Читать книгу Lieder der Wälder - Marleen S. Meri - Страница 11
Оглавлениеkühl, als sie Severyns Stirn mit dem silbernen Harz zeichnete – einen senkrechten Strich nach unten, darüber einen Kreis.
Als sie zurücktrat, erhob sich Severyn endlich auf Augenhöhe mit den anderen Anwesenden. Er wandte sich dem Keitha-Kommandanten zu und hob auffordernd das Kinn, woraufhin der Krieger vor ihm niederkniete. Severyn hob die Hände über ihn und sprach: »Mit dem Segen meines Vaters, Kommandierendem der Keitha, erhalte ich Gewalt über ich dich und deinesgleichen. Jedes meiner Worte soll wohlgewählt und weise sein, auf dass ihr jetzt und immer mit gerechtem Geiste handeln werdet. Jedes meiner Worte soll in eurem Ohr klingen, auf dass ihr stets gehorcht und meinen Befehl folgsam in die Tat umsetzt: te, wyn cledd. Du, mein Schwert.«
Der Kommandierende hob den Kopf, als Severyn ihm die behandschuhten Finger auf die Stirn legte. Seine Augen waren nicht länger dieselben – bloß noch Silber, und der junge Fürstensohn wäre beinahe kurz zurückgezuckt. Doch der Keitha nickte und neigte den Kopf. »We, tyn cledd.«
Severyn zog die Hand zurück und das Silber wich aus den Augen des Kriegers. Als er sich aufrichtete, applaudierte die Menge und Severyn hob erhaben das Kinn, während ein wohliger Schauer seinen Rücken hinabjagte. Oh, er konnte kaum erwarten, öfter in diesem Licht zu stehen. Heute war er seinem Leben als Herrscher einen Schritt nähergekommen. Bis er den Titel tragen würde, mochte es zwar noch dauern, doch es tat gut, von der alten Macht zu kosten.
»Spielt!«, befahl er und das Orchester auf einem Podest stimmte ein Lied an. Severyn trat auf Prinzessin Elain de Beur zu, bot ihr die Hand, wie seine Mutter ihm in den letzten Tagen unzählbar oft eingeschärft hatte. »Darf ich bitten?«
»Selbstredend.« Die junge Frau reichte ihm die Hand. Severyn führte sie zur Tanzfläche und nahm Haltung ein, umschloss ihre Taille, während sie ihm die Hand auf die Schulter legte. Er empfand nichts.
»Gratulation zu Eurem Geburtstag«, sagte die Prinzessin freundlich.
»Danke. Ich weiß zu schätzen, dass Ihr den Weg hierher auf Euch genommen habt.«
»Tut Ihr das?« Sie lächelte. »Es ist ein schönes Fest – ich danke für die Einladung. Auch ich befinde mich im Rat der Drei, wir werden einander sicher öfter begegnen. Ich freue mich, nun jemand anderen in meinem Alter dort zu wissen.«
»Ich ebenso. Gehen die Sitzungen zumeist reibungslos vonstatten?«
»Nun, man sagt den Eshwen nach, sie hätten zu viel Arroganz an sich, und den Skoggen, sie seien abergläubische Schafe. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: Ein Stück weit stimmt beides. Aber es gefällt mir, dort Persönlichkeiten zu begegnen, die nicht so … einfach sind wie die meisten Moorie.«
Severyn lächelte, was die Grafentochter erwiderte, während sie die ersten Schritte machten. Elain de Beur mochte die beste Partie in diesem Saal sein und sich mit ausgesprochener Intelligenz und Großherzigkeit rühmen, doch sie war ihm zu kräftig, ihr Gesicht zu farblos und einfach für einen aufstrebenden Fürsten. Die Tanzschritte beherrschte sie, wenngleich sie stets ein wenig hinter ihm zurückzubleiben schien. Und letztlich hätte sie tun können, was sie wollte: Sie war nicht Breya und deswegen würde sie niemals genügen. Als das Lied verklang, verabschiedete sich Severyn in aller Höflichkeit, die er aufzubringen in der Lage war, und Elain durfte sich einen anderen Tanzpartner aussuchen.
Er hätte gern ein Wort mit Breya gewechselt, doch als er den Saal durchquerte, kam ihm Prinz Azahr zuvor und führte sie nach einem kurzen Wortwechsel in die Saalmitte.
Severyn blieb bei einem Tisch mit Appetithäppchen stehen und winkte nach einem Weinglas. Wenn er hierbei zusehen sollte, war Alkohol notwendig. In seinem Inneren regte sich ein schwaches, unschönes Gefühl, als sie die ersten Schritte machten. Breyas schieferfarbenes Kleid fand sich farblich mit der dunklen Haut des Narraphprinzen – seine hellen, eleganten Gewänder dagegen spiegelten sich in ihrer Blässe und ihrem goldblonden Haar.
