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Neuronen für Neugierige

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Wenn Sie morgens in Ihrem Waschbecken eine Gehirnzelle (Neuron) in Übergröße entdeckten, würden Sie sich vermutlich erst einmal ekeln. So richtig nett sehen die Dinger nämlich nicht aus. Eher wie dieses Glibberzeug, mit dem kleine Jungs ihre Mütter erschrecken.

Wie ist so eine typische Zelle aufgebaut? Knapp gesagt: ein dicker Kopf mit vielen Ärmchen und ein langer Schwanz, aus dem sich ebenfalls Ärmchen verzweigen. Zugegeben, das ist eine stark vereinfachte Darstellung. Sie ist gut geeignet, um den Aufbau eines Neurons zu verstehen, hat aber mit der Wirklichkeit so viel zu tun wie die Strichzeichnung eines Häuschens mit einem Megagebäude wie dem Pentagon. Zudem gibt es viele unterschiedliche Neuronentypen, von denen die beschriebene multipolare Zelle nur die häufigste Form ist.

Schauen wir uns trotzdem dieses typische Neuron genauer an. Denn nur so lässt sich später verstehen, was in unserem Kopf vorgeht, wenn wir denken und fühlen. Das Neuron besitzt einen verdickten Zellkörper, das Soma, in dem die Eingeweide der Zelle (die Organellen) schwimmen – und zwar in einer gelartigen Flüssigkeit aus Wasser, Eiweiß und Fett. Man nennt sie Cytosol. Sie sehen schon: Wasser, Eiweiß und Fett sind ganz allgemein die Hauptbestandteile unseres Gehirns.

Eine der Organellen ist der Zellkern, der Nukleus. In ihm bewahrt die Zelle ihren Bauplan in Form von Desoxyribonukleinsäure auf (DNS, oft nach dem englischen Wort mit DNA abgekürzt – das »A« für acid, also ›Säure‹). Wie genau eine Zelle funktioniert und aufgebaut ist, entscheidet sich danach, wie dieser Genbauplan gelesen und umgesetzt wird. Das wird als Genexpression bezeichnet. Außerdem befindet sich im Zellkörper das Mitochondrion, das Kraftwerk der Zelle. Es setzt in einer komplizierten chemischen Reaktionskaskade Energie frei, indem es Zucker- und Fettmoleküle spaltet. Diese Energie wird in Form eines Moleküls mit dem Kürzel ATP gespeichert – wer unbedingt Lust hat, sich den vollen Namen zu merken: Adenosintriphosphat. Mit diesem ATP betreibt die Zelle unter anderem sehr energieaufwendige Pumpen, mit denen unterschiedlich geladene Natrium- und Kalium-Ionen in die Zelle ein- und aus der Zelle herausgeschleust werden. Warum das so ungeheuer wichtig ist, erfahren Sie im folgenden Kapitel.

Im Zellkörper tummeln sich noch ein paar andere Organellen: die Ribosomen, so etwas wie die Proteinfabriken der Zelle; das raue endoplasmatische Retikulum, das sich netzartig verzweigt und auf dem die Ribosomen parken; außerdem der Golgi-Apparat (benannt nach seinem Entdecker, dem Italiener Camillo Golgi, 1843–1926), in dem die Proteine gespeichert und für ihren Weitertransport vorbereitet werden. Damit soll’s erst mal gut sein, auch wenn die Aufzählung keineswegs vollständig ist. Man sieht: Schon der Zellkörper ist ein kompliziertes Gebilde, obwohl er nur ein Tausendstel Millimeter groß ist.

Aus dem Zellkörper entspringt an einer Stelle, die Axonhügel genannt wird, eine kabelartige Verlängerung: das Axon. Wie lang es genau ist, unterscheidet sich je nach Neuronentyp: Manche Axone messen wenige Millimeter, andere schlängeln sich mehr als einen Meter durch das ganze Hirn (und gelegentlich durch den ganzen Körper). In ihnen werden Signale übertragen – übrigens erstaunlich langsam, nämlich mit 120 Metern in der Sekunde: Wenn Sie also in Stuttgart in ein Telefon sprächen, käme ihre Stimme bei gleicher Übertragungsgeschwindigkeit in Hamburg eineinviertel Stunden später an. Und das ist noch die schnellste Übertragung. Manchmal schaffen die Neuronen auch nur einen Meter pro Sekunde.

