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Ein Neubeginn

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Das Zwitschern von Vögeln weckte Mattys am nächsten Morgen. Durch das angelehnte Fenster und die halb zugezogenen Vorhänge drangen Sonnenschein und der Geruch des Straßenpflasters, das von der Wärme getrocknet wurde. Es versprach, ein guter Tag zu werden – viel weniger regnerisch und trist als der vorige.

Mattys verlagerte das Gewicht und schob sich dichter an Rosie. Sie schlief noch fest und friedlich, einen Arm unter den Kopf geschoben, die Wange an seine Schulter gelehnt. Das Haar war offen um ihr Gesicht gebreitet, floss wie dunkle Seide über die Laken. Zwischen ihnen am Fuß des Bettes hatte Mollie es sich bequem gemacht, so ausgestreckt, dass ihre Vorderpfoten und die Schnauze über die Bettkante ragten und die Hinterläufe sich gegen die Wand stemmten.

Mattys gewährte sich noch einige Atemzüge an Rosies Seite, unter den wärmenden Laken und mit dem Geruch des anbrechenden Tages im Zimmer. Die Augen noch geschlossen, die Stirn gegen ihre geschoben – nicht gänzlich wach, aber auch nicht mehr schlafend. Es gab heute nichts, worum er sich sorgen musste. Er hatte alle Zeit der Welt.

Mattys lauschte den stetiger werdenden Geräuschen draußen, den klappernden Hufen und Wagenrädern auf dem Pflaster und den Gesprächen, die auf den Straßen erwachten. Vorsichtig, um Rosie nicht zu wecken, schob er sich aus dem Bett und kam auf die Beine, streckte die Glieder. Er versuchte, im Bad keine zu lauten Geräusche zu machen, als er die Müdigkeit im Becken fortspülte, das dunkle Haar ordnete und Parfum auftrug. Als er ein frisches Hemd und Hosen überzog und sich auf den Boden setzte, um die Schnürsenkel der Schuhe zuzubinden, hob Mollie mit schläfrigem Blinzeln den Kopf. »Shh«, machte er und legte einen Finger an den Lippen. Gehorsam glitt Mollie vom Bett und trat mit leisen Pfoten auf ihn zu. Mattys ließ sie sein Gesicht und die Hände beschnuppern und erlaubte, dass sie ihm über das Handgelenk schleckte. Wenn er auf dem Boden saß, waren sie genau auf Augenhöhe und er konnte ihr mit beiden Händen den Hals streicheln.

Mollie wartete an der Tür, als er Rosie die Decken über die Schulter schob. Schließlich schlüpfte er hinaus und trat die Stiege in den Schankraum hinunter. Die Wirtin, die sie gestern so unfreundlich begrüßt hatte, nahm gerade die Tagespost entgegen, während Angestellte duftende Blumengestecke auf den Tischen verteilten.

»Guten Morgen«, sagte Mattys, sobald der Briefbote verschwunden war.

»Ach.« Die ältere Dame warf ihm über ihre Lesebrille hinweg einen geringschätzigen Blick zu. Für eine Eshwen war sie klein, doch die leicht auseinanderstehenden Augen und der lange Hals bewiesen, dass sie dennoch eine war. »Der junge Mann von gestern Abend. Gut geschlafen?«

Mattys nickte. »Wunderbar. Ich hatte gehofft, nun ein ebenso wunderbares Frühstück erhalten zu können?«

»Frühstück ab acht Uhr.« Die Wirtin schob die Lesebrille hoch, um weiter die Briefe zu studieren. »Sofern man sich am Vorabend angemeldet hat.«

»Und es gibt keine Möglichkeit, noch etwas zu bekommen?«

»Sehe ich aus, als hätte ich zu wenig Kundschaft?«, schnappte die Alte.

Mattys ließ sich nicht von ihrem Ton beeindrucken. Für gewöhnlich hielt er nichts davon, unfreundlichen Menschen ihr Betragen mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Insbesondere die Eshwen waren bekannt für ihre Selbstgefälligkeit: Sie von etwas zu überzeugen, war ein Ding der Unmöglichkeit und in den meisten Fällen bloße Zeitverschwendung. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es meist effektiver war, wenn man sich interessiert gab.

»Verstehe. Ist sicher ziemlich stressig, eine Taverne wie diese zu führen, wenn ein Fest bevorsteht.«

»Wenn ihr heute Abend einen Tisch zum Essen wollt, wird es jedenfalls eng«, sagte die Wirtin spitz.

Mattys setzte sich auf einen der Stühle vor dem Tresen. »Klar, das hatte ich erwartet. Ist es nicht schwierig, so viel allein zu organisieren? Das Essen, die Dekoration, die Reservierungen …«

»Ja, ich mache eine Menge. Die können froh sein, dass ich hier das Sagen habe.« Die Wirtin ließ die Post sinken. Sie beugte sich vor, eine Hand in die Seite gestemmt, und ergänzte über die Brille hinweg: »Ich sag dir eins, Junge. Wenn der Wald mich mal holen kommt, dann ist der Laden hier aufgeschmissen. Dann machen drei die Arbeit, die ich mache.«

Mattys nickte beeindruckt. »Aber wenn man für sein Unternehmen lebt, macht man es sicher gern?«

»Sicher. Die Speisen organisieren, Einnahmen verwalten, Leute herumkomman- ich meine, mit ihnen zusammenarbeiten … darin geht man auf. Die Blumengestecke hab ich auch selbst ausgesucht, die kommen aus der Floristerei drüben. Die mit den Narzissen vorn an der Tür, dort gibt es die besten Blumen im Viertel.«

Mattys nickte. »Gut, ich hatte überlegt, ob ich Rosie noch welche besorge. Ich muss ohnehin noch mit dem Hund raus.«

»Was soll dieser Hund überhaupt?«, grunzte die Wirtin. »Ist der zu was gut oder nur zum Spaß dabei?«

Mattys blickte zu Mollie hinunter, die aufmerksam die Ohren aufstellte. »Nicht zum Spaß.« Er wies auf sich. »Ich bin melyskrank und sie kann mir sagen, wenn mein Zuckerspiegel zu hoch oder zu niedrig ist.«

Die Wirtin hob die Brauen. »Das kann der Köter erkennen?«

Mattys nickte. »Sie läuft dann unruhig herum und bellt. Das kann nervig sein, aber es hilft ungemein. Früher hatte ich mehr Schwierigkeiten damit, aber seit sie da ist, geht es mir viel besser.«

Nachdenklich rümpfte sie die Knollennase. »Ein Mädchen ist sie?«

»Genau, sie heißt Mollie«, erklärte Mattys. »A-moll eigentlich. Als sie ein Welpe war, habe ich manchmal auf der Naraline gespielt, während sie dabei lag. Immer beim A-moll hat sie geheult wie ein Wolf, deswegen hat sie den Namen bekommen.«

Wenn ihn nicht alles täuschte, lächelte die Wirtin nun. »Und wie lange hast du das schon, dass du honigkrank bist?«

»Seit ich elf Jahre alt bin«, erklärte Mattys. »Mollie habe ich aber erst vor sechs Jahren bekommen.«

»Das ist ja was«, sagte die Wirtin. »Und da willst du ein gutes Frühstück? Ich dachte immer, wenn man das hat, kann man nur Grünzeug essen und Wasser trinken und ist bald tot?«