»Und?« Severyn entdeckte seine Mutter, die sich genähert hatte. Sie winkte eine Bedienstete mit einem Tablett näher und ließ sich von ihr ebenfalls einen Wein reichen. »Wie findest du sie? Elain de Beur?«
»Sie ist voreingenommen und neugierig. Und besitzt die Klugheit einer Eintagsfliege. Mutter, bitte, eine wie sie ist unter meiner Würde.«
»Ein wenig einfach sieht sie schon aus. Aber voreingenommen? Redet doch ein wenig, Seryn. Sicher wirst du Gutes an ihr finden. Soll ich ihr einen Brief an ihre Eltern mitgeben?«
»Nein«, sagte Severyn sogleich. »Himmel, kannst du mir nicht einfach zum Geburtstag gratulieren?«
»Ich bin deine Mutter.« Nerys trank ungerührt einen Schluck Wein. »Wenn jemand mit deiner Heirat betraut sein sollte, dann ich. Sonst kümmert sich ja niemand.«
Severyn wandte das Gesicht ab. Bisweilen war er versucht, seiner Mutter einfach zu eröffnen, dass Breya und er einander liebten. Dass sie gar nicht seine Schwester war, auch wenn das alle dachten. Dann wollte er sie vor Nerys’ Augen küssen und dem Gerede von Heirat und Liebe damit ein für alle Mal ein Ende bereiten. Dabei zuzusehen, wie ihr alles aus dem Gesicht fiel, wäre jedenfalls ausgesprochen zufriedenstellend gewesen. Leider war seine Mutter dumm wie ein Laib Roggenbrot und so von Vorurteilen eingenommen, dass die Erkenntnis über das Mädchen, das sie wie eine Tochter aufgezogen hatte, in ihren Händen fatale Folgen haben konnte. Severyn wünschte, sie wäre ein bisschen mehr wie sein Vater. Zumindest der war in der Lage, sie so zu akzeptieren, wie sie waren.
»Sie harmonieren gut.« Nerys beobachtete, wie Breya und Prinz Azahr tanzten. »Sieh, wie sie sich bewegen. Man könnte meinen, sie wären füreinander gemacht.«
»Er ist viel zu grobschlächtig.« Severyn musterte Azahr, dessen Bewegungen dahinflossen wie eine Bergquelle. »Sie ist viel zarter. Es sieht aus, als würde er sie durchbrechen, wenn er sie an der Taille ergreift.« Und Azahrs Hände gehörten nicht dorthin.
»Du magst ihn nicht?«
Severyn hob die Brauen ein Stück. »Ich glaube jedenfalls, dass er viel hinter dieser freundlichen Fassade verbirgt. Hast du dich je gefragt, ob dieser einfältige, landlose Narraph dich vielleicht um den Finger gewickelt hat?«
»Euer Vater und Prinz Azahr haben gestern miteinander gesprochen«, sagte Nerys nach einem Augenblick. »Sie denken an eine Verbindung unserer Häuser.«
Severyn verschluckte sich fast an seinem Wein.
»Azahr mag kein Land und keinen Thron mehr haben«, fuhr Nerys fort. »Nach dem verheerenden Feuer in Narraph ist davon schließlich nicht mehr viel übriggeblieben. Doch er verfügt noch immer über eine Armee und ein Volk. Und vor allem ist es Wissen, das er deinem Vater anbietet. Dafür will er eine Gegenleistung.«
»Vater wird da nicht zustimmen.«
»Warum nicht? Ich weiß, du bist anderer Meinung, aber ich finde, Azahr ist ein ausgesprochen wohlerzogener junger Mann und sicherlich auch ein angemessener Gemahl. Was sollte deinen Vater davon abhalten, einer solchen Verbindung zuzustimmen?«
»Dass es sich nicht schickt, das jüngere Kind zuerst zu verheiraten«, sagte Severyn ein wenig zu hastig. »Solange ich nicht vermählt bin, muss Breya damit warten. Außerdem ist sie …«
»Siebzehn Jahre alt. Und damit im heiratsfähigen Alter, mein Kind.« Nerys drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Für mich bedeutet das vor allem eines: Dass es höchste Zeit wird, dass du eine Gemahlin findest. Womöglich Elain de Beur? Oh.« Nun war sie auf eine Person aufmerksam geworden, die soeben durch das Eingangsportal getreten war. »Ja. Ich dachte auch an die Tochter Jakob Klingwahrs, das hätte unsere Verbindung zu Austradar festigen können. Leider scheint Adeena ein wenig … beeinträchtigt zu sein.«
Severyn entdeckte die junge Frau, die seine Mutter meinte. Sogleich wurde ihm klar, worauf sie anspielte. Adeena Klingwahr war schön, das wohl: groß, aber von zarter Statur, mit einem Schwanenhals und schmaler Taille. Ihr glänzendes, dunkles Haar hob sich wie Ebenholz von dem hellen, schulterfreien Kleid ab. Womöglich hätte sie die Blicke wegen ihrer Schönheit auf sich gezogen – wäre da nicht ihr humpelnder Gang gewesen, die Art, auf die ihre Beine bei jedem Schritt einzuknicken schienen und wegen der sie am Arm ihres Vaters nach Halt suchen musste.
»Wirklich schade. Sie hätte eine gute Partie abgegeben.« Nerys drückte Severyns Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Rede doch noch mal mit Elain de Beur.«
Als sie gegangen war, blieben Severyns Gedanken an den Klingwahrs hängen. Die ganze Zeit über hielt sich Adeena nah an ihrem Vater, der einige Adlige begrüßte und rasch in ein Gespräch verwickelt wurde. Man sah der jungen Frau an, dass sie angespannt war, wenngleich man die Steifheit ihrer Schultern auch bloßer Gewohnheit zuschreiben konnte.
