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Leib und Seele

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Um zu verstehen, um was es in der Diskussion geht, müssen wir einen kleinen Ausflug in die Philosophie machen. Genauer gesagt: Wir müssen uns dem Leib-Seele-Problem zuwenden. Die Überzeugung, dass es neben dem Körper eine Seele gibt, teilten vermutlich schon frühe Kulturen. Vorstellungen von den Geistern der Ahnen, die unter uns leben, existieren noch heute in vielen Teilen der Welt. In der das Abendland prägenden griechischen Philosophie standen sich Dualisten wie Platon (428/427–348/347 v. Chr.) und Monisten wie Epikur (um 341 – 271/270 v. Chr.) und Demokrit (460/459 – um 371 v. Chr.) gegenüber. Die Monisten vermuteten, dass die Seele materieller Natur sei. Platon hingegen, dessen Denken das Christentum und die mittelalterliche Philosophie stark beeinflusste, unterschied eine unsterbliche Seele von einem sterblichen Körper.

Zu Beginn der Neuzeit befasste sich besonders der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) mit dem Problem. Der cartesianische Dualismus behauptet, es gebe zwei grundsätzlich verschiedene Substanztypen: den stoffgebundenen Körper und den immateriellen Geist, der allein fürs Denken zuständig sei. Verbunden seien beide durch die Zirbeldrüse (Descartes suchte sich dieses unscheinbare Anhängsel aus, weil es im Gegensatz zu den anderen, jeweils doppelt vorhandenen Strukturen in unserem Gehirn nur eine Zirbeldrüse gibt). Für ihn war klar, dass Denken nur immateriell erfolgen könne.

An dieser Stelle nun kommt die Hirnforschung ins Spiel. Für Neurowissenschaftler gibt es keinen Leib-Seele-Dualismus. Denken ist für sie, ebenso wie Gefühle, nichts anderes als die Aktivität von Neuronen. Zugegeben: Das ist eine ziemlich unromantische Vorstellung. Die ganze Philosophie von Platon und Descartes, von Kant und Hannah Arendt (1906–1975) – nichts anderes als synaptische Verknüpfungen, das gemeinsame Feuern von Gehirnzellen? Die Liebe – nur das Ergebnis eines Neurotransmitter-Cocktails aus Dopamin, Oxytocin, Vasopressin und endogenen Opioiden? Das ist für viele noch heute starker Tobak – und ein Grund für die Skepsis vieler Philosophen gegenüber den Neurowissenschaften.

Andererseits hat sich zwischen Hirnforschung und Philosophie längst ein produktiver Dialog entwickelt. Philosophen wie der Amerikaner Daniel Dennett (* 1942) und der Mainzer Professor Thomas Metzinger (* 1958) sowie Gehirnforscher wie Gerhardt Roth (* 1942) von der Uni Bremen und der Medizinnobelpreisträger Eric Kandel (* 1929) versuchen, eine neurowissenschaftlich fundierte Philosophie des Geistes zu entwickeln. Deren Motto lässt sich sehr knapp zusammenfassen in dem Satz: »Für unser Denken und Fühlen ist alles Gehirn, aber das Gehirn ist nicht alles.«

Und damit wenden wir uns im folgenden Kapitel den harten naturwissenschaftlichen Fakten über Neuronen, Synapsen und Neurotransmitter zu.

Einblick ins Gehirn

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren Neurologen darauf angewiesen, dass der Besitzer eines Gehirns verstirbt und es den Wissenschaftlern überlässt. Von dieser Idee war nicht jeder begeistert. Deshalb gehörten viele untersuchte Gehirne armen Leuten und Verbrechern, die es sich nicht hatten leisten können zu widersprechen. Zudem wurde es wissenschaftlich erst richtig spannend, wenn die Verstorbenen unter neurologischen Störungen und Krankheiten gelitten hatten, was den Kreis der Untersuchungsobjekte weiter einschränkte.

Später wurden wichtige Erkenntnisse während Gehirnoperationen gewonnen, zum Beispiel wenn Neurochirurgen einen Tumor oder ein Epilepsiezentrum entfernen mussten. Da das Gehirn über keine Schmerzrezeptoren verfügt, können die Patienten während der Operation bei Bewusstsein bleiben. Bei geöffnetem Schädel stimulierten die Ärzte einzelne Neuronen. Obwohl es sich nicht gerade verlockend anhört, handelt es sich dabei um einen glücklichen Umstand. Der Chirurg kann so verhindern, dass er versehentlich gesunde Teile zum Beispiel des Sprachzentrums wegschneidet. Nebenbei fallen oft ein paar wissenschaftliche Erkenntnisse ab.

