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Die richtige Mischung

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Die ideale Klassengröße umfasst ein gutes Dutzend. Sie ermöglicht ein Gespräch im Plenum sowie alle Formen von Gruppen- oder Einzelarbeiten. Niemand taucht ab, alle haben einander im Blickfeld. Die Gruppe kann und soll nicht aus Klonen bestehen, die alle exakt auf demselben Wissensstand sind. Noch weniger aber kann eine solche Gruppe willkürlich zusammengesetzt sein. Um Intensität und Diskurs sinnstiftend zu gestalten, bedarf es einer grundlegenden Homogenität, einer gemeinsamen Schnittmenge.

Schule ist per se elitär. Es geht um Auswahl. Und das ist nun mal nicht zu vergleichen mit Ausgrenzung oder gar einer Verletzung der Menschenrechte. Lange dachte ich, Ausführungen diesbezüglich seien unnötig, weil die Fakten allzu klar offenliegen. Doch in einer Zeit, in der so etwas wie Inklusion (aller für alles) ernsthaft gefordert wird, muss eigentlich jede Lehrkraft opponieren: Denn die Menschen sind nicht alle gleich. Es gibt unterschiedliche Talente, das genetische Dispositiv aller Menschen ist zwar zu einem sehr hohen Grad dasselbe, doch es ist nicht identisch. Soll das, was wir leicht schon bei der Geburt an unterschiedlichen körperlichen Eigenheiten erkennen, für die ersten Prägungen des Gehirns nicht gelten?

Manche Unterschiede mögen sich während der ersten Lebensjahre nivellieren, andere gewiss aber auch verstärken. Es steht außer Frage: Schon im Kindergarten werden die unterschiedlichsten Menschen in Empfang genommen. Sich deswegen in Schuldzuweisungen an die Adresse der Eltern zu ergehen, sie hätten ihren Kleinen nie Mozart vorgespielt, seien mit dem Nachwuchs nie in einem Naturschutzgebiet gewesen, solche Erklärungsversuche erscheinen doch allesamt ein wenig hilflos (und dienen nicht selten dazu, Verantwortung zuzuweisen, eben Ursachen benennen zu können, wenn doch die Wirkung so offensichtlich ist). Die Idee dahinter ist verführerisch: Wäre alles ideal abgelaufen, hätte man es beim Empfang der Kleinen mit lauter Hochbegabten zu tun und müsste sich erst gar nicht mit Problemen der Heterogenität auseinandersetzen.

Eine Klasse setzt sich also aus unterschiedlichen jungen Menschen zusammen, deren unterschiedliche Leistungsniveaus aber nie so weit auseinanderdriften, dass kein gemeinsamer Nenner mehr vorhanden wäre: «Es gibt keine voraussetzungslosen Lerngruppen, weil es kein voraussetzungsloses Lernen gibt» (Türcke).

Als ich Anfang der 1990er-Jahre die Gelegenheit bekam – damals noch als Student –, Deutschzusatzunterricht für frisch in die Schweiz eingewanderte Kinder an einer Grundschule zu unterrichten, traf es sich, dass zur selben Zeit die «integrative Schulform» als Pionierprojekt an jener Schule eingeführt wurde. Auch wenn das Projekt zu jener Zeit nachweislich in den Kinderschuhen steckte, so zeigten sich doch schnell Schwierigkeiten, die auch mit den noch zu machenden Erfahrungen nie ganz zu überwinden sein würden.

Ich selbst war auf zweierlei Weise in das Projekt involviert: Zum einen als unterstützende Lehrkraft im regulären Unterricht, den ein Kollege erteilte, zum andern erhielt ich in meinem Kurs (er umfasste fünf bis acht immigrierte Kinder im Alter zwischen sieben und elf Jahren) Unterstützung von einer Kollegin. Der Nutzfaktor war oft kleiner als der Störfaktor. Der Grund dafür ist banal: Es kann nur einen geben. Ansonsten teilt sich die Aufmerksamkeit – wohl ganz natürlich – auf. Denn zuweilen ist es halt interessanter, was eine Lehrperson mit einer anderen Schülerin macht, als was die eigene tut. Konzentration und Fokussierung sind von vorneweg gefährdet, wenn nicht gar unmöglich, solange im selben Raum zwei Programme laufen. Dass es erfolgreiche Formen von Team-Teaching gibt, will ich damit nicht in Abrede stellen, meine aber auch, der Erfolg stelle sich immer dann ein, wenn es den beteiligten Lehrpersonen gelingt, die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler zu bündeln, jeweils auf ein Programm zu fokussieren.

Die Inklusion wiederum, in deren Form ein Lehrer alle bespielt, verlangt letztlich die Zwei- oder gar Vierteilung der unterrichtenden Person. Nun könnte man schlechterdings fordern, eine gut geschulte Pädagogin verfüge doch über die didaktischen Mittel, zugleich – oder zumindest in rascher Abfolge – unterschiedliche Niveaus zu begleiten und zu bedienen, zu fördern und zu fordern. Abgesehen davon, dass ich ebenfalls der Überzeugung bin, dass ein solches Verfahren jede und jeden schnell an seine Leistungsgrenzen bringt (wenn nicht in den Wahnsinn treibt), so geht bei dieser Unterrichtsform ein entscheidender Aspekt verloren, ich meine sogar, das Wesentliche der Schule werde arg in Mitleidenschaft gezogen: das Lernen und Wachsen im Kollektiv.