Das Stück war verklungen und Breya und Azahr steuerten Arm in Arm auf ihn zu. Breya lächelte Severyn an, als sie bei ihm stehenblieben. »Ich gratuliere dir, Severyn.« Azahr ergriff seinen Arm, wie es narraphsche Tradition war. Der weiche Wüstenakzent klang aus seiner Stimme, als er sprach: »Ich hoffe, du vergibst mir, dass ich in meiner aktuellen Situation nicht viel als Geschenk anzubieten habe. Sobald sich meine Lage verbessert, reiche ich natürlich etwas nach.«
»Danke, nicht nötig.« Severyn versuchte höflich zu klingen. Er verzichtete gern auf ein Geschenk, wenn eine Verbesserung seiner Lage bedeutete, dass Azahr Breya heiratete.
Aber nein, sein Vater würde das nicht erlauben. Severyn war sich bewusst, dass er einer Heirat mit einer anderen Frau nicht für immer entgehen konnte – nicht, wenn er Breyas Geheimnis nicht aufdecken wollte. Doch Barcat hatte stets versichert, dass er und Breya zusammenbleiben konnten. Dass die Prinzessin, die im Grunde genommen ohnehin nicht erbfähig war, nicht verheiratet werden würde. Sein Vater hatte versprochen, dass sie dann beieinander sein durften. Er würde diese Heirat sicherlich nicht erlauben.
Das änderte nicht unbedingt etwas daran, dass Severyn Azahr gern versehentlich den Wein über das cremefarbene Hemd gekippt hätte, aber es milderte seine Sorge.
»Du wirst bald nach Dalenna reisen, nicht wahr?«, fragte Azahr.
Severyn nickte. »Es ist gut, sich dort einmal zu zeigen und mit dem Volk bekanntzumachen. Ich habe bereits ein paar Reformen durchgebracht, als ich noch meinem Vater unterstand, aber jetzt, da Dalenna allein in meiner Hand liegt, investiere ich selbstredend mehr.«
»Ich werde ihn heute nach dem Fest fragen, ob ich dich begleiten kann«, sagte Breya. »Wenn er Wein getrunken hat, ist es einfacher, ihn zu überzeugen.«
»Das sollte ich mir merken«, meinte Azahr und Breya lachte hell. Der Narraph hatte sich ein Glas reichen lassen, das er nun an die Lippen hob. »Warum begleitest du deinen Bruder? Benötigt er Hilfe beim Regieren?«
»Keinesfalls«, schaltete Severyn sich ein, »aber bisweilen ist eine zweite Meinung nichts Schlechtes, und Breya ist ausgesprochen intelligent. Deshalb habe ich sie gern an meiner Seite.« Die beiden tauschten einen Blick, in dem der Rest geschrieben stand.
»O ja. Mir ist schon aufgefallen, dass sie etwas ganz Besonderes ist«, meinte Azahr.
»Habt ihr eigentlich schon das Essen probiert?« Severyn griff nach einem der herzhaften kleinen Kuchen auf dem Tisch. »Azahr, sicher bist du noch nicht mit der Tamha-Tarte vertraut. Dabei ist sie eine Spezialität der Eshwen. Man sagt unseren Köchen nach, sie würden die besten zubereiten.«
Azahr ließ sich einen Kuchen reichen und biss neugierig ein Stück des Blätterteiggebäcks ab. Während er kaute, nickte er mit Anerkennung.
»Fantastisch, oder? Sie werden mit Spinat und Schinken hergestellt.«
Azahr, der gerade ein zweites Mal abgebissen hatte, schien das Essen wieder hochzukommen.
»Oh«, sagte Severyn. »Ich vergaß, dass du kein Fleisch isst.«
Mit Genugtuung verfolgte er, wie Azahr nach einer Serviette griff und versuchte, möglichst anständig seine Speisen auszuspucken. »Die verfluchten Wälder sollen dich holen«, brachte er schließlich hervor und Severyn lachte. Breya zog tadelnd die Brauen zusammen, doch er war sicher, dass sie ihm das vergeben würde.
»Bist du diesen Austriern schon begegnet?«, fragte er sie, während Azahr nach seinem Weinglas griff, um den Geschmack aus dem Mund zu spülen.