»Das denken viele. Aber ich züchte Melyspflanzen, die dagegen helfen. Die Blüten senken den Zuckerspiegel, dann kann ich ganz normale Dinge essen.« Er war ohnehin wieder ein bisschen zu dünn, deswegen war ein gutes Frühstück wahrscheinlich gar keine schlechte Idee. Mattys bemühte sich dennoch um einen betroffenen Ausdruck – er wusste, dass er die Wirtin fast rumgekriegt hatte. »Aber es geht gar nicht um mich. Gestern Nacht war ziemlich furchtbar und ich möchte dafür sorgen, dass Rosie heute das beste Ostara hat, das sie sich vorstellen kann. Dafür brauche ich ein gutes Frühstück.«

»Ah«, machte die ältere Frau und atmete tief ein. »Und was schwebt dem jungen Mann vor?«

»Es müssen keine Extravaganzen sein, aber zumindest ein Tisch wäre schön. Ich bin überzeugt, dass ihr hier fabelhaftes Frühstück habt, sonst wäre es ja nicht so gut besucht.«

Die Wirtin hob die Braue. »Anya!«, rief sie. »Stellt mal noch einen Tisch rein! Bezahlt wird am Abreisetag, aber ohne Murren.«

»Sicher! Vielen Dank.« Mattys lächelte. »Dürfte ich wissen, was für ein Frühstück angeboten wird?«

Sie brummte genervt. »Es gibt dasselbe wie immer. Wenn ihr damit nicht zufrieden seid, esst woanders.« Damit verschwand sie im Hinterzimmer. Mattys tauschte einen zufriedenen Blick mit Mollie, ehe er von dem Hocker glitt und zur Tür ging.

Auf den Straßen herrschte das geschäftige Treiben eines Festtages. Mattys sog die Morgenluft ein, die von Sonne und Frühlingsduft erfüllt war, und sah sich neugierig um. Dinas Rhedyn war eine lebendige und farbenfrohe Stadt – viele der bürgerlichen Gebäude waren in charmanten Pastelltönen angestrichen oder mit bunten Fensterläden und Blumenkästen versehen. Den Eshwen mochte Arroganz nachgesagt werden, doch auf ihre Architektur konnten sie sich wahrlich eine Menge einbilden. Von den verwunschenen Erkern und Balkonen hingen Geranien und Glockenreben, bunte Blüten auf Holz und Gestein, sodass es in jeder Gasse Neues zu entdecken gab. Goldene Lampions und Girlanden schwangen im lauen Frühlingswind. An den Häusern formten sich efeubewachsene, metallene Verstrebungen zu Torbögen oder Halterungen für die Holzschilder, die über den Türen baumelten. In der Ferne, da, wo gerade die Sonne aufging, erhob sich das Eshwenschloss, das geheimnisvoll und wunderschön im hellen Licht erstrahlte.

Mattys kam es vor, als wäre dies eine andere Stadt als die, die er gestern in Dunkelheit und Nieselregen durchquert hatte. Dinas Rhedyn war ihm wenig einladend und gefährlich erschienen. In solchen grauen Nächten war ihm, als würden die Wälder sich enger um die Inseln menschlicher Zivilisation schließen, als wollten sie beweisen, dass sie sich ihren Grund zurückholen konnten, wann immer sie den Wunsch danach verspürten. Dann kam Mattys sich doch nur wie ein gebilligter Gast vor, nicht wie die dominante Spezies dieser Welt.

Heute aber war die Stadt hell und einladend. Die Straßen waren von Rufen, Kinderlachen und Tiergeräuschen erfüllt und die Eshwen trafen die letzten Vorbereitungen für das Ostarafest. Am Nachmittag begannen bereits die Festspiele, am Abend würden die Feuer entzündet werden, um das neue Jahr und den Frühling willkommen zu heißen. In Eshwen maß man Keyll Naomh weniger Bedeutung bei als in seiner Heimat. Hier gab es keine Schreine oder Grüne Priester. Die alten Bräuche, in welchen Keyll Naomh gepriesen wurde, waren in den Hintergrund gerückt. Ostara war hauptsächlich ein Fest für Geschenke und gutes Essen.

In Skoggen war das anders. Mattys erinnerte sich noch an seine Kindheit, in welcher die Nachbarn Kränze aus den Blüten des Waldes getragen und Lieder gesungen hatten. Priester sprachen Segen und entsandten Lichter auf die stillen Bergseen. Damals hatte Mattys beobachtet, wie die jungen Leute aus dem Dorf mit Blumenschmuck und Laternen in die Wälder gewandert waren, um mit den sagenumwobenen elfenhaften Keiju zu tanzen. Manchmal kehrten sie tagelang nicht zurück, und wenn es so weit war, hüllten sie sich in Schweigen über das, was ihnen widerfahren war. Mattys hatte nicht lang genug dort gewohnt, um selbst herauszufinden, ob die jungen Skoggen wirklich mit den Keiju tanzten oder es sich bloß um Legenden handelte. Aber sie hatten nach ihrer Rückkehr stets gelächelt.

Während Mollie im Gras am Waldrand ihr Geschäft verrichtete, kaufte er einen Bund Tulpen. Der Florist wünschte ihm ein gutes Ostara, was Mattys mit Höflichkeit erwiderte, und als die Turmuhr des Rathauses in der Nähe zur achten Stunde schlug, kehrte er in den Schankraum zurück. Die Wirtin war nirgends zu entdecken, doch auf dem Tresen stand eine leere Blumenvase, die Mattys mit einem Schmunzeln mit nach oben nahm. Mollie wedelte mit dem Schwanz, während er die Blumen mit Wasser versorgte und ans Fenster stellte, ehe er vor dem Bett in die Hocke ging.

»Rosie.«

Rosie regte sich und öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen.

»Guten Morgen«, sagte Mattys.

Unter der Decke hervor berührte sie seine Hand mit den Fingerspitzen. »Ich bin aufgewacht und du warst nicht da.«

»War das schlimm?«

»Hmm. Ich hatte den merkwürdigsten Traum.« Sie rollte sich auf den Rücken, tiefer ins Kissen. »Caleb und die anderen kamen darin vor. Sie wollten auf ihren Instrumenten spielen, aber Edelines Geige hatte keine Saiten, Naschas Flöte keine Löcher und die Trommeln von Caleb keine Bespannung. Und in den Bäumen über ihnen saßen lauter Motten … und dort war so ein Rabe, dem haben sie alle Federn abgeknabbert. Oh, und da war eine Harpyie, deren schöner Gesang mir alle Zuschauer geraubt hat. War richtig nervig. Aber dann hattest du eine Idee. Du hast mein Haarband genommen und ihr den Schnabel zugebunden, sodass sie nicht mehr singen konnte.«

Mattys hob die Braue. »Wow. Traum-Mattys scheint intelligent zu sein.«

»Die Harpyie hatte Ähnlichkeit mit meiner Cousine Selyse«, meinte Rosie.

»Das ist naheliegend. Selyse ist ziemlich unausstehlich.«

Rosie stieß ihn an und beide lachten. »Meinst du, daraus könnte man ein Lied machen?«, fragte sie. »Ein Schauermärchen höchstens … mir war echt unwohl, als ich aufwachte und allein war.«

»Echt?«

»Na ja, eigentlich nicht wirklich. Immerhin hatte ich ohne euch viel Platz.«

Mattys lächelte schief. Wenn sie Witze machte, konnte der Traum sie nicht so sehr mitgenommen haben. »Wie gemein. Für so jemanden habe ich aufwendig Frühstück organisieren lassen.«

»Frühstück?« Rosie richtete sich auf.

