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Asymmetrie, Ernst und Spiel
ОглавлениеUnterhalten meint: begeistern und überraschen – oder auch nur durchbringen. Denn das Ziel eines Lehrers kann nur das eine sein: die Schülerinnen und Schüler zum Denken anregen (solange diese dafür nicht zu ausgelaugt sind). Ernsthaftigkeiten durchspielen, Varianten testen, Fehler machen, auch vorsätzlich, das ist Sinn und Zweck jeder Übung. Eine Übung ohne Wagnis ist verbrannte Zeit. Ohne Verrückungen ergibt sich nie ein neues Bild – und also kein Aha-Effekt. Dieses Durchspielen, Testen, Scheitern und Gelingen entspricht der Idee der Propädeutik: ein Vorbereiten und Vorbilden, das Horizonte zur eigenen Bildung eröffnet.
Eine Lehrerin muss eine erfahrene Spielerin sein, deren Mut zum Risiko aber ungebrochen ist. Hat sie ausgespielt, gar abgeschlossen, so hat sie nichts mehr zu sagen. Wir setzen uns zusammen, damit wir uns auseinandersetzen können. In diesem Wir ist die Lehrperson inbegriffen: Stellt sie sich selbst nicht zur Disposition, erklärt sich stattdessen zur Nichtspielerin, entbindet sie sich jeder Zuständigkeit – und bleibt außen vor. Wer nicht Motor und Katalysator in einem sein will, ist keine Lehrkraft.
Die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler anzunehmen, heißt, sich ihnen aussetzen, heißt, stets von Neuem den Beweis zu erbringen, als Vorbild bestehen zu können – als Mensch zu bestehen. Dazu gehört fraglos fachliches Wissen, damit sich aber eine Verbindlichkeit hinsichtlich des Stoffes überhaupt etablieren kann, bedarf es der Integrität. Handelt es sich bei der Lehrperson nicht um eine präsente, um eine fassbare Person, ist jede Annäherung an ein Thema – beziehungsweise an die Methode zu dessen Vermittlung – von vorneweg prekär.
Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Kein Lehrer ist Superman. Gerade nicht. Doch er muss mit beiden Füßen auf dem Boden – sprich im Leben – stehen, und er muss Inhalte vermitteln wollen. Abstrahiert er während des Unterrichtens von seiner Person, möchte er lediglich Stoff durchnehmen, wird nur wenig von dem, was er an die Jungen heranzutragen versucht, bei diesen ankommen.
Ich erinnere mich an einen meiner Englischlehrer, er zeichnete sich nicht nur durch eine Begeisterung für Literatur aus, die weit über den Pflichtstoff hinausging, er konnte auch leidlich Gitarre spielen – und singen. Damit hatte er uns alle in der Tasche (nicht zuletzt, weil er dieses Instrument dosiert einzusetzen wusste). Ein anderer, ein Geschichtslehrer, an den ich mich gut erinnere, war Politiker, zu meiner Gymnasiumszeit Mitglied des Schweizer Nationalrats. Da kamen Faxnachrichten bei uns an, die der Mann im Zug nach Bern eilends noch verfasste, um uns zumindest aus der Ferne zu grüßen, da standen aktuelle Themen zur Debatte, da ging es zuweilen auch um Wahlkampf.
Kurzum: Das waren Lehrpersonen, die als Vorbilder taugten – fassbar als Menschen im Unterricht und über die Schule hinaus. Werden Wirkungskreise spürbar, entstehen Resonanzräume, die mit der Funktion des Stoffvermittelns allein nicht zu schaffen zu sind.
Selbstverständlich tut eine Lehrkraft alles, um einen guten Unterricht zu gewährleisten, doch sie ist keine Maschine. Sie kennt Trauerfälle, auch sie findet nicht immer leicht in den Schlaf. Der Energietank ist zwar hoffentlich immer annähernd voll, doch gewiss nicht zu jeder Zeit. Wer Indisponiertheiten um jeden Preis zu kaschieren versucht, kann nicht mehr ankommen. In den Worten von Theodor W. Adorno: «Sie [die Lehrer] dürfen ihre Affekte nicht unterdrücken und dann rationalisiert doch herauslassen, sondern müßten die Affekte sich selbst und anderen zugestehen und dadurch die Schüler entwaffnen. Wahrscheinlich ist ein Lehrer überzeugender, der sagt: ‹Jawohl, ich bin ungerecht, ich bin genauso ein Mensch wie ihr, manches gefällt mir und manches nicht›, als einer, der ideologisch streng auf Gerechtigkeit hält, dann aber unvermeidlich verdrückte Ungerechtigkeit begeht.»