Breya nickte. »Mutter und ich haben sie empfangen. Sie war nicht gerade freundlich zu dem Mädchen. Nachdem wir ihr begegnet sind, hat sie sich ein wenig schlaugemacht. Eine Bedienstete, die die Klingwahrs mitgebracht haben, hat ihr erzählt, dass Adeena als Kind nie gesprochen hat. Sie soll immer sehr abwesend und nachdenklich gewesen sein. Nachts hat sie oft geschrien und alle um den Schlaf gebracht und wenn man sie berühren wollte, hat sie gekratzt und gebissen. Angeblich soll sie auch Insekten getötet und in ihrem Gemach getrocknet haben.«
Severyn schob die Brauen zusammen. »Muss hart sein. Die Austrier sind den Wäldern so abgeneigt und dann kommt ihnen so ein Abschaum ins Haus. Weißt du, warum man sie nicht hat beseitigen lassen, solange es möglich war?«
»Ihr Vater liebt sie sehr«, erklärte Breya. »Er ist überzeugt, dass es sich bei der schiefen Hüfte um einen Geburtsfehler handelt.«
Severyn lachte auf. »Das ist, was sie ihn glauben lassen will. Er kann froh sein, dass sie ihm noch nicht des nachts die Kehle durchtrennt hat.«
In Breyas Blick stand Bedauern und Severyn spürte einen Funken Reue über seine Worte. Wechselbälger waren tückisch, niederträchtig und oftmals schwierig zu enttarnen, hieß es in den Legenden, und die Eshwen waren ihnen beinahe so abgetan wie die Austrier. Dass Severyn ihnen nicht so viel Abscheu entgegenbrachte, lag bloß an Breya. Ein Wechselbalg zu kennen und allem voran zu lieben, hatte ihm bewiesen, dass es sich bei diesen nicht immer um etwas Schlechtes handelte. Dass sie womöglich sogar ein Geschenk Keyll Naomhs waren. Warum sonst hatten die Wesen der Wälder den starren, bläulichen Körper seiner richtigen Schwester gegen ein gesundes Kind ausgetauscht? Gegen dieses Geschöpf hier vor ihm, das so viel Güte und Liebe und Vollkommenheit in sich trug? Die wahre Breya war gestorben und für seine Schwester hatte Severyn dieses Mädchen erhalten, das ihm zu lieben erlaubt war.
War das Hexerei? Wenn es welche war, dann war es die schönste, die Severyn sich ausmalen konnte. Dann wollte er nichts mehr, als für immer unter ihrem Bann zu stehen.
»Wechselbälger«, sagte Azahr. »Die wurden in Narraph verbrannt, wenn man sie in die Finger bekam.«
Sowohl Severyn als auch Breya warfen ihm aufmerksame Blicke zu.
»Narraph ist weit weg von den Wäldern. So etwas kam selten vor«, erklärte Azahr, »aber wenn doch ein Wechselbalg hergelangte, wurde es beseitigt, ehe es das Vieh sterben lassen und Krankheiten über die Familien bringen konnte.«
»Hier werden sie meistens wieder in den Wäldern ausgesetzt, wo die Geschöpfe von Keyll Naomh sie zurückholen«, erklärte Severyn. »Mit ein wenig Glück kehren die wahren Kinder sogar wieder heim.« Vorausgesetzt, sie waren noch am Leben.
»Es ist jedenfalls ziemlich mutig, sie im Haus zu behalten«, sagte Azahr.
Severyn nickte abschätzig. »Es ist ziemlich mutig und vor allem ziemlich unverschämt, sie in das Schloss eines fremden Fürsten zu bringen.«
»Und was willst du dagegen unternehmen?«, fragte Breya. Als sie ein sachtes Lächeln in seinen Mundwinkeln zucken sah, wurde ihre Stimme schärfer und sie hob warnend den Finger: »Du lässt sie nicht hinauswerfen, Severyn.«
»Wer wäre ich? Vor all den Leuten? Komm, du kennst mich, es gibt andere Wege.«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn und Severyn wusste, dass sie nicht mit dem einverstanden sein würde, was er vorhatte. Doch beide wussten, dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als die Abneigung Wechselbälgern gegenüber weiter zu schüren. Severyn hatte begriffen, welches Geschenk sie erhalten hatten. Aber die anderen Eshwen waren den Wechselbälgern gegenüber noch immer misstrauisch. Er wollte sich die Reaktionen nicht ausmalen, wenn herauskäme, dass sich ein solches Monster in der Herrscherfamilie eingeschlichen hatte.
Nein, Breyas Identität musste geheim gehalten werden, und dafür musste auch Severyn die Vorurteile auf der Zunge tragen, die jedem Eshwen innewohnten.
Womöglich war Adeena ja wahrlich, was man ihr nachsagte. Und selbst wenn Breya das nicht gefallen würde, ein wenig freute er sich auch, jemanden irreleiten zu können.
»Kommt.« Er winkte die beiden mit. »Ich will sie ein wenig näher kennenlernen.«
Adeena war nie in einem Saal gewesen, der so viel Prunk und Schönheit in sich vereinte. Der Boden spiegelte die kleinen Flammen der Kronleuchter und Laternen, warf das Licht tausendfach von den Wänden und Säulen zurück. Überall glänzten Gold und Grün, dunkler Marmor und polierte Statuen. In allem spiegelte sich der Wald: in den Baumkronen und Wurzelwerk symbolisierenden Intarsien und Reliefs an den Wänden, in der Motte, die als Mosaik den Boden schmückte. Der Saal war so einschüchternd schön, dass sich der Weg hierher allein dafür gelohnt hatte.
Nur zu wenigen Anlässen hatte Adeena ihre Familie auf Bälle oder andere Feierlichkeiten begleitet. Deshalb überwältigten sie die vielen Eindrücke, das Stimmengewirr, die aufwendigen Kleider und die Musik, sobald sie den Saal betreten hatten. Unwillkürlich war sie froh, dass ihr Vater an ihrer Seite war und sie sich nicht allein vor dieser Übermacht wiederfand.