»Na ja, hoffentlich. Wir gucken am besten noch mal nach. Vorausgesetzt, du ziehst das diesem Bett vor.« Mattys pikte sie in die Seite und brachte sie zum Lachen.

»He!« Sie wehrte sich, als Mattys die Decke enger um sie schloss und sie weiter kitzelte. Kichernd zerrte Rosie an ihrem Arm, bis sie die Hand freibekam und ihm gegen die Wange drückte, um ihn auf Abstand zu halten. Mattys war gezwungen, von ihr abzulassen, als er ebenfalls in die Seite gepikt wurde. Rosie griff nach seinen Handgelenken, um ihn an weiteren Angriffen zu hindern. »Kein Kitzeln mehr!«, befahl sie. »Oder meine Rache wird schrecklich sein! Mitten in der Nacht werde ich dich aus dem Schlaf reißen. Du wirst nicht wissen, wie dir geschieht.«

»Schon gut, schon gut«, beeilte Mattys sich zu sagen. Rosie biss sich auf die Unterlippe. Dann schob sie sich näher und küsste ihn, nun sachter als zuvor. »Ich mache mich rasch fertig und dann auf zum Frühstück.«

Wenig später fanden sie sich erneut im Schankraum ein. Eine Angestellte wies ihnen einen bereits gedeckten Tisch zu, auf dem nach und nach das Frühstück aufgetragen wurde, das die Wirtin erübrigt hatte. Dafür, dass Mattys keine Extravaganzen gefordert hatte, war das Essen ziemlich vielfältig. Es gab süße Brötchen und Blätterteighörnchen, dazu einen Fruchtaufstrich aus Erdbeeren. Außerdem servierte man gebratenen Speck mit Eiern, gebackene Bohnen und eine Schale Vanillejoghurt mit Salzkaramellsoße, was Rosie sehr gefiel. Weil Ostaratag war, gab es sogar kleine Kuchen aus Schokolade und Mohn mit Streuseln. Sie tranken Kaffee und Saft mit Holunderblütensirup und Zitrone und Mollie bekam ein paar Speckstreifen ab.

Als sie das Wirtshaus nach dem Frühstück verließen, strahlte Rosie wie die Sonne und Mattys’ Herz war leicht. Sie spazierten durch die betriebsamen Straßen, ließen sich die Gesichter von der Sonne wärmen und bewunderten die Auslagen in den Geschäften.

»Für gewöhnlich würden wir jetzt alles für den Auftritt vorbereiten«, sagte Rosie. »Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal ein Fest nur für mich gefeiert habe.«

»Überhaupt jemals?«

»Als kleines Mädchen vielleicht. Da durften wir uns mit den größeren Kindern etwas zu essen besorgen, an den Festspielen teilnehmen oder den Puppentheatern zuschauen. Später war ich älter und musste auf die Kleinen aufpassen. Danach hatte ich immer Auftritte.« Rosie überlegte. »Es war immer schön. Aber ich habe ganz vergessen, wie es ist, einen Feiertag einfach zu genießen.«

Mattys verstand das gut. Als er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er die Festtage verbringen können, wie er wollte. Später als Heilerlehrling hatten sie zu den Feierlichkeiten in Broc Môr Zelte aufgestellt, um die Erstversorgung von Verwundeten zu gewährleisten. Ihm war das aufregend vorgekommen – in erster Linie, weil er gehofft hatte, dass Rosie zu dieser Zeit auch in Broc Môr sein würde –, aber es war eine ganz andere Art der Aufregung gewesen als die, die er als Spielmann empfand. Für einen Heiler waren Feiertage bloß Feiertage. Für einen Spielmann waren sie eine Chance, gutes Geld zu verdienen, sich einen Namen in der Gesellschaft zu machen und gehört zu werden. Feste bedeuteten Erfolg, doch sie erforderten auch Hingabe, unkalkulierbare Risiken und Einsatz.

Nur heute nicht. Morgen würden sie weitersehen, aber heute gehörte ganz ihnen.

Mattys griff nach Rosies Hand. »Dieses Ostara gibt es keinen Auftritt. Wir machen, was wir wollen. Also, wohin willst du zuerst?«

»Die Feierlichkeiten auf dem Marktplatz beginnen erst später. Lass uns vorher einen Abstecher auf die Glockenbrücken machen. Da gibt es die besten Läden.« Sie schob nachdenklich die Lippen zusammen. »Ich frage mich, was die anderen gerade machen. Und wie lange sie brauchen, bis sie begreifen, dass sie ohne uns vollkommen aufgeschmissen sind.«

»Vielleicht finden sie ja eine andere Sängerin und werden trotz unseres Ausstiegs über Nacht richtig erfolgreich«, meinte Mattys. »Und vielleicht lernen sie auch endlich mal, selbst aufzuräumen.«

Rosie nickte bekräftigend. Die beiden sahen einander einen Augenblick lang ernst an, ehe sie laut zu lachen begannen.

»Glockenbrücken.« Mattys legte einen Arm um Rosie, zog sie näher an sich. »Bin dabei.« Rosie fasste nach seiner Hand und er ließ die Finger bereitwillig in ihre gleiten. Mit Mollie im Schlepptau tauchten sie ins betriebsame Dinas Rhedyn ein.


»Das ist eine Katastrophe«, stöhnte Edeline. »Ohne Rosie und Mattys sind wir vollkommen aufgeschmissen.«

Caleb stützte die Arme auf die Lehne des nach hinten gekehrten Stuhls. Vor einer halben Stunde hatte er noch widersprochen, aber mittlerweile konnte er Lene bloß noch beipflichten.

»Wie viele fürchterliche Sänger haben wir uns jetzt angetan?«, fragte er. »Siebenhundert?«

»Und sie waren alle der Meinung, die größten Überflieger zu sein.« Edeline rollte mit den Augen.

»Wir haben beinahe alle durch«, erklärte Nascha, die die Kandidaten auf einer Liste notiert hatte. Sie hob den Kopf und richtete das Stirnband, das ihre Locken zurückhielt. »Puh, mir tut langsam der Nacken weh. Habt ihr bisher einen Favoriten? Mir gefiel das Duo mit der Davul ganz gut.«

Caleb schnaubte. »Der linke von denen sah aus wie ein Henker.«

»Und bei denen sind mir fast die Trommelfelle geplatzt«, entgegnete Edeline mit hochgezogenen Brauen.

Nascha wog den Kopf zur Seite. »Sagen wir, sie gefielen mir am besten

Die Tür vom Hinterzimmer wurde geöffnet und Olyvar führte eine neue Kandidatin an der Hand herein. Die junge Frau war hochgewachsen und gutbürgerlich gekleidet, in einem taubenblauen Kleid und mit einem bestickten Schal über den Schultern. Sie hatte das typische Eshwengesicht mit den etwas weiter auseinanderstehenden Augen und der vornehmen Blässe. Ihr blondes Haar war mit Blüten hochgesteckt. Caleb fand sie hübsch, auch wenn ihre Wangen rundlich waren und sie noch viel Kind an sich trug. Ein wenig unsicher deutete sie auf die behelfsmäßige Bühne, die Falkner und Brandfuchs aufgebaut hatten, woraufhin die Barden ihr ermutigend zunickten.

