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Gehirnaufbau für Neugierige

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Vor nicht allzu langer Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass sich im Gehirn alles so gut zuordnen lässt, wie wir das für die Schnellchecker gemacht haben. So bezeichneten sie den Hirnstamm gern als »Reptilienhirn«, weil er entwicklungsgeschichtlich der älteste Teil ist: Er entstand bereits vor 500 Millionen Jahren. Folglich wiesen sie ihm nur vergleichsweise primitive Aufgaben zu. Je höher man gehe, desto anspruchsvoller würden die Aufgaben.

Das ist nicht ganz falsch. Aber die Wirklichkeit ist, man ahnt es, wesentlich komplizierter. Zum Beispiel besteht der Hirnstamm selbst aus verschiedenen Teilen. Der untere Teil, das verlängerte Rückenmark (die Medulla oblongata) kümmert sich um die vegetativen Funktionen, also jene, die nicht dem Bewusstsein unterliegen, wie Atmung, Verdauung, Herzschlag. Es sorgt also dafür, dass man nicht ständig bewusstlos (oder tot) wird. Die darüber liegende Brücke (der Pons), ein olivenförmiger Nervenkern, verarbeitet bereits Sinneswahrnehmungen, etwa beim Hören. Das darüberliegende Mittelhirn ist vollgepackt mit weiteren Nervenkernen. Es hat viel mit Bewegungssteuerung zu tun. Wenn in einem dieser Kerne, der Substantia nigra, bestimmte Nervenzellen absterben, dann erkrankt der Betroffene an Parkinson.

Anders als in vielen Unternehmen wurstelt im Gehirn keine Abteilung alleine vor sich hin. Die einzelnen Teile kommunizieren miteinander; höhere Hirnfunktionen beeinflussen tiefer liegende Teile des Gehirns und umgekehrt. So haben Wissenschaftler aus Leipzig kürzlich untersucht, was im Gehirn von erwachsenen Frauen passiert, die Lesen und Schreiben lernen – eindeutig eine kognitive Aufgabe, für die es tatsächlich zuständige Areale auf der Großhirnrinde gibt. Deshalb lautete die Arbeitshypothese der Forscher: Auf dieser neocortikalen Ebene wird kräftig umgebaut, wenn die neue Fähigkeit erlernt wird. Zu ihrem Erstaunen stellten die Forscher jedoch fest, dass sich die Alphabetisierung sogar auf den Hirnstamm auswirkte. In unserem Gehirn hängt alles zusammen. Viele Wissenschaftler sprechen deshalb lieber von Netzwerken, innerhalb derer die einzelnen Areale agieren. Das sollten Sie in Erinnerung behalten, wenn Sie in den folgenden Kapiteln von den Aufgaben einzelner Systeme wie der Amygdala, dem Hippocampus und dem Präfrontalcortex lesen.

Ganz gut deutlich machen lassen sich die gegenseitigen Abhängigkeiten an einem beliebten Partythema, wenn es um das Gehirn geht: linkes Hirn, rechtes Hirn. Angeblich denken und analysieren wir mit der linken Hälfte; rechts sitzt unsere Kreativität. Ein ideenloser Erbsenzähler müsse einfach seine rechte Gehirnhälfte ankurbeln, und werde – schwuppdiwupp – zum Künstler.

Was stimmt davon? In der Tat ist das Gehirn in zwei Hälften unterteilt, die durch ein dickes Nervenbündel aus rund 200 Millionen Nervenfasern, dem Balken, miteinander verbunden sind. Neurowissenschaftler sprechen in diesem Fall von Lateralität. Bei einigen wenigen Menschen haben Ärzte den Balken durchtrennt, um eine schwere Epilepsie zu lindern. Der amerikanische Hirnforscher Michael Gazzaniga (* 1939) hat viele dieser sogenannten Split-Brain-Patienten untersucht. Auf den ersten Blick wirken sie unauffällig. Gazzaniga gelang es jedoch, mit geschickten Experimenten Beeinträchtigungen zu zeigen, aus denen man viel über die Funktionsweise des Gehirns lernen kann.

Ein Beispiel: Unsere Augen sind kreuzweise mit den Hirnhälften vernetzt. Informationen aus dem linken Gesichtsfeld werden in der rechten Hemisphäre verarbeitet und umgekehrt. Gazzaniga zeigte Split-Brain-Patienten im linken Gesichtsfeld ein Objekt. Das rechte Auge war abgedeckt. Er fragte sie, was sie sehen. Antwort: »Keine Ahnung!« Weil die entscheidenden Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte angesiedelt sind, hatten die Patienten keine Worte für ihren visuellen Eindruck.

Die meisten Neurowissenschaftler halten den Linkes-Hirn-rechtes-Hirn-Partytalk allerdings für so vereinfacht, dass sie ihn als Unsinn bezeichnen. Das gilt vor allem für die Vorstellung, man müsse nur seine rechte Hemisphäre richtig im Schwung bringen, um kreativ zu werden. Wenn es sich nicht gerade um einen Split-Brain-Patienten handelt, kommunizieren die beiden Hirnhälften bei jedem Menschen jederzeit miteinander – übrigens bei Männern so stark wie bei Frauen (deren angeblicher Gehirn-Unterschied auch ein beliebtes Partythema ist).

Das gilt zum Beispiel beim Sprechen und Zuhören: Zwar werden Wortbedeutung und Grammatik linkshemisphärisch analysiert; Sprachmelodie und Tonfall aber verarbeitet die rechte Hirnhälfte (mehr zu den Aufgaben in der Infografik). Bei einigen Schlaganfallpatienten kann es nun vorkommen, dass die rechte Hemisphäre geschädigt ist. Diese Patienten sind unfähig, Betonungen richtig zu interpretieren, etwa einen ironischen Tonfall. Zugleich sprechen sie selbst wie mechanisch. Manchmal schwächen sich die Störungen mit der Zeit ab – dann haben andere Hirnregionen die Aufgabe übernommen.

Einige noch drastischere Fälle zeigen, dass unser Gehirn plastischer ist als es sich viele vorstellen können. Einige wenige Menschen auf der Welt können ganz gut mit nur einer Hirnhälfte leben – bei normaler Intelligenz. Sie wurden entweder so geboren oder Ärzte mussten ihnen sehr früh eine Hälfte operativ entfernen. Die übriggebliebene Hirnhälfte übernahm zusätzlich sämtliche Aufgaben der entfernten Hemisphäre. Bei Erwachsenen geht das allerdings nicht mehr.

Wer sich einigermaßen auf der Landkarte unseres Gehirns orientieren will, bevor wir in den folgenden Kapiteln unsere Reise durch die kognitiven Funktionen antreten, schaut sich am besten die Abbildungen hier und hier an. Die erste benennt die Teile unseres Gehirns vom Hirnstamm bis zum Neocortex. Die beiden nächsten bilden einen Lageplan aus zwei Perspektiven. Denn dort, in der Schaltzentrale unseres Denkens und Fühlens, passieren die faszinierenden Sachen, mit denen wir uns ab Kapitel vier beschäftigen werden.


Die Areale des Gehirns mit Blick von der Seite und von unten

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