»Hunger?«, fragte Jakob Klingwahr und wies auf den Tisch mit Häppchen.
Adeena nickte, obwohl ihr eigentlich nicht nach Speisen war. Sie hatte ihren Vater überredet, ein wenig zu spät zu kommen, damit sie sich unbemerkt unter die Leute mischen konnten, wenn das Fest bereits im Gange war. So hatte sie gehofft, der Missgunst der Gäste entgehen zu können. Die Adligen, mit denen sie soeben gesprochen hatten, tuschelten dennoch hinter vorgehaltener Hand, auch wenn sie so freundlich gewesen waren, Adeena nicht offen anzustarren.
»Mal sehen, hier sind Pasteten, Zanderfilet, Marillentorte … sieh, es gibt sogar Pralinen!« Ihr Vater wies auf eine Etagere, auf der liebevoll verzierte Schokolade angerichtet war. »Ich hätte auch nichts gegen einen Sekt einzuwenden. Oder einen Staubigen. Aus Erlendam …«
»Vater.« Adeena stieß ihn amüsiert an. »Lass uns lieber versuchen herauszufinden, welche dieser Pralinen Marzipan enthält.«
Jakob zitierte: »Plagt mich die Sorge, dann und wann, hol mein Konfekt aus Erlendam, das süße, weiche Marzipan, dem keiner widerstehen kann.« Die beiden grinsten einander zu.
»Dabei weiß doch jeder, dass Marzipan aus Kermten stammt«, sagte Adeena.
»Aus Erlendam!«, erwiderte ihr Vater.
»Ich habe dir zuletzt eine elfseitige Abhandlung darüber geschrieben.« Sie lachte. »Kermten! Erlendam ist so klein, es wurde nie und nimmer belagert.«
»Das ist zwar wahr, aber ich komme von dort, also verfügt es über einen Heimatbonus. Aber welche von diesen Pralinen sind denn nun mit Marzipan?«
»Es sind die mit der dunklen Ummantelung.« Adeena wandte den Kopf. Ein junger Mann war bei ihnen stehengeblieben. Seine edlen, zeremoniellen Gewänder, die Silberfarbe auf seiner Stirn und der goldene Reif, der sein Haar schmückte, ließen nur einen Schluss zu, um wen es sich handelte. Prinz Severyn war ein junger Mann mit prägnanten Wangenknochen, einem charmanten Lächeln und kontrolliertem, gewandten Erscheinen. Das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn, sein Gesicht war glattrasiert. Hinter ihm entdeckte Adeena seine Schwester und einen hochgeschossenen Adligen mit dunkler Haut.
»Ich würde aber eher die mit der hellen Pralinenfüllung empfehlen«, fuhr Severyn fort und seine Schwester schmunzelte, »mindestens eine der Pistazien ist meistens schlecht. Das ist dann keine schöne Erfahrung mehr.«
»Hoheit.« Adeena bemühte sich um einen möglichst gewandten Knicks.
Auch ihr Vater verneigte sich. »Wir wünschen Euch viel Gutes zum Geburtstag. Den Segen Amadeus’, Zufriedenheit und Gesundheit. Und stets Glück darin, auf keine schlechte Nuss zu stoßen.«
»Solche Geburtstagswünsche höre ich gern.« Severyn lachte. »Oh, wo wir schon dabei sind: vielen Dank für Euer originelles Geschenk. Es ist eine große Ehre, der erste Eshwen zu sein, der über eine Schreibemaschine verfügt.«
»Bitte gern.« Jakob Klingwahr nickte freundlich.
»Ich habe sie bereits auszuprobieren versucht«, bemerkte Breya. »Es ist ziemlich schwierig, die Hebel richtig anzuordnen.«
»Jaaa, die Spannung muss erst richtig eingestellt werden.« Jakob wog den Kopf. »Ich wollte es noch erledigen, aber wir waren ohnehin schon verspätet. Wenn Ihr Euch dafür interessiert, können wir es morgen gern gemeinsam machen, Hoheit.«
»Ja! Ich interessiere mich sehr dafür«, sagte Breya eifrig. »Ich liebe neue Dinge.«
»Dann wisst Ihr sicher, dass die erste Schreibemaschine von Patrick Turmreich erfunden wurde, um seiner erblindeten Großtante das Schreiben zu erleichtern, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Stimmt es, dass sie seitdem Romane schreibt?«
Adeena hatte nicht viel zum Gespräch beizutragen und griff nach einer Praline. Sie benutzte die Schreibemaschine zuhause ständig. Zuletzt hatte sie ihre Gedichte mit den Typenhebeln zu Papier gebracht. Aber das ging weder jemanden etwas an noch würde es wohl einen der Anwesenden interessieren … mit Ausnahme ihres Vaters.
»Gefällt Euch das Fest?«, fragte Severyn und Adeena zuckte.