Olyvar setzte sich zu Caleb, während sich die junge Frau vor ihnen hinstellte. »Hallo«, sagte sie mit heller Stimme und knetete die Hände. »Ich heiße Delya und ich bin die Tochter des Schneiders aus der Magnoliengasse.«

Caleb vergrub das Gesicht in einer Hand. Er wollte ihnen allen ersparen, dass sie weiterredete. Wenn sie sang, wie sie sprach, würde sie sich bloß blamieren.

»Hey«, sagte Edeline. »Ich bin Lene, das ist Nascha. Das dort sind Caleb und Olyvar.«

»Ich weiß.« Auf Delyas Lippen erschien ein Lächeln. »Du bist die Kriegerin, die nicht Kriegerin genannt werden will. Nascha lauscht dem Wald und Caleb beherrscht die meisten Instrumente.«

»Und Olyvar vergessen immer alle«, murmelte Olyvar und zog die Beine an den Körper. Caleb lachte gedämpft.

Delya fuhr fort: »Mir gefällt eure Musik sehr. Ich bin oft bei euren Auftritten, wenn ihr in der Stadt seid. Euer Lied von den Keiju mag ich am liebsten.«

»Singst du das heute?«, fragte Nascha.

Delya nickte. Sie atmete tief durch und blinzelte zur Decke. »Entschuldigt, ich bin etwas aufgeregt.«

»Sie ist richtig aufgeregt«, raunte Olyvar ihm zu. »Ihre Hand war schwitzig, als hätte sie in der Sonne gebrutzelt.«

Caleb schnitt eine Grimasse und wandte sich nach vorn, als die Schneiderstochter zum Singen anhob.

»Was flüstert da im Winde, das klingt so fern, so nah,

Wer stiehlt die Maid, den Jüngling, am schönen Ostara?

Auf weichen, leisen Sohlen, so holen sie sie fort,

So rauben sie Verstand und Sinn mit süßem Zauberwort.«

Nascha neigte den Kopf und verlagerte ihr Gewicht, wobei in ihrem Blick unsagbares Mitleid stand. Caleb wollte das Gesicht in den Armen vergraben. Auf eine befremdliche Weise war er beeindruckt, dass die Schneiderstochter überhaupt einen Ton rausbekam, so piepsig und klanglos er auch war.

»Mädchen, wahr dein Schweigen, und ist es noch so schwer,

sonst holen dich die Keiju, und du kehrst nimmermehr.

Junge, heb die Stimme, Harmonie, Akkord.

Geheimnisse der Wälder, die bleiben immer dort.«

»Sie würde gut singen, wenn sie nicht klingen würde, als ob sie gleich zu weinen anfängt«, flüsterte Caleb. Olyvar grinste mitleidig.

»Danke, das ist schon genug«, sagte Nascha, weil Delya aussah, als wollte sie genau das hören. Sie war hochrot angelaufen und stolperte über die letzten Worte, weil ihre Zunge daran hängen blieb. Es sah ein bisschen witzig aus, weil es nicht recht zu ihren zarten Eshwen-Gesichtszügen passen wollte. Nun verstummte die junge Frau mit Erleichterung und knetete die Hände. »Ich hoffe, es hat euch gefallen.«

»Es war ganz zauberhaft«, versicherte Nascha. »Ich habe dir gern zugehört.«

»Soll ich draußen warten?«, fragte Delya.

»Nicht nötig«, sagte die Bardin, und als das Mädchen traurig die Lippen schürzte: »Aber wir suchen dich auf, sollten wir uns für dich entscheiden.«

Delya nickte und neigte den Kopf, ehe sie von dem Podest stieg und zur Tür steuerte.

»Wir nehmen sie nicht«, entschied Caleb, sobald sie den Schankraum verlassen hatte.

Edeline gab ein unglückliches Geräusch von sich. »Das war eine Herausforderung. Auch zum Zuhören.«

Abfällig schnaubte er. »Sie kann vielleicht die Lieder auswendig, aber ihre Stimme bleibt dünn wie der Kaffee in der Blauen Margerite vorgestern.«

Nascha seufzte.

»Klingt, als hättet ihr bislang keinen Erfolg gehabt.« Der Wirt Falkner war aus dem Hinterzimmer getreten, dicht gefolgt von Brandfuchs.

»Sie geben sich alle Mühe«, beteuerte Nascha, »aber niemand reicht an Rosie heran. Wir finden nicht mal jemanden zum Mandolinespielen.« Sie wies auf die Instrumente, die am Fuß des Podests lagen.

»Von hinten klang es auch nicht gerade überragend«, meinte Falkner und schlug sich das Küchentuch über die Schulter. Brandfuchs setzte sich auf die Bühnenkante und nahm die Naraline zur Hand, stimmte ein paar Akkorde an. Da sie Vormittag hatten, war das Gasthaus noch geschlossen und es blieb noch ein wenig Zeit.

Edeline legte den Kopf in den Nacken, dass ihr schlüsselbeinlanges rotes Haar über die Stuhlkante schwang. »Wir müssen es wohl oder übel weiter versuchen«, murrte sie und gab Olyvar einen Wink. »Hol den Nächsten rein. Es kann nur besser werden.«

»Das war die letzte Person«, sagte Olyvar.

Edeline verdrehte die Augen. »Warum hab ich das sagen müssen?«

»Mattys hätte eine Lösung gewusst«, murmelte Nascha. »Rosie hätte uns Mut gemacht, bis alles wieder gut wird.« Sie verlagerte ihr Gewicht, mit einem Mal sehr ernst. »Sie fehlen mir …«

»Mir auch«, pflichtete Olyvar ihr bei. »Und Mollie vermisse ich auch.«

Edeline nickte. Die drei Bardinnen warfen Caleb einen Blick zu, der ihn unwillig erwiderte. Er gestand es sich ungern ein, aber er vermisste die drei auch. Es hatte sich furchtbar komisch angefühlt, ohne Rosie zu frühstücken, die sie anstrahlte und über den Tag plauderte. Caleb hatte nicht gewusst, dass er es sogar vermissen würde, Mollie Speck unter dem Tisch zuzustecken, aber sein Teller war ihm ohne den Hund an seinen Füßen irgendwie schrecklich voll vorgekommen. Und ja, selbst wenn dieses Geständnis schmeckte wie bitterer Rum: Er wünschte sich auch, dass Mattys hier war.

Mattys hätte eine Lösung gewusst. Er wusste immer eine Lösung.

Caleb ließ sich gegen die Lehne sinken. »Scheiße, ich hab einen Riesenfehler gemacht.«

»Geh zu ihnen.« Nascha hatte sich zu ihm umgedreht. »Vielleicht gibt es noch eine Chance und Mattys verträgt sich wieder mit dir. Dann ist alles wie vorher und wir können heute Abend normal auftreten.«

»Ich glaube, das ist nicht so einfach«, sagte Edeline. Als Nascha sie fragend ansah, hob sie die Schultern. »Kommt, Leute. Überrascht euch wirklich, wie es gekommen ist? Mattys hat nie in dieses Leben hergehört. Deswegen sollten wir auch nicht so wütend auf Caleb sein. Du hast das Ganze beschleunigt, aber im Grunde war es nur eine Frage der Zeit.«

Caleb fühlte sich deswegen nur geringfügig besser. Er war lieber wütend auf sich, als so harte Wahrheiten zu hören.

