel haben könnten ... Töpfe hatten Deckel ... Fälle konnten ... was? Abgeschlossen werden? Na ja, sie konnten nur offen oder abgeschlossen sein. Obwohl ... gab es einen Fall, der offen und doch abgeschlossen sein konnte? Mein Gott, war er müde ...
»Es tut mir Leid, wenn wir Sie aus dem Bett geholt haben, Sir.«
Bishop breitete die Arme über die Rückenlehne des Sofas. »Na, ich sehe wohl genauso mitgenommen aus wie Sie, Inspector.« Thorne hob eine Augenbraue. »Ich habe viel Zeit mit Menschen verbracht, die aus dem einen oder anderen Grund nur wenig Schlaf bekommen. Die Augen verraten es sofort. Ich hatte die ganze Nacht Bereitschaftsdienst. Was ist Ihre Entschuldigung?« Sein Lachen bewegte sich irgendwo zwischen Glucksen und Prusten.
Thorne lachte ebenfalls und gähnte ausgiebig. »Eine ... arbeitsreiche Nacht. Was ist mit Ihnen, Sir?«
Bishop blickte ihn an. »Oh ... nein, nicht wirklich. Bin etwa um drei ins Krankenhaus, um jemanden mit einer Überdosis zu behandeln, und etwa um halb sechs zurückgekommen. Doch selbst wenn kein Notruf kommt, ist es schwer, sich zu entspannen, wenn man dauernd auf den Piepser guckt. Gott sei Dank gibt es Kabelfernsehen.«
»Gab´s was Gutes?«
»Leider bin ich ein unverbesserlicher Zapper. Ein paar alte Seifenopern, der übliche Schwarzweißfilm und ein bisschen Schmuddelkram.« Er blickte auf und grinste ungläubig zu Holland. »Schreiben Sie das tatsächlich alles auf, Constable?«
Thorne hatte sich das Gleiche gefragt. »Nur die Sache mit dem Schmuddelkram. Detective Constable Holland vermisst in seinem Leben die Aufregung.« Thorne war erstaunt, dass Holland tatsächlich rot wurde.
Bishop stand auf und streckte sich. »Ich werde mir noch einen Kaffee holen. Will sonst noch jemand?«
Thorne folgte ihm in die Küche und fragte: »Um wie viel Uhr fuhren Sie damals ins Krankenhaus, als Alison Willetts eingeliefert wurde?«
»Ich wurde etwa um drei Uhr angepiepst, glaube ich. Einmal Zucker, oder?« Thorne nickte und wartete, dass Bishop fortfuhr. »Die Patientin wurde draußen vor dem Liefereingang gefunden ... ich bin sicher, das wissen Sie alles ... und direkt in die Notaufnahme gebracht.«
»Haben Sie sich telefonisch gemeldet, als Sie angepiepst wurden?«
»War nicht nötig. Die Nachricht lautete »Alarmstufe rot«. Dann fährt man direkt hin. Manchmal bekommt man eine Durchwahl, bei der man anrufen soll, doch bei Alarmstufe rot steigt man einfach in den Wagen.«
»Und als Alison Willetts eingeliefert wurde, waren Sie der erste Arzt, der sie behandelte?«
»Genau. Ich habe ihre Pupillen überprüft — sie reagierten. Ich habe sie künstlich beatmet, ihr einen Schlauch gelegt, Midazolam, um sie zu sedieren, und eine Computertomographie ihres Kopfes sowie ein Elektrokardiogramm angeordnet. Dann habe ich den Fall dem Assistenzarzt übergeben.« Bishop nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Entschuldigen Sie, ich muss mich anhören wie in einer Folge aus Casualty.«
Thorne lächelte. »Eher wie aus Emergency Room. In Casualty trinken sie normalerweise gesüßten Tee und nehmen ein paar Aspirin.«
Bishop lachte. »Genau. Und das Pflegepersonal ist nicht so attraktiv.«
»Wenn Sie also um drei Uhr angepiepst wurden, dann waren Sie, sagen wir, um halb vier dort?«
»Ja, so ungefähr, glaube ich.«
»Und eingeliefert wurde Alison, die Patientin, um etwa Viertel vor ...?« Bishop trank und nickte. »Warum wurden Sie überhaupt angepiepst?«
»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, tut mir Leid. Es ist nicht unüblich. Manchmal verbringt man Ewigkeiten damit, herauszufinden, warum man gerufen wurde. Ich bin schon früher angepiepst worden, als man mich nicht hätte anpiepsen sollen. Was diese spezielle Nacht betrifft, habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht. Ich meine, wenn ich genau gewusst hätte, was passiert war — oder vielmehr, was wir später herausfinden würden —, hätte ich besser auf die zeitliche Abfolge geachtet. Zu dem Zeitpunkt war es nur ein routinemäßiger Notfall. Tut mir Leid.«
Thorne stellte seine Kaffeetasse ab. »Keine Sorge, Sir. Ich bin sicher, wir finden das heraus.«
Bishop griff lächelnd nach Thornes Tasse, goss den restlichen Kaffee ins Spülbecken und öffnete die Tür der Spülmaschine. »Warum ich am Dienstag vor vier Wochen angepiepst wurde? Viel Glück, Inspector.«
Während sich der Wagen langsam durch den Verkehr auf der Albert Bridge schob, zog es Holland vor, seinem Vorgesetzten nicht die vielen Fragen zu stellen, die ihm auf dem Herzen lagen. Warum sind wir nur den ganzen Weg dorthin gefahren? Glauben Sie, Jeremy Bishop treibt es mit Anne Coburn? Warum nehmen Sie mich dauernd auf den Arm? Warum glauben Sie, dass Sie so viel besser sind als alle anderen?
Er blickte zu Thorne, der mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz saß. Er war hellwach.
Thorne sagte nur einmal etwas zu Holland — dass sie noch nicht ins Büro zurückkehren würden. Ohne die Augen zu öffnen, wies er ihn an, nach rechts abzubiegen und entlang des Flusses in Richtung Whitechapel zu fahren. Sie würden zuerst im Royal London Hospital überprüfen, wie hieb- und stichfest Jeremy Bishops Alibi wirklich war.