»Das Fest? Sehr. Euer Schloss ist ausgesprochen beeindruckend.«
»Azahr sagte dasselbe nach seinen ersten Tagen hier. Nicht wahr?«
»Durchaus«, sagte der Narraph. »So viel Prunk ist betörend schön. Wobei mich die Nähe zum Wald Respekt empfinden lässt. Euch muss es doch ähnlich gehen.«
Adeenas Schultern blieben angespannt. Sie konnte nicht einordnen, warum sie sich so freundlich mit ihr unterhielten. War es möglich, dass die beiden noch nicht gesehen hatten, wie sie humpelte? Machten sie Scherze mit ihr? Oder war es möglich, dass der Kronprinz und sein Freund tatsächlich anders als seine Mutter und die übrigen Eshwen waren?
Sie musterte den Narraph nachdenklich. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht und einen kurzen, ordentlichen Bart, der den Kiefer umschmeichelte. Die rabenschwarzen Haare hatte er traditionell geflochten und halb zusammengebunden. Seine Bewegungen waren anmutig wie die einer Raubkatze.
Erst da ging Adeena auf, um wen es sich handeln musste. »Ihr seid Prinz Azahr. Der Kronprinz von Narraph.«
Der Narraph neigte den Kopf. »Das ist wahr.«
»Es tut mir leid um Euer Reich«, sagte sie betroffen. »Ich habe von den verheerenden Bränden in Narraph und Eurer Flucht gehört. Mein Beileid auch zum Tod Eures Vaters. Weiß man mittlerweile, wie es zu dem Unglück kommen konnte?«
»Ich danke Euch, und nein, die Brände werfen noch immer Rätsel auf. Sagen wir so – es war keine gute Zeit.« Azahr seufzte. »Glücklicherweise haben die Eshwen uns Asyl gewährt, das spendet uns Hoffnung. Mein Volk und ich sind Fürst Barcat zu großem Dank verpflichtet. Als wir herkamen, waren wir vollkommen entkräftet. Viele waren ausgehungert, den Wäldern zum Opfer gefallen oder verwundet. Barcat brachte uns, was wir brauchten, und Severyn nahm mich auf wie … ein Bruder.«
»Das ist selbstverständlich«, sagte Severyn wohlwollend.
Adeena nickte. »In Austradar wurden auch einige Geflohene aufgenommen. Kaiser Ferdinand gibt sein Bestes, Euer Volk zu versorgen, damit es sich erholen kann.«
»Euer Kaiser ist ein ebenso gütiger Mann, wie Severyns Vater es ist.« Azahr tat das Thema mit einer Geste ab. »Aber nun lasst uns nicht von solch schwermütigen Dinge sprechen, schließlich ist Severyns Geburtstag. Ich hörte von der fantastischen Baukunst Austradars, Ihr müsstet doch mit schöner Architektur wie dieser vertraut sein.«
Adeena nickte. »Sicher, die Austrier verstehen sich auf Architektur. Erst kürzlich soll Kaiser Ferdinand seine Residenz ausgebaut haben, das soll sehr beeindruckend aussehen.«
»Warum habt Ihr es noch nicht angesehen?«, fragte Severyn.
»Ich bleibe lieber für mich.«
»Das ist schade. Den Austriern entgeht viel, wenn sie Euch nicht zu Gesicht und zu Ohren bekommen.«
Adeena versuchte, sich nicht zu versteifen. »Vergebt mir, Hoheit, aber Ihr übertreibt.«
»Ihr scheint, als hättet Ihr viel zu sagen, wenn man Euch nur lassen würde.« Severyns Blick lag ruhig auf ihr und Adeena war irritiert über die Ehrlichkeit, die sie darin fand. Tat sie ihm Unrecht, weil sie misstrauisch blieb? Er erschien so sympathisch und auch Azahr stand ihm in nichts nach.
»Sagt, was gefällt Euch am besten an Eshwen?«, fragte Severyn.
»Die Aussicht auf die Wälder. Von meinem Gemach aus konnte ich mich kaum sattsehen. So etwas bekommt man in Austradar nicht zu Gesicht – das wird die Erinnerung sein, die ich am tiefsten in meinem Herzen wahren will.«
Severyn schaute amüsiert. »Ihr seid wahrlich interessant. Die Aussicht von Eurem Gemach aus ist noch gar nichts. Wollt Ihr den Ort hier im Palast sehen, von dem man die Wälder am besten sehen kann?«
Zögernd blickte Adeena zu ihrem Vater, doch dieser war noch immer in das Gespräch mit Prinzessin Breya vertieft. Es widerstrebte ihr, sich von ihm zu trennen, selbst wenn die beiden Prinzen ausgesprochen höflich waren.
»Ich kann nicht gut gehen«, wagte sie zu sagen.
»Das ist in Ordnung. Wir haben alle Zeit der Welt.« Severyn drückte Azahr das Weinglas in die Hand und bot ihr den Arm, welchen Adeena nach kurzem Hadern ergriff. Von ihrem Vater erhielt sie ein ermutigendes Lächeln. Severyn verließ den Ballsaal mit ihr, Azahr winkte und klinkte sich dann in das Gespräch mit ein, das ihr Vater und Breya führten.