»Dass Mattys nicht ewig bleibt, war immer klar. Und Rosie wird ihren Weg woanders finden. Das nächste Mal, dass wir sie wiedersehen, wird am Hof irgendwelcher Adliger sein, nicht in einer Kaschemme wie dieser.« Edeline hob die Hände vor Falkner und Brandfuchs. »Nichts für ungut. Ist sehr schön hier.«

Nascha verlagerte unruhig ihr Gewicht, sah dabei niemanden von ihnen an. »Aber wir hatten doch eine gemeinsame Vision. Wir haben gesagt, wir machen das zusammen.«

»Dinge ändern sich«, erwiderte Edeline. »Nichts ist so beständig wie der Wald, Nascha. Innerhalb ebenso wie außerhalb seiner Grenzen. Du hast dein Zuhause doch auch verlassen, weil du dich zu anderen Dingen berufen gesehen hast.«

Unglücklich strich Nascha über ihre Arme. »Das war etwas anderes. Und es heißt nicht, dass ich nicht irgendwann zurückkehren will.«

»Unterstreicht das nicht, was ich gerade gesagt habe?«

Als Nascha nichts antwortete, seufzte Lene. »Ach Nascha.« Sie rutschte mit den Füßen vom Stuhl und nahm sie in den Arm.

Caleb fuhr die Rillen zwischen seinen hochgebundenen, gefilzten Haaren nach und unterdrückte ein Seufzen. Warum konnte er sich nicht einfach bei Mattys entschuldigen? Das wäre ihm schwergefallen, aber verglichen mit dieser Zwickmühle erschien es furchtbar simpel. Er hatte keine Lust, heute Abend aufzutreten, wenn die Zukunft so ungewiss war. Er hatte nicht mal Lust, seinen Frust in Rauchbier zu ertränken.

Zum ersten Mal wurde ihm klar, wie sehr er sich auf Mattys verlassen hatte. Darauf, dass er die Dinge schon regelte. Caleb wollte, dass alles gut war, damit er die Sorgen und die Verantwortung wieder abstreifen konnte, die er nie gern getragen hatte. Damit er nicht so viel darüber nachdenken musste, wie es weiterging, ob sie einer rosigen Zukunft entgegenblickten, ob es Olyvar gut gehen würde. War das rücksichtslos? Es war das Einzige, was er kannte.

»… sonst holen dich die Keiju, und du kehrst nimmermehr.

Junge, heb die Stimme –«

Caleb sprang auf die Beine. »Brandfuchs!«, stieß er hervor.

Der Koch hielt wie ertappt inne. »Was?«

»Spiel das noch mal! Mit dem Singen.«

Brandfuchs runzelte die Stirn, ehe er sich das rote Haar aus der Stirn schüttelte.

»Mädchen, wahr dein Schweigen, und fällt es noch so schwer

sonst holen dich die Keiju und du kehrst nimmermehr.

Junge, heb die Stimme, Harmonie, Akkord.

Geheimnisse der Wälder, sie bleiben immer dort.

Hee-a-yo, hee-a-yo, für immer, immer dort.«

»Das war richtig gut.« Nascha richtete sich begeistert auf. »Du kannst ja singen! Und sogar mit schönen Harmonien.«

»Ich sagte doch, er kann die Lieder«, beteuerte Falkner.

Brandfuchs winkte ab. »Nah, das ist nichts. Ich spiele ganz amateurhaft.«

»Vollkommen ausreichend«, wischte Caleb die Einwände fort und setzte sich wieder, nur um aufgeregt herumzuzappeln. »Das war super! Und Naraline spielst du auch!«

»Ich kann aber nicht alle Lieder«, erwiderte Brandfuchs. »Außerdem bin ich ein Mann. Rosie ist ein Mädchen.«

»Wenn du Falkner von der Bühne aus ein paar herzerwärmende Blicke zuwirfst, haut das schon hin.« Caleb wies auf die beiden. »Das Publikum wird das ebenso lieben, wie wenn sich Rosie und Mattys anschmachten.«

»Nascha kann auch ein paar Lieder singen«, setzte Lene dahinter. »Das Weidenmädchen kannst du doch übernehmen, nicht wahr? Und Die siebte Sonne und Sanna, Sanna. Dann wären es nur drei oder vier Lieder, die Brandfuchs sich selbst aussuchen kann.«

»Das schaffe ich schon«, sagte Nascha.

»Und ich spiele Flöte, wenn Nascha singt«, warf Olyvar ein.

Edeline wandte sich an Brandfuchs. »Willst du uns heute Abend begleiten?«

Der Koch verlagerte unsicher sein Gewicht. Falkner stellte die Daumen auf. »Das wird super.«

»Und die Küche?«

Er winkte ab. »Wir haben gut ausgebildete Jungköche, durch deine Fähigkeiten geschult. Wir bereiten alles vor, dann kannst du entspannt auftreten. Komm, Olwen, ich will dich einmal mit diesen Chaoten spielen sehen.«

Brandfuchs schob sich das Haar aus der Stirn und nickte. »Na gut. Warum nicht?«

»Klasse!« Caleb schloss die Hände fester um die Stuhllehne. Mit einem sicheren Plan in der Hinterhand war er gleich viel entspannter. »Seht ihr? Wir sind keine Versager.«

Nascha umschloss ihr Gesicht mit den Händen und kniff die Augen zusammen – jetzt grinste sie wieder. »Wir sind gerettet!«

»Rosie und Mattys würden sicher Augen machen«, sagte Olyvar.

Edeline nickte bekräftigend. »Deren Tag ist sicher unheimlich langweilig.«

»Vielleicht vermissen sie uns furchtbar. Bestimmt fragen sie sich, warum sie nicht längst zurückgekehrt sind«, pflichtete Nascha ihr bei und sprang auf. »Kommt, Zeit zu proben. Das wird so gut!«


»Dieser Tag ist der beste meines Lebens«, verkündete Rosie. »Ich kann nicht glauben, warum wir das nicht längst gemacht haben. Ein ganz entspanntes Ostarafest! Den ganzen Tag war mir nicht einmal langweilig.«

»Das wäre auch große Kunst gewesen«, meinte Mattys. »Propheten, ich war noch nie so lange auf den Beinen.«

Und dennoch hatte sich jede Sekunde gelohnt: Mattys war nicht klar gewesen, wie sehr er sich nach einem solchen Tag zu zweit gesehnt hatte, der nach Frühling und Festlichkeit und der Art mildem Abenteuer schmeckte, der man in einer Stadt wie dieser begegnete. Den Vormittag hatten sie auf den Glockenbrücken verbracht, auf welchen reger Festtagsbetrieb geherrscht hatte. Die vielen kleinen, beschaulichen Geschäfte hatten Tür und Tor geöffnet, um Stadtbesucher anzulocken. Unter der Passage floss der Maraid entlang und viele Bürger und Gäste Dinas Rhedyns setzten sich an diesem herrlichen Tag auf die Trittstufen unter den Arkaden, um dort die Sonne zu genießen. Aus den Backstuben füllte der Duft frischen Gewürzbrots den Wind. Rosie hatte die Schnitzereien einer alten Puppenmacherin bewundert, dann die feinen Röcke und Hemden der Schneiderei und zuletzt die in Mode gekommenen Fotoapparate. Zur Mittagsstunde schlugen die Metallglocken auf den roten Dächern der Passage eine Melodie, die mit heller Mehrstimmigkeit auf der Brücke widerklang.