Vor der Riesenzelle in Ihrem Waschbecken würden Sie sich vielleicht auch deshalb ekeln, weil deren Schwanz (das Axon) mit einer Schicht aus Fett und Eiweiß überzogen ist. Man nennt diese Schicht Myelinscheide. Sie hat neben anderen Funktionen die Aufgabe, die Leitfähigkeit des Axons zu erhöhen. Die Umhüllung hat die Form von Wickeln, zwischen denen sich Kerben oder Einschnürungen befinden. Die Myelinwickel sind Schwannzellen, die zur Gruppe der Gliazellen gehören; die Einschnürungen nennt man Ranvier-Schnürringe. Die elektrische Erregung springt von Schnürring zu Schnürring – das geht zehnmal schneller, als wenn das Signal kontinuierlich im Innern des Axons weitergeleitet würde. Wozu der ganze Aufwand gut ist, bekommen leider Menschen mit Erkrankungen wie Multipler Sklerose zu spüren, bei denen die Myelinscheide von körpereigenen Abwehrstoffen angegriffen wird: Da bei ihnen die Signalübertragung holpert, sind ihre Bewegungen und ihr Sehvermögen gestört.

Aus dem Zellkörper sprießen bei unserem standardmäßigen multipolaren Musterneuron dünne Ärmchen, die sich erneut verästeln. Das sind die Dendriten. Ein bisschen sieht das Ganze aus wie eine Baumkrone (das griechische Wort dendron bedeutet ›Baum‹). Die Dendriten sind Empfangsantennen, die eingehende Signale aufnehmen. An ihren stachelartigen Fortsätzen befinden sich Kontaktstellen zu den anderen Gehirnzellen, die Synapsen.

An diesen 100 Billionen Synapsen, wo sich Axone und Dendriten zur Signalübertragung treffen, wird es erst richtig spannend – und kompliziert. Die Natur konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihre neuronalen Signale lieber elektrisch oder chemisch überträgt – und macht deshalb beides. Das hat, wie fast alles in der Evolution, einen guten Grund. Eine Zelle muss im Zweifel nicht nur erregt, sondern auch gehemmt werden. Und das geht biochemisch viel leichter (mehr dazu im nächsten Kapitel, wo es darum geht, wie genau Neuronen miteinander kommunizieren).

Die meisten Neurowissenschaftler sprechen am liebsten über Neuronen – ein Grund dafür, warum ihr Beruf so heißt wie er heißt. Wenn das Interesse der Wissenschaftler jedoch so verteilt wäre wie die Zellarten in unserem Kopf, müssten auf einen Neurowissenschaftler zehn Gliawissenschaftler kommen (andere Forscher behaupten, es gebe nur genauso viele Gliazellen wie Neuronen – das Zählen von Gehirnzellen ist gar nicht so einfach). Eine Art von Neuronen, die Schwannzellen im peripheren Nervensystem, haben wir schon kennengelernt. Im zentralen Nervensystem werden die gleichen Aufgaben von den sogenannten Oligodendrozyten übernommen. Die Gliazellen kleben (glia ist Griechisch und bedeutet ›Leim‹) an den Axonen und Dendriten und geben ihnen Halt. Außerdem vernichten sie die Ausscheidungen der Neuronen. Deshalb nahm man lange an, Gliazellen seien so etwas wie Gerüste und mobile Toiletten auf Baustellen – nicht ganz unwichtig, aber die eigentliche Arbeit wird von den Bauarbeitern, den Neuronen, gemacht. Allein, wie das oft so ist mit den Helferlein: Sie werden unterschätzt. In letzter Zeit gehen immer mehr Forscher davon aus, dass Gliazellen eine wichtige Rolle bei vielen neuronalen Prozessen wie Lernen und Erinnern spielen. Welche genau, weiß man noch nicht.

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