Inzwischen gibt es aber eine Reihe bewährter Methoden, Einblicke ins Gehirn von ganz normalen Freiwilligen zu bekommen. Hier die drei wichtigsten:

Elektroenzephalogramm (EEG): Eine der ersten Aufzeichnungen der Gehirnströme verdanken wir dem 15-jährigen Sohn des deutschen Neurologen Hans Berger (1873–1941). Der geduldige junge Mann stellte sich seinem Vater 1927 als Versuchsperson für die Gehirnstrommessung zur Verfügung. Dazu muss man wissen, dass Gehirnzellen aktiv werden, indem sie ihren elektrischen Ladungszustand ändern. Man spricht, wie im dritten Kapitel erläutert wird, von Aktionspotentialen. Mit anderen Worten: Es fließt Strom. Diesen Strom kann man mit hochempfindlichen Geräten auf der Kopfhaut messen und als Wellen darstellen. Es gibt verschiedene Gehirnwellen, die der Feuergeschwindigkeit der Neuronen in verschiedenen Geisteszuständen entsprechen. Das EEG misst die Gehirnaktivität bis auf den Tausendstel Teil einer Sekunde genau. Übrigens gibt es in vielen Technischen Museen Geräte, mit denen man zum Beispiel mit Hilfe seiner Gehirnströme Flipper spielen kann: Sie beruhen auf der EEG-Technik.

Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT): Die meisten Menschen kennen die Bilder, die aussehen wie ein Schnitt durchs Gehirn. An einigen Stellen finden sich rote, blaue und grüne Flecken. Hier wird gerade kräftig gedacht, oder? Die Bilder lassen glauben, man könne dem Gehirn beim Arbeiten zusehen. Das stimmt nur zum Teil. Die fMRT nutzt die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften sauerstoffarmen und sauerstoffreichen Blutes. Dies wiederum hängt mit der Drehrichtung des Atomkerns (dem Spin) zusammen, die im fMRT durch ein gewaltiges Magnetfeld verändert wird. Das Gerät liefert Messdaten, in welche Gehirnareale gerade besonders viel sauerstoffreiches Blut (und damit Glukose, also Zucker, als Energielieferant) fließt. An diesen Stellen denken wir besonders intensiv – so jedenfalls die Vermutung. Ganz falsch dürften die Wissenschaftler damit nicht liegen. Doch es gibt ein paar Bedenken und Einschränkungen:

 Das fMRT ist langsam, zumindest verglichen mit einem EEG. Aus physikalischen Gründen lässt sich höchstens alle zwei bis vier Sekunden eine Aufnahme anfertigen. Man weiß daher nur unzureichend, wann und wie schnell das Gehirn reagiert.

 Die Aufnahmen der fMRT sind letztlich nur plastisch aufbereitete Messdaten. Sie beruhen auf Durchschnittswerten, die durch Computerprogramme bereinigt wurden – eine erhebliche Fehlerquelle. Eine schwedisch-englische Studie aus dem Jahr 2016 behauptet, sieben von zehn fMRT-Studien lieferten falsche Ergebnisse.

 Auch da, wo es nicht rot oder grün ist, arbeitet das Gehirn. Hier finden vermutlich Prozesse statt, die für die gerade untersuchte Aufgabe unabdingbar sind. Zudem sind die Aktivitätsunterschiede zwischen roten und blauen Arealen oft nur minimal.

 Zwar kann man im fMRT die aktiven Areale, anders als beim EEG, ganz gut eingrenzen. Dennoch befinden sich an diesen Stellen oft 100 Millionen Neuronen und mehr, deren Zusammenspiel man nicht kennt.

 Im Hirnscanner ist es laut und eng. Die Probanden müssen lange Zeit absolut still liegen – nicht gerade eine natürliche Haltung. Aus diesem Grund gibt es nur sehr wenige Studien mit Gehirnscans beim Sex, denn der setzt nun einmal ein gewisses Maß an Bewegung voraus. (Man fragt sich, wie die paar Studien, die es gibt, das Problem bewältigt haben.)

Transkranielle Magnetstimulation: Diese Methode klingt ein bisschen gespenstisch, ist aber im Grunde harmlos. Wissenschaftler hemmen oder stimulieren durch die Schädeldecke hindurch (transkraniell) mit einem starken Magneten bestimmte Hirnareale. Sie können auf diese Weise zum Beispiel Zuckungen im motorischen Cortex auslösen oder Teile des visuellen Cortex abschalten. Auf diese Weise gelangen sie zu Erkenntnissen darüber, welche Rolle diese Gebiete bei der Verarbeitung spielen. Übrigens funktionieren die so genannten Hirnschrittmacher nach dem gleichen Prinzip.

Gehirn. 100 Seiten

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