Als der Festplatz nach dem zwölften Glockenschlag eröffnet worden war, hatten sie den Marktplatz Dinas Rhedyns erkundet. Im Zentrum hatte man ein Muster aus Frühlingsblüten gelegt, das das Mottenwappen Eshwens zeigte. Es gab kühle Getränke und Brezeln, Souvenirs und Objekte für die bevorstehenden Zeremonien: Räucherstäbchen, Ostara-Talismane und Blütenkränze. Rosie hatte an einer Schießbude mit einem Steinschussgewehr auf kleine Pappmotten geschossen und ein mittelmäßig gut verarbeitetes, ledernes Schellenarmband als Prämie erhalten. Sie waren über die Maraid-Promenaden spaziert, hatten von einer Mauer aus einem Kinder-Puppentheater über Newid und Bronimir zugesehen und schließlich noch einen Abstecher in ein paar Geschäfte gemacht.

Eshwen war bekannt für seine herausragende Architektur, aber auch für die geschmackvolle Kleidung. Alles war in rauchartigen Tönen gehalten, seiden und von hochmütiger Eleganz. In vielen Kleidungsstücken fanden sich Elemente, die an die Ahnen der Eshwen, die Eschenelben, erinnern sollten. Einige Eshwen trugen sogar flügelartige Umhänge mit rückenfreien Kleidern, obwohl es dafür noch ziemlich kalt war.

Sie nutzten den Augenblick, um selbst etwas Schönes zu erstehen. Mit einem neuen, dunkelblauen Kleid, Stiefeletten und einer Tüte Schokolade für Rosie, Kaninchenstreifen für Mollie und einem Buch über Eshwener Märchen für Mattys kehrten sie zum Bronzenen Rebhuhn zurück.

»Ich kann auch kaum noch laufen.« Rosie zog eine Grimasse, ehe sie Mollie ein Stück Kaninchenfleisch zuwarf. Mollie bellte aufgeregt und fing es aus der Luft.

»Keine Angst, du wirst dich gleich hinsetzen können«, versprach Mattys. »Meinst du, du schaffst es noch die Straße hinab, oder soll ich dich tragen?«

Rosie hob prüfend die Braue. »Manchmal bin ich nicht sicher, ob du scherzt oder nicht.«

Die Gaststätte, in der sie einen Tisch reserviert hatten, war bereits in Sichtweite. Im dunkelnden Dinas Rhedyn war das Restaurant mit den goldenen Lampionketten und kleinen Feuerschalen eine kleine Insel aus Licht. Das Nüsslein lag am Fuße der Glockenbrücken und lockte mit wunderbarem Bratenduft, traditioneller Küche und der Tatsache, dass Hunde drinnen erlaubt waren. Es hatte Mattys’ Überzeugungskraft und Mollies Hundeblick bedurft, damit die Inhaberin noch einen Tisch für sie reservierte.

Mattys legte Rosie einen Arm um die Taille, die den Kopf kurz gegen seine Schulter sinken ließ. Er hielt ihr die Tür auf und ließ sie die schmale Treppe hinab ins Innere des Restaurants treten. Das Nüsslein mutete an wie ein Weinkeller, mit niedrigen, laternenbeschienenen Felsbögen und blumendekorierten Fässern. Durch einen Gang betrat man den steinummantelten Schankraum. Eine Treppe führte hoch zu den Gärten, in welchen man im Sommer sicher gut sitzen konnte. Noch war es dafür allerdings zu kalt.

»Ich habe die Karte schon gesehen«, erklärte Rosie, als sie von der Wirtin begrüßt und an ihren Platz geleitet wurden. Mollie legte sich unter dem Tisch hin. »Ich finde, dieser Eshwener Rarebit klingt sehr gut.«

»Darauf sind wir spezialisiert.« Astryd Lugh war viel mehr eine Eshwen als die Wirtin im Bronzenen Rebhuhn. Sie war eine Frau mittleren Alters mit einem blonden Haarschopf und hoher Stirn. Um die Augen und den Mund trug sie die ersten Falten, was sie würdevoller erscheinen ließ. Ihre Kleidung war wie sie von einfacher Eleganz. Mattys fand sie sympathisch, auch wenn sie ein wenig überarbeitet erschien. »Wir machen den Rarebit mit Kartoffel statt Röstbrot. Er wird mit selbstgebrautem Rauchbier in der Pfanne blanchiert, dazu gibt es Tomaten und pochiertes Ei.«

Rosie nickte fasziniert. »Klingt überragend.«

»Darf ich die Karte trotzdem noch mal sehen?«, fragte Mattys.

»Selbstverständlich.« Frau Lugh reichte ihnen die in Holz gebundenen Speisekarten. »Zu trinken empfehle ich heute einen Rotwein aus Dobur.«

»Ein Wasser genügt.« Mattys war mit Alkohol stets vorsichtig.

»Für mich auch.« Rosie entging seinem Blick und lächelte Astryd Lugh höflich an.

»Gerne.« Die Wirtin neigte den Kopf und verschwand hinter die Theke.

»Du kannst trinken, was du möchtest«, sagte Mattys, als Rosie die Karte aufschlug und interessiert studierte.

»Das ist mir klar. Aber ich will nur Wasser.«

»Ich weiß, dass du viel lieber einen Rotwein oder Kakao oder …«

»Mattys«, unterbrach Rosie ihn. »Du hast den ganzen Tag zurückgesteckt und dieses ganze Zeug mitgegessen, damit ich glücklich bin. Das weiß ich zu schätzen, aber ich muss es nicht übertreiben. Ich brauche keinen Rotwein, damit der Abend schön ist.«

Mattys zögerte, nickte dann aber. »Na gut. Aber wenn ich den Spargel nehme, brauchst du nicht mitzuziehen.«

Sie lachte und wandte sich wieder der Karte zu. Rosie trug ihr neues Kleid, das in einem gedeckten Dunkelblau gehalten war. Der mit Volant besetzte Ausschnitt ließ die Schlüsselbeine und Schultern frei und war mit einem Band aus Silberstickerei versehen. Das Haar hatte sie hochgesteckt und mit einem Perlenreif geschmückt. Rosie liebte dieses Kleid, das war offensichtlich. Und auch Mattys gefiel es, wenngleich er sich zu sagen verkniff, dass er sie am liebsten sah, wenn sie nur eines seiner Hemden trug.

»Nächstes Ostara sollten wir nach Skoggen gehen«, meinte Rosie. »Ich will die Feuer dort sehen. Die Tänze!«

Mattys nickte. Skoggen war groß, sicher würde sich da etwas finden. »Ganz oben im Norden ist es zu Ostara sicher schön.«

»Wie war das noch? Die Kinder gehen mit Laternen herum und spielen Hexen, richtig?«

Mattys ließ die Karte sinken. »Genau, das kommt aus Lyttnar. Sie verkleiden sich als Noita, also als Hexen, und basteln Laternen aus Weidenzweigen. Dann klopfen sie an die Türen und verfluchen dich, wenn du ihnen nichts Süßes gibst.«

Rosie lachte. »Ich hätte solche Angst.«

»Gib’s zu. Du würdest eine Menge dafür geben, dich auch als Noita verkleiden zu können.«

»Man kann es ja arrangieren«, meinte Rosie. »Man könnte einfach ein Lied darüber schreiben, schon wäre das Verkleiden legitim. Hmm.« Sie hob den Blick zur Decke, als suche sie dort nach der Melodie. Ihre Hände tasteten nach einem imaginären Blütenkranz, ehe ihre schöne Stimme erklang: »Mit Blüten gekrönt, aus silbernen Zweigen, tanzt ein jedes Kind einen lustigen Reigen.«

»Gar nicht mal so schlecht«, meinte Mattys.

