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Alle reden vom Gehirn

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Mit dem Gehirn habe ich mich zum ersten Mal näher beschäftigt, als ich begann, als Schreibtrainer zu arbeiten. Mein Beruf ist es bis heute, Menschen in Seminaren beizubringen, sich klar und verständlich auszudrücken. Irgendwann fragte ich mich: Was geschieht eigentlich in unserem Kopf, wenn wir sprechen, reden und lesen? Wie verarbeitet das Gehirn Sprache? Wir werden uns mit diesen Fragen im achten Kapitel beschäftigen. Ich las hunderte Bücher, Fachartikel und andere Veröffentlichungen und schrieb später selbst Artikel und Bücher über das Thema. Ich absolvierte eine Ausbildung zum »Master of Cognitive Neuroscience (aon)«.

Je mehr ich mich jedoch mit den Neurowissenschaften beschäftigte, desto größer wurde meine Demut. Unser Wissen über das Gehirn ist in den letzten hundert Jahren zweifellos enorm gewachsen. Das gilt besonders, seit Computerbilder aus der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) die Illusion vermitteln, wir könnten dem Gehirn bei der Arbeit zusehen (ein Missverständnis – wie im Infokasten erläutert wird). In Wirklichkeit aber wissen wir über das Gehirn verdammt wenig. Selbst die Kartographie der Gehirnareale aus dem fMRT ist dürftig. Sie können sich die Situation vorstellen wie bei den Weltkarten des Mittelalters. Die Gegend um das Mittelmeer war darauf ziemlich getreu abgebildet. Der Mittelpunkt der Erde aber ist in Jerusalem lokalisiert, weil dies das vorherrschende Wertesystem (die Religion) so gebot. Jenseits dieser Regionen liegt »Terra incognita«, das große Unbekannte. Ganz im Osten verorten die Karten das legendäre Reich des Priesterkönigs Johannes, wo Zyklopen und hundsköpfige Menschen leben. Es spricht vieles dafür, dass zukünftige Generationen unser heutiges Wissen über das Gehirn so verwunderlich finden werden wie wir die Landkarten aus dem Mittelalter.

Die Hirnforschung gilt als die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Noch bevor das neue Jahrhundert angebrochen war, hatte der amerikanische Präsident George Bush senior 1990 eine »Dekade des Gehirns« ausgerufen. Deutschland erklärte das darauffolgende Jahrzehnt bis 2010 zur »Dekade des menschlichen Gehirns«. Die Europäische Union finanziert gegenwärtig mit fast 1,2 Milliarden Euro das »Human Brain Project«, in dem Wissenschaftler aus weit über einhundert Forschungseinrichtungen versuchen, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns im Computer zu simulieren. Inzwischen reden alle vom Gehirn – von Neurodidaktik bis Neuroökonomie versuchen Wissenschaftler, Experten und manchmal auch nur Geschäftemacher, alles mit Gehirnprozessen zu erklären. Oft illustriert mit bunten Bildern aus dem fMRT.

Wo so viel öffentliche Aufmerksamkeit herrscht, bleibt die Kritik nicht aus. Inzwischen ist gelegentlich von einem Neurowahn die Rede. Philosophen bemühen sich, ihre Deutungshoheit über den Geist zurückzugewinnen. Der Bonner Philosophie-Professor Markus Gabriel (* 1980) zum Beispiel gab seiner Streitschrift gegen einen von ihm diagnostizierten »Neurozentrismus« den Titel Ich ist nicht Gehirn.

Die Kritik ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Sie trifft vor allem jene (wenigen) Hirnforscher, die aus dürftigen empirischen Ergebnissen und schwachen statistischen Zusammenhängen alleserklärende Theorien zimmern. Oft werden dabei die Aktivierungsmuster, die durch die fMRT sichtbar gemacht werden, überinterpretiert. Nur weil dieses oder jenes Areal während einer bestimmten Tätigkeit eine erhöhte Aktivität zeigt (die zudem noch indirekt gemessen wird), verstehen wir noch lange nicht die neuronale Wirklichkeit. Die bildgebenden Verfahren unterliegen technischen Einschränkungen. Nur selten und mit großem Aufwand können Forscher bislang die Aktivität einzelner Zellen messen. Deshalb bleiben wichtige Zusammenhänge (vorerst) verborgen. Es besteht demnach kein Anlass zur Neuroüberheblichkeit. Trotzdem lassen sich die Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht einfach mit einem Verweis auf Kant, Hegel und Descartes vom Tisch wischen. Denn unser Ich manifestiert sich in der Tat in unserem Gehirn.

Gehirn. 100 Seiten

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