Der Verdacht, die Schule sei weltfremd, wird gern und oft geäußert. Doch was sind die Gründe dafür? Dass der Ernst des Lebens ausgeblendet werde? Die Realität außen vor bleibe? Die Praxis zu wenig zum Zug komme? Zu wenig konkrete Ausbildung hinsichtlich zu ergreifender Berufe gepflegt werde? – Erstaunlich und eigentlich durch nichts zu begründen ist die Idee, man habe es ja von vorneweg immer schon mit fertigen Menschen zu tun, schließlich ist doch in jedem das Potenzial zum Erwachsenen angelegt, es braucht nur noch in die richtigen Bahnen gelenkt zu werden, man liefere also gefälligst die zukünftigen Redakteurinnen und Ingenieure, Informatiker und Managerinnen, die Ärztinnen und Juristen – das kann doch nicht so schwer sein, ist doch alles im Internet greifbar … Liessmann hält dagegen: «Eine Pädagogik des Denkens, Erkennens und Verstehens will nicht die Sinnlichkeit reizen, sie will die Sinne vergessen machen. Sie beschwört und inszeniert nicht Lebensnähe, sondern hält daran fest, dass das Denken eine Form der Abstraktion und Konzentration ist und eine Störungsfreiheit benötigt, die eine gewisse Lebensferne, eine Distanz zum Alltag, eine methodische Reduktion geradezu als eine Voraussetzung erscheinen lässt.»
Jede Lehrerin und jeder Lehrer weiß, dass Entwicklung Zeit braucht. Ein Selbstbewusstsein zu gewinnen, um Verantwortung übernehmen zu können, bedingt die Möglichkeit, Fehler zu machen. Austesten, Wagnisse eingehen und zuweilen scheitern – wer den Umgang mit Freiheit nicht übt, wird zu keinem eigenen Denken finden, kein rechtes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen. Wie Hartmut Rosa im Gespräch mit Wolfgang Endres (Resonanzpädagogik, 2016) formuliert: «Das bedeutet, sich auf eine Resonanzbeziehung einzulassen. Konkret heißt das, offen dafür zu sein, dass mir etwas Neues oder anderes begegnet, wovon ich berührt, ergriffen oder bewegt werde, also zuzulassen, dadurch verändert zu werden. Und das geht immer auch mit einer gewissen Verletzlichkeit einher. Schule kann und soll einen Schutzraum dafür bilden.»
Klotzen und Kleckern, Lachen und Weinen, Bestätigung und Enttäuschung – oder einfacher: Um zu erfahren, was geschieht, wenn ich etwas tue, ohne hernach gleich angeklagt oder desavouiert zu werden, dafür ist das Schulzimmer da. Dieses Verständnis der Funktion von Unterrichtsräumen ist gerade nicht weltfremd, sondern weltoffen, wie ein Blick in die von Karl Popper genannten «Grundlagen zu einer neuen Berufsethik» bestätigt: «Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden oder auch nur alle an sich vermeidbaren Fehler. Fehler werden dauernd von allen Wissenschaftlern gemacht. Die alte Idee, dass man Fehler vermeiden kann und daher verpflichtet ist, sie zu vermeiden, muss revidiert werden: Sie selbst ist fehlerhaft.»
Das Schulzimmer ist der Schutzraum der Entfaltung, und dafür gibt es keinen adäquaten Ersatz, weder zu Hause noch auf der Straße, auch nicht in der Zukunft. Denn Entfaltung (Selbsterkenntnis) bedingt die anderen, sowohl die Mitschülerinnen und Mitschüler als auch die Lehrerin, ergo ein bekanntes Umfeld mit gültigen Spielregeln. So verstanden, ist der Lehrer immer auch Gastgeber (nicht Dienstleister). Der Respekt und das Wohlwollen den Schülern gegenüber ist grundsätzlicher Natur. Hingegen zu erwarten, beides komme vonseiten der Lernenden der Lehrperson gegenüber ebenso natürlich, entspricht einem Missverständnis, sitzt dem Fehlschluss auf, es handle sich bei einer Schulklasse um eine Gruppe ausgewachsener Menschen. «Jeder pädagogische Prozess, selbst wenn er das nicht will, beinhaltet einen Moment von Paternalismus. Das heißt, dass es in der Erziehung eine Art von Bevormundung gibt, die das Gute für das Kind will, auch wenn es gegen seinen Willen durchgesetzt wird» (Rosa).
Die Differenz, die es zwischen jungen Menschen und Erwachsenen gibt, geben muss, gilt es auszuhalten. Niemand kommt zur Welt und steigt am nächsten Tag in einen Formel-1-Wagen, und kein Kind ist in der Lage, einem älteren Menschen einen Zahnersatz zu implantieren. Ob man sich alltägliche Fähigkeiten in Erinnerung ruft oder eine neurologische Studie darüber liest, wie sich das Gehirn eines Menschen in jungen Jahren entwickelt (und derweil zunehmend an Plastizität verliert), die Unterschiede sind mannigfach, und sie sind offenbar. Wäre dem nicht so, der Pädagoge wäre nie erfunden, die Ideen von Erziehung und Lehre schon immer als Hirngespinste abgetan worden. Schon im Einstieg zu seiner berühmt gewordenen Schrift Emile oder Über die Erziehung (1762) legte Jean-Jacques Rousseau dar: «Man beklagt den Kinderstand, aber man sieht nicht, dass die Menschheit zugrunde gegangen wäre, wenn der Mensch nicht als Kind begonnen hätte.» – Ohne den hier diagnostizierten Unterschied wäre eine Entwicklung weder möglich noch nötig. Im herausgehobenen Kinderstand steckt freilich eine Reihe von bedenkenswerten Implikationen, die ich hier nicht weiter kommentiere. Es reicht fürs Erste aus, daran festzuhalten, dass Entwicklung sowohl möglich als eben auch nötig ist.