Dafür, dass sein Volk Wechselbälgern so abgetan war, verhielt sich Severyn ausgesprochen rücksichtsvoll. Seine Schritte waren langsam und er beobachtete sie die ganze Zeit, um sich zu vergewissern, dass sie gut mithielt. Adeena war davon ausgegangen, dass der Prinz ebenso vorurteilsbelastet sein würde, wie seine Mutter es gewesen war. Tatsächlich aber glich er viel mehr seiner Schwester. Und obwohl sie nicht hergekommen war, um Freundschaften zu schließen, war es doch schön, dass sie jemand … ganz normal behandelte.
Adeena bemühte sich, ein angemessenes Tempo aufrechtzuerhalten und nicht angestrengt zu keuchen, als sie die Korridore durchquerten. Die Laternen malten geheimnisvolle Muster an die Wände, sodass die eingravierten Motten in ihrem Licht zu tanzen und mit den Flügeln zu schlagen schienen. Die kleinen Falter fanden sich überall im Schloss wieder. Selbst die Kleider, die die Königsfamilie getragen hatte, waren der Flügelmusterung des Wappentiers nachempfunden.
»Ich muss mich für das Betragen meiner Mutter heute Nachmittag entschuldigen«, sagte Severyn, als sie ein Portal durchquerten. »Breya hat mir erzählt, was vorgefallen ist. Meine Mutter begreift einfach nicht, wo ihre Grenzen liegen. Es ist nicht klug, jemanden vor allen anderen bloßzustellen.«
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt.«
Er machte ein betroffenes Gesicht. »Das klingt traurig.«
»Wenn man anders ist, reagieren die meisten mit Angst«, sagte Adeena vorurteilslos. »Das ist in Ordnung. Womöglich wäre ich genauso, wäre ich ganz gewöhnlich.«
»Das glaube ich nicht. Ihr seid klug und würdet Euch nicht so unreflektiert verhalten. Ihr wärt auch ungewöhnlich, wenn Ihr nicht humpeln würdet, Adeena.«
»So wie Ihr? Ihr verurteilt mich nicht.«
»Sollte ich das denn? Ich nehme an, die Gerüchte über Euch treffen nicht zu.«
»Das kommt darauf an, welche Gerüchte Euch zu Ohren gekommen sind.«
Severyn musterte sie aufmerksam. »Habt Ihr Eure Familie des Nachts durch Geschrei aus dem Schlaf gerissen? Oder gebissen, wenn Euch jemand berührt hat? Habt Ihr Insekten auf der Fensterbank getrocknet?«
Mit jedem Wort überkam es Adeena heißer. »Ich hatte als Kind viele Albträume. Was den Rest angeht …« Ihr Herz wollte lügen, doch sie bekam die Worte nicht über die Lippen. Sie hatte Bedienstete gebissen, wenn auch nicht mit Absicht. Adeena dachte an die Rahmen in ihrem Zimmer, die Falter, die sie studiert hatte. »Ich … bin kein Wechselbalg«, war das Einzige, was sie zu sagen wusste.
Eine Weile schwieg Severyn und sie begann zu glauben, dass sie es sich verscherzt hatte. »Oftmals sind Dinge anders, als es den Anschein macht«, sagte der Prinz dann allerdings. »Selbst wenn alle Beweise dagegensprechen.« Er hatte sie durch eine Tür gelotst und nickte zu einer gewundenen, steinernen Treppe. »Dort müssen wir hoch. Schafft Ihr das?«
Adeena atmete tief ein und straffte die Schultern. »Ja. Sicher.«
Severyn hatte eine Hand auf ihrem Rücken, um sie zu stützen, als sie die Treppe zu erklimmen begannen. Obwohl Adeena sich tapfer voranschob, wurde jeder Schritt schwerer zu bewältigen und ihre Hüfte brannte rasch wie glühende Kohle. Die Tatsache, dass sie das Ende der Treppe nicht ausmachen konnte, ließ den Aufstieg ewig lang erscheinen. Adeena raste das Herz vor Anstrengung und Frustration und bald musste sie eine Pause machen und sich am Geländer festhalten, um nicht auf die Stufen zu sinken.
»Geht es?«, fragte Severyn.
»Ich … ja.« Adeena nickte. »Ich brauche nur …«
Er hob die Brauen, als sie verstummte. Dann trat er näher. »Wenn Ihr erlaubt. Ich will Euch da oben sehen, und wenn Ihr es selbst nicht schafft, muss ich Euch eben tragen.«
»Aber …«
Ehe Adeena widersprechen konnte, hatte er sie hochgehoben. »Gut festhalten«, sagte Severyn sanft, ehe er die restlichen Stufen hinter sich brachte. Adeena, die noch ganz überrumpelt war, hielt sich an seiner Schulter fest und half ihm, die Luke über ihren Köpfen aufzustoßen, sobald sie oben angekommen waren. Als sie ins Freie traten und Severyn sie absetzte, war ihr ganz warm und ihre Wangen hatten sich rot gefärbt.