»Sie fassen einander und dreh’n sich im Kreise, sie lachen und singen auf zauber… nein, das geht nicht. Auf … hmm. Jegliche Weise? Aber das klingt auch merkwürdig.«

»Niedlich. Das alles ist niedlich. Nimm niedlich.«

»Sie lachen und singen auf niedliche Weise.« Rosie lachte. »Jetzt noch das Wetter einbringen. Es duftet der Frühling … hm …«

»… vertreibt Wind und Nässe«, kam Mattys ihr zur Hilfe, »als Hexen verhüllt laden Kinder …«

»Zum Feste! Und jetzt was auf Suma, das ist dein Teil.«

Mattys rief sich seine leicht eingerosteten Sumakenntnisse in Erinnerung. »Noita, noita minä olen … rufen die Kinder beim Kichern und Tollen

Rosie legte die Hände flach auf den Tisch und sang mit verschwörerischem Flüstern. »Noita, noita minä olen, rufen die Kinder beim Kichern und Tollen. Ja! Im Wind ihre Stimmen so hell und so klar, sie wünschen ein schönes Ostara.« Sie baute eine Harmonie in die letzten Töne und die beiden lächelten einander an. Unter dem Tisch gab Mollie ein leises Jaulen von sich und schob den Kopf in Mattys’ Hände. Rosie grinste. »Kann man so nehmen. Mit so einem Lied wäre es nicht merkwürdig, wenn ich ein Hexenkostüm trage.«

»Du singst ja schöner als jeder Vogel.« Mattys wandte sich um. Frau Lugh war zurückgekehrt und stellte ihnen die Gläser hin. Ihre Wangen waren gerötet, sie schien ganz hin und weg. »Hat dir das schon mal jemand gesagt?«

»Ab und zu?« Rosie grinste Mattys zu. »Wir sind Spielleute.«

»Tatsächlich?« Frau Lugh sah sich nach rechts und links um, ehe sie sich zu ihnen beugte. »Du klangst so bezaubernd, möchtet ihr nicht morgen noch mal hierherkommen und einen kleinen Auftritt machen? Für den Rückweg vom Geburtstag des werten Prinzen gedenkt die Grafentochter de Beur aus Moorhaag hier zu nächtigen. Ich würde ihr gern ein wenig Musik bieten. Die Gruppe, die ich gebucht habe, fällt leider aus.«

Mattys spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, er richtete sich unwillkürlich weiter auf.

»Meint Ihr das ernst?«, fragte Rosie.

Die Wirtin lachte. »Selbstverständlich! Sie soll nur das Beste zu Ohren bekommen, aber wenn ihr zwei euch solch wunderbare Lieder einfach aus dem Ärmel schüttelt, spielt ihr sicher auch sonst sehr gut, nicht wahr? Ich habe gehört, ihre Familie sucht stets nach neuer Unterhaltung bei Hofe. Womöglich könnt ihr euch einen Namen bei ihr machen, dann würdet ihr ebenso davon profitieren wie das Nüsslein

»Können wir uns kurz beraten?«, fragte Mattys und Rosie nickte eilig. Frau Lugh machte eine einladende Handbewegung und trat solange an einen anderen Tisch.

»Das ist eine Riesenchance«, sagte Mattys, während sie näher zusammenrückten.

»Und was für eine Ehre«, pflichtete Rosie ihm bei. »Wir sollen für eine Prinzessin spielen! Wenn die anderen das wüssten.«

Mattys ergriff ihre Hand. »Wenn ihr gefällt, wie du singst, möchte sie dich womöglich am Hof haben. Skog, das … du wärst da, wo du hingehörst.«

Rosies Lächeln wurde eine Spur blasser und Mattys wurde klar, dass das nicht die richtigen Worte gewesen waren. »Würde ich das?«

»Es ist doch, wofür du gemacht bist«, beharrte er. »Rosie, du hast eine Stimme wie eine Heilige. Wenn du singst, verstummt selbst der Wind, um dir zu lauschen. Die Menschen vergleichen dich mit Sirenen und Huldras, manche halten dich sogar für eine Prophetin! Ich will dir helfen, damit die ganze Welt davon erfährt. Ein Ort wie der Hof de Beur, da wird deine Stimme gehört, wie es ihr gebühren würde. Nicht nur in den Ohren von betrunkenen klantigen Idioten …«

Sie lachte. »Wenn du sprichst wie ein Dichter, ist es dir wichtig, und wenn du dann noch Skoggenwörter benutzt, sollte man sich die Worte wirklich zu Herzen nehmen.« Sanft drückte sie seine Hände. »Du hast recht. Ein Angebot wie das sollte man sich nicht entgehen lassen. Ich werde hier singen und wie es dann weitergeht, können wir ja sehen.«

Mattys küsste sie. »Rosie, das wird fantastisch. Heute ist der beste Tag.«

»Habt ihr euch entschieden?«, fragte Astryd Lugh, die wieder an den Tisch trat.

»Wir werden da sein«, versprach Mattys und Rosie nickte. »Sicherlich!«

Als sie das Nüsslein später am Abend verließen, hatten sie bereits die Lieder durchgesprochen, die sie spielen würden, und eine Uhrzeit ausgemacht, zu welcher sie das Restaurant am nächsten Morgen aufsuchen wollten. Mattys war so aufgeregt wie selten. Sollte dies die Chance sein, auf die sie gewartet hatten? Der gestrige Abend war schrecklich und finster gewesen, aber nun schien sich alles zum Guten zu wenden. Er war beinahe dankbar, dass er den Streit mit Caleb gehabt und den Hellen Barden den Rücken gekehrt hatte. Ob Astryd Lugh ihnen den Auftritt auch angeboten hätte, wenn die anderen dabei gewesen wären? Sicher nicht, denn dann wären sie niemals zum Essen bei ihr gewesen.

Nein, all das musste Schicksal gewesen sein. Womöglich in erster Linie Rosies Schicksal – aber wenn Mattys schon nicht sicher war, wo er hingehörte, dann konnte er ihr zumindest zum Richtigen verhelfen. Dann würde er schon herausfinden, wo er dort Platz fand. Mattys’ Herz war leicht und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte er das Gefühl, den richtigen Weg einzuschlagen.

Sie hatten die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als Rosie ihre Schritte verlangsamte. »Regen«, sagte sie, und da spürte auch Mattys die ersten Tropfen auf der Haut. Da es schon dunkel war, hatte man die Unwetterwolken nicht sehen können und die Festgeräusche hatten den Donner verschluckt. Doch nun hörte er das leise Grollen am Himmel. Der Regen schwoll rasch zu einem Schauer an und Mattys zog Rosie in den Schutz eines Unterstands.

»Verflucht, bis zum Gasthaus ist es noch ziemlich weit.« Rosie verschränkte fröstelnd die Arme. Mollie setzte sich zu ihnen, nah an ihre Beine, um sich vor dem Schauer zu schützen.

»Sieht nicht aus, als würde es bald aufhören«, meinte Mattys.