Es gibt selbstredend keine feste Anzahl, was die ideale Klassengröße betrifft, deswegen spreche ich von einem guten Dutzend. Am Gymnasium sammelte ich bislang Erfahrungen in Größen von 5 bis 26. Findet sich lediglich eine Handvoll Schüler zum Unterricht ein, droht die Belastung für den Einzelnen schnell zu groß zu werden, er weiß, er ist ständig gefragt, er steht unter Dauerbeobachtung. So intensiv und fruchtbar Gespräche in einer Kleingruppe auch sein mögen, für das, was ich unter Unterricht verstehe, ist diese Übersichtlichkeit oft zu viel des Guten – und in anderer Hinsicht wiederum zu wenig: Für das, was ich mit der Bezeichnung «Gemeinsinn» (der Begriff geht auf Immanuel Kant zurück) beleuchten möchte, ist eine solche Gruppe zu klein. Ein Kollektiv, wie ich es verstehe, ermöglicht nicht nur Auseinandersetzung, sondern auch Parteibildung, wechselnde Fronten, Täuschungsmanöver, Provokationen, da und dort ein Schuss ins Blaue. Sitzen lediglich fünf Schülerinnen und Schüler beieinander, bleibt jeder für sich, jede Anerkennung, aber auch jede erfahrene Missgunst ist persönlich: Es gibt kein Entrinnen, ein Aufgehobensein in einem Team ist kaum möglich. Das bedeutet auch: Die Hemmschwelle, etwas zu riskieren, Fehler zu machen, ist deutlich höher.

Ich halte es für zwingend, dass die emotionale Amplitude im Unterricht möglichst auf beide Seiten richtig ausschlagen kann: Eine Niederlage lässt sich fraglos besser als Gruppe verdauen, und die Euphorie bei einem Sieg ist in einem Team eine ganz andere als für einen Einzelkämpfer. Um die Angriffsfläche des Einzelnen auf ein verträgliches Maß zu reduzieren, um auf diese Weise nicht zuletzt die Freiheit des Einzelnen zu befördern, bedarf es also des Kollektivs, einer Gruppe, in der sich die einzelnen Mitglieder kennen – und das ist die Schulklasse, ein gutes Dutzend in ihrer geschützten Werkstatt, das einen Gemeinsinn entwickelt: «Zum pädagogischen Sinn der Schule gehört die Förderung des Gemeinsinns und – noch fundamentaler – der Zivilität» (Reichenbach).

Begeben wir uns zunächst in dasselbe Fahrwasser wie Reichenbach, nämlich in eine Vorlesung zu Fragen der Ethik von Hannah Arendt, die sie 1965 in New York hielt: «Gemeinsinn war für Kant nicht ein Sinn, der uns allen gemeinsam ist, sondern genau genommen jener Sinn, der uns in eine Gemeinschaft mit anderen einpasst, uns zu ihren Mitgliedern macht und uns in die Lage versetzt, Dinge, welche unseren fünf privaten Sinnen gegeben sind, zu kommunizieren.» Diese «erweiterte Denkungsart» (ebenfalls ein Begriff von Kant), so führt Arendt weiter aus, sei als ein Übereinkommen der Menschen Voraussetzung für den «zivilisierten Verkehr» untereinander. Reichenbach wiederum sieht in der «Zivilität» ein «anständiges Verhalten» (als Vorstufe oder Vorbedingung einer Moral), das an keinem Ort besser «auf koordinierte und gemeinsame, das heißt kollektive Art und Weise erlernt und vertieft» werden kann. – Vielleicht lässt sich dieser zentrale Aspekt nun dank des kleinen Umwegs auch einfacher auf den Punkt bringen: Es geht um das Einüben des Umgangs miteinander.

Dass dieses Einüben des Umgangs wiederum nicht in einer beliebig großen Gruppe vonstattengehen kann, liegt, so glaube ich, in der Natur der Sache: Wollten sich über zwanzig Schülerinnen und Schüler in dasselbe Gespräch einmischen, geht die Kohärenz verloren, der isolierten Voten würden sehr schnell zu viele. Und weil das so ist (selbstverständlich nicht nur deswegen), nehmen sich Einzelne von vorneweg zurück, versetzen sich in die Lage des passiven Zuhörers (oder beginnen ein anderes Gespräch mit der Banknachbarin). Der Lehrer, handkehrum, billigt dieses Ausklinken des Öfteren, weil ihm am Gelingen des Gesprächs etwas liegt.

Das gute Gespräch, die glückende Interaktion, hängt aber nicht nur von der Anzahl der Teilnehmer ab, sondern auch von deren Wissensstand. Eine Diskussion über Lessings «Ringparabel» (im Drama Nathan der Weise) erübrigt sich, wenn kaum jemand in der Klasse auch nur eine Ahnung von den drei Weltreligionen hat, dann hilft auch ein Zurückkommen auf Boccaccios Vorlage im Decamerone nichts. Und die näheren Gründe, warum der Vater von Faust (im gleichnamigen Drama von Goethe), der als Arzt Pestopfern helfen wollte, statt die Leute zu heilen, diese beschleunigt in den Tod beförderte, lassen sich ohne Elementarkenntnisse der Chemie (und der Wirkungsweise von Quecksilber) nicht erläutern.

Die Aufgabe (E-Book)

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