»Danke.«
»Gern. Ich mag es, wenn Pläne aufgehen.« Severyn lächelte sie an und wies dann zur Seite. Vor Staunen verfing sich der Atem in Adeenas Brust. Sie befanden sich auf dem höchsten Turm des Palasts, auf einem Rundlauf, der die geziegelte Turmspitze umschloss. Mit langsamen Schritten trat sie auf den Rand zu, ließ die Hände auf die Hängepflanzen sinken, die die Zinnen wie ein Teppich überwucherten. Unter ihnen erstreckte sich die Stadt, angefüllt mit Lichtern in allen Farben und schillernden Ostarafeuern. Einzelne Musikfetzen drangen an ihr Ohr, hin und wieder auch das Lachen der Gäste auf dem Schloss, die unten im Garten unterwegs waren. Außerhalb der Stadtmauern erstreckten sich die Felder, in der Ferne war eine weitere, hell erleuchtete Stadt in Sicht. Zu ihrer Rechten erhob sich der Wald, atemberaubend und ewig.
»Wie schön«, wisperte sie.
»Ihr könnt in alle Richtungen blicken.« Severyn trat ein paar Schritte auf die andere Seite des Rundlaufs. »Bei guter Sicht erkennt man tagsüber manchmal sogar Dalenna.«
»So etwas Wunderbares habe ich noch nie gesehen.«
Severyn lächelte halb. »Das hatte ich mir gedacht.«
»Danke, dass Ihr mir das gezeigt habt.« Adeena wandte sich ihm zu. »Dass Ihr mir geholfen habt.«
»Wenn ich Euch damit eine Freude gemacht habe, sind wir beide glücklich. Ihr bekommt diesen wunderbaren Anblick und ich … nun, unten im Ballsaal wart Ihr ohnehin nicht besonders glücklich, nicht wahr?«
Die Worte wärmten Adeena von innen. Sie war nicht sicher, ob ihr jemals jemand eine solche Freude gemacht hatte, der nicht ihr Vater war. Selten hatte sie sich so geschätzt gefühlt, so … verstanden.
Der Wind frischte auf und sie fröstelte leicht. Am Himmel hatten sich Wolken zusammengezogen, die die Sterne hinter sich versteckten. In dem seidenen Kleid war Adeena so hoch oben nicht gerade angemessen gekleidet, darum schlang sie die Arme um den Körper.
»Ist Euch kalt?« Severyn hob die Hände. »Unten gibt es Decken. Ist es in Ordnung, wenn ich welche holen gehe?«
»Gern. Ich habe mich längst nicht sattgesehen.«
»Dann lauft nicht weg.« Severyn lächelte ihr nochmals zu, ehe er den Turm umrundete, um durch die Luke zurück nach unten zu steigen. Adeena bewunderte die goldene Stadt und die verwunschenen Wälder eine Weile, die Arme um den frierenden Körper geschlungen. Ob die Menschen unten die Feier genossen? Würden sie die Lichter löschen, wenn es zu regnen begann? Wie mochte es sein, sich in den Wäldern zu befinden, wenn der Regen auf dem Blätterdach sang?
Ein Tropfen traf ihren Nacken und sie fuhr sich über die bloße Haut, um ihn fortzuwischen. Sogleich fiel ein neuer auf ihre Wange, dann auf ihr Haar. Adeena seufzte. Bei Regen würde auch eine Decke nicht helfen, selbst wenn sie zu gern geblieben wäre. Vor allem, weil sie nicht sicher war, ob sie noch mal jemand diese Stufen hinauftragen würde.
Sie humpelte zur Luke, um auf Severyn zu warten und ihn zu bitten, ihr nach unten zu helfen. Doch als sie auf die Treppe zutrat, überlief sie ein eisiger Schauer, der nicht vom Wind herrührte. Adeena eilte auf die Luke zu, beugte sich hinunter und fluchte, als ihre Hüfte zwickte und sie sich reflexartig auf die Knie fallen ließ. Schmutz blieb an ihrem Kleid hängen – dann aber wurde ihr Ärger von blanker Panik überlagert, als sie nach dem Ring griff und kräftig daran zog. Die Luke ließ sich nicht öffnen.
»Severyn?«, rief sie und klopfte gegen das Holz. »Hallo? Severyn!«
Der Regen wurde stärker, benetzte ihre Schultern und sog sich in die Seide ihres Kleids. Adeena zerrte an dem Metallring, doch die Luke wollte und wollte sich nicht öffnen lassen. Wütend schlug sie gegen die eisenbeschlagene Platte, als ihr klarwurde, was für ein naives Stück sie war.
Severyn hatte gesagt, dass er zurückkehrte! Nicht wahr?
Nein, er hatte nur gefragt, ob sie bleiben wollte. Er hatte nicht mal gelogen.
Es ist nicht klug, jemanden vor allen anderen bloßzustellen. Unten im Ballsaal wart Ihr ohnehin nicht besonders glücklich, nicht wahr?
Ich mag es, wenn Pläne aufgehen.
Adeena schrie frustriert auf, als ihr klarwurde, dass sie auf ihn hereingefallen war. Dass sie es Severyn nicht mal vorwerfen konnte, weil einzig ihre eigene Torheit sie so weit gebracht hatte. Verflucht, warum war sie so dumm gewesen?
Der Regen schwoll zu einem Wolkenbruch an, Donner rollte über den Himmel und Adeena schlug gegen die verschlossene Luke. »Macht auf!«, rief sie. »Macht auf!«
Dabei war sie sicher, dass niemand sie hören würde.