Rosie nahm seinen Arm. »Im Zweifel wird es nur schlimmer, lass uns besser jetzt gehen.«

»Du hast nicht mal eine Jacke dabei. Was, wenn du dich erkältest?«

»Ich hab doch gesagt, dann verknittert der Stoff.« Rosie wies auf den Volantbesatz an ihren Schultern und lächelte, als Mattys sich den Mantel abstreifte und ihr umlegte. Sie schob die Arme durch die Ärmel. »Na, wenn du unbedingt willst. Bereit?«

Mattys streckte eine Hand in den Regen und schüttelte den Kopf. »Nein.«

Rosie zog ihn hinaus ins Dunkel der regnerischen Stadt. Obwohl sie den Schutz der Markisen und Hausfassaden suchten, klebte Mattys schon nach wenigen Schritten die Kleidung am Körper, Tropfen rannen ihm den Nacken hinab. Der Regen schwoll zu einem Wolkenbruch an und küsste ihm mit kühlem Prasseln Haut und Haar. Mollie bellte aufgeregt und umkreiste sie, schüttelte sich mehrmals, ohne dass es irgendeinen Effekt hatte.

Aber obwohl der Regen eisig kalt war und ihm bald in den Augen brannte und Mattys auf dem glatten Pflaster beinahe wegen ihm ausrutschte, war er nicht unangenehm. Die Tropfen auf der Haut und Kleidung und der frostige Schauer, der ihm das Rückgrat hinabrann, erweckten eine unsinnige Euphorie. Rosie schien es ähnlich zu gehen – sie lachte ausgelassen und griff immer wieder hilfesuchend nach seinem Arm, wenn sie mit den neuen Schuhen ausglitt. Den Kleidsaum hob sie so unter den Mantel, dass es keinen Tropfen abbekam, selbst wenn sie deshalb ihre Kapuze nicht länger festhalten konnte.

Der Regen war belebend, befreiend – als würde der Wolkenbruch die vergangenen Tage und Wochen fortspülen und Platz für etwas Neues schaffen. Mattys’ Zukunft, die mit Rosie, ihrem Gesang und guten Gedanken gefüllt war.

Als sie ihr Gasthaus erreichten, tauchten sie unter die Markise und lachten noch immer. Rosie nahm Mattys’ Gesicht in die kalten Hände. Sie teilten einen regennassen Kuss, schmiegten sich in der völlig durchnässten Kleidung aneinander und lächelten wie zwei Idioten. Erst Mollies Bellen, die vor der Tür hin und her wuselte, ließ sie auseinandergehen.

»Wie sagt man genomvåt in gemeiner Zunge?«, fragte Mattys, als sie eintraten. »Es heißt praktisch durch-nass. Aber es gibt noch ein anderes Wort als durchnässt, oder? Etwas Niedliches?«

»Patschnass«, sagte Rosie. »Aber mir gefällt auch pudelnass.« Mollie, die sich im Trockenen erneut heftig schüttelte, schien ihr da beizupflichten.

Mattys folgte ihnen die Stiege hinauf. Er wollte Lieder darüber schreiben, über Liebe und Regengefühle und patschnasse Kleidung.

Den Rest des Abends verbrachten sie vor dem Heizofen ihres Zimmers, alle drei unter derselben Decke. Rosie spielte einfache Lieder auf der Naraline, Mattys studierte sein neues Buch und schrieb Zeilen auf ein loses Blatt Papier, während Mollie zu ihren Füßen schlief. Nichts hätte den Tag perfekter machen können.


Brandfuchs stellte sich als überraschend talentierter Mandolinenspieler und Sänger heraus. Am Abend hatten sie eine Liste an Liedern, mit der sie sich bei ihrem Auftritt nicht zu schämen brauchten. Olwen war zwar furchtbar aufgeregt und musste stetig von Falkner beruhigt werden, aber Caleb vertraute darauf, dass er das gut machen würde. Mit Sicherheit besser als die Schneiderstochter mit der Stimme, die wie verdünntes Bier klang.

Ehe der Auftritt begann, zogen sich die Barden zurück, um die letzten Vorbereitungen zu treffen und die Kleider anzulegen.

»Findest du, ich habe zugenommen?«, fragte Caleb, der sich vor dem Spiegel von der Seite betrachtete. Die Schlaginstrumente, die Bombarde und die Sackpfeifen zu spielen war anstrengend, deswegen trug er normalerweise nur die Hosen und Stiefel und beizeiten einen Überwurf über einer Schulter. So sah man nicht nur die definierten Bauchmuskeln, sondern auch die hellen Linien auf Schultern und Rücken, die jeder Narraph trug. Schneeweiß hoben sie sich von der dunklen Haut ab wie geheimnisvolle Tätowierungen.

Olyvar trat näher und umarmte ihn unverhofft. »Nee. Fühlt sich noch genauso hart und unbequem an wie immer.«

»Na danke.« Caleb legte ihr die Hände auf die Schultern. Seine kleine Schwester reichte ihm nicht mal bis zur Brust. Manchmal war ihm, als könnte er sie zerbrechen, wenn er sie fest anpackte. »Ich muss auf meine Linie achten. So kann man nur herumlaufen, wenn man es sich leisten kann.«

Olyvar trat zurück und wies an sich hinab. »Kann ich denn so gehen?«

Caleb musterte seine Schwester. Sie trug das Rot der Barden, eine hochgeschlossene Bluse und das Handgelenk voller Armbänder, die sie in den Jahren unterwegs angesammelt hatte. Die blonden Haare hatte sie offen, sie waren mittlerweile beinahe so lang wie Rosies. Caleb spürte Stolz beim Anblick seiner Schwester, wenngleich ihm auch etwas im Herzen brannte. Sie sah so erwachsen aus.

»Du kannst so gehen. Siehst aus wie eine Eshwen oder eine Nymphe. Wie jemand, der arrogant sein kann, weil er hübsch ist.«

Olyvar strich sich die Haare hinter die Ohren. »Wenn Rosie hier wäre, würde sie mir jetzt helfen, die Haare zu flechten. Ich hab es selbst versucht, aber es wollte nicht klappen. Du kannst so was ja nicht.«

Caleb wog den Kopf zur Seite, unsicher, was er darauf sagen sollte.

»Meinst du, sie kommen echt nicht mehr zurück?«, fragte Olyvar.

»Wäre das denn so schlimm?«

»Na ja …« Sie hob die Schultern. »Sie waren eben meine Freunde. Ich frage mich, was daran so schlecht war.«

Caleb ging vor Olyvar in die Hocke. »Das Problem warst jedenfalls nicht du. An dich haben sie bestimmt keine schlechten Erinnerungen. Weißt du, manchmal ist es eben so, dass Menschen nicht für immer bleiben. Dann muss man sie gehen lassen.« Er neigte den Kopf. »Aber vor dir kann ich es ja gestehen: Sie fehlen mir auch.«

»Das weiß ich längst.« Olyvar umarmte ihn noch mal, dieses Mal auf Augenhöhe. »Wenigstens seid ihr noch da. Und ich bin nicht alleine.«

Caleb erwiderte die Umarmung vorsichtig, sein Herz merkwürdig schwer. »Ich lass dich nicht alleine, Rehkitz. Bin ja dein Bruder. Auch wenn ich manchmal nicht so gut darin bin.«

»Geht.« Olyvar kicherte.

Sie lösten sich und Caleb richtete sich auf. »Also dann. Bereit für einen Auftritt?«

»Bereit«, sagte sie und folgte ihm hinaus.

Lieder der Wälder

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