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Warum gerade ich?

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Um Karezza zu erkunden, musste ich das ganze Populärwissen der letzten sechs Jahrzehnte hinter mir lassen. Dort wird nämlich behauptet, dass der Orgasmus lediglich eine Quelle der Freude und ein wohltuendes Ventil sei, das man, wenn es sich nicht von selbst ergibt, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, sei es natürlichen oder künstlichen, verschaffen sollte. Meine Forschungen standen in krassem Widerspruch zu diesem Denken und führten im Laufe der Zeit zu einem persönlichen Paradigmenwechsel. Für mich ist ein Orgasmus nicht mehr länger nur ein Geschehen im Genitalbereich, das mit dem Höhepunkt endet. Mich faszinieren im Gegenteil die anhaltenden neurochemischen Folgen und was sie für unsere Wahrnehmung voneinander, für die Qualität unserer Beziehungen und unsere physische und spirituelle Entwicklung bedeuten.

Viele verschiedene Disziplinen haben sich mit wesentlichen Teilen dieses neuen Paradigmas auseinandergesetzt. Evolutionsbiologen haben ­festgestellt, dass das primäre Ziel unserer Gene nicht darin besteht, für Harmonie zwischen Partnern zu sorgen, sondern dass es ihnen lediglich um ihren Erfolg geht. Neurowissenschaftler haben aufgedeckt, dass starke sexuelle Stimulierung das Gehirn in etwa so wie eine Droge beeinflusst. Psychiater und Psychologen haben beobachtet, dass Veränderungen in unseren unbewussten Gefühlen gegenüber anderen Individuen auch unsere Wahrnehmung von ihnen radikal verändert. Und Texte aus verschiedenen spirituellen Traditionen, die kaum jemandem bekannt sind, haben die enge Einheit von Mann und Frau enthüllt, die beide in Harmonie zueinander und zu ihren Nächsten bringt.

Doch der gehemmte Informationsfluss zwischen den Disziplinen verhindert zuweilen Einsichten, die verschiedene Sichtweisen miteinander verbinden. Die Biologen entwickeln ihre Schlussfolgerungen nicht gern aufgrund von faszinierenden Parallelen mit alten Texten weiter; Neurowissenschaftler studieren nicht die Auswirkungen der neurochemischen Schwankungen darauf, wie Liebende ihren Intimpartner im Verlauf ihrer Rückkehr zur Homöostase nach dem Orgasmus betrachten; und Psychologen und Psychiater lassen sich entmutigen, die Vorteile von orgasmuslosem Sex näher zu untersuchen, weil Freud, Kinsey und andere dies als eine Paraphilie (sexuelle Störung) betrachteten. Als Ergebnis davon setzen sie die Ausdrücke „sexualfreundlich“ und „orgasmusfreundlich“ miteinander gleich. Und zu guter Letzt neigen Theologen, die mit den von mir studierten Texten vertraut sind, häufig dazu, die heilsamen Möglichkeiten von Sex außerhalb der Fortpflanzung zu verneinen, weil sie annehmen, dass ihr Schöpfer sich nur für die unbeschränkte Fortpflanzung des Menschen interessiert.

Keiner dieser Disziplinen verpflichtet, sammle ich Hinweise von ihnen allen. Ich habe entdeckt, dass es viele Gründe dafür gibt, warum wir Menschen ein Interesse daran haben könnten, einen anderen Ansatz für den Geschlechtsverkehr kennenzulernen, wenn Empfängnis nicht unser Ziel ist.

Sie wundern sich vielleicht, was mich dazu motiviert hat, Geschlechtsverkehr ohne Orgasmus überhaupt ergründen zu wollen. Denn schließlich läuft unser Paarungsprogramm unterbewusst ab und begleitet uns schon seit den Zeiten, als wir noch nicht einmal Menschen waren. Wir sollen es gar nicht bemerken. Und tatsächlich ist niemand von uns wirklich in der Lage, die Herausforderung zu sehen, mit der wir es zu tun haben, wenn er sich nicht aus dem Paarungsprogramm ausklinkt und über längere Zeit mit einem anderen Weg experimentiert, der sexuelle Spannung löst, und dann erst wieder zu fortpflanzungsorientiertem Sex zurückkehrt, um den Unterschied zu erleben.

Wohl oder übel hatte ich ausreichend Gelegenheit, dieses Experiment zu machen. Als ich das erste Mal ein Buch über taoistisches Gedankengut zum Geschlechtsverkehr las, fühlte ich mich sehr dazu hingezogen, doch die Anweisungen, wie man vorzugehen hat, verwirrten mich sehr. Ich war damals noch davon überzeugt, dass Leidenschaft doch irgendwo in der Gleichung Platz haben müsste. Das Ergebnis war, dass mein Liebesleben dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ glich, wo der Hauptdarsteller dazu verdammt scheint, die gleichen Ereignisse bis in alle Ewigkeit wieder und wieder erleben zu müssen.

Doch in Wirklichkeit lernte ich langsam aber sicher ein paar Grundlagen über unser unbewusstes Paarungsprogramm. Sie fügten sich nur nicht nahtlos in mein Verständnis von dem taoistischen Model, dem ich zu folgen versuchte. Doch sie passten erstaunlich gut zu dem Wissen, das mein Mann Jahre nach unserem Kennenlernen und dem Beginn unserer Versuche mit Karezza ausgrub.

Ich möchte mit Ihnen teilen, was ich gelernt habe, und fange mit meinem ersten Lehrer an: meiner eigenen Erfahrung. Es war ein ziemlicher Zickzackkurs, als ich auszog, um altes Gedankengut auszuprobieren, das mehr Tiefe und Harmonie in Beziehungen versprach. Und im Laufe meiner Reise stellte ich fest, dass ich nicht die Einzige war, die von zerbrechlichen Beziehungsstrukturen geplagt war; das Phänomen der Trennung schlich sich so ziemlich in jede Beziehung ein, gleichgültig, wie lang sie schon bestand. Andere unerwartete Einsichten folgten, und die nächsten zwei Kapitel beziehen sich sowohl auf einige dieser „Aha-Erlebnisse“ als auch auf die Blessuren, die ich mir in meinen ersten frühen Bemühungen zuzog. Ich denke an diese Zeit als die „Yin-Phase“ oder die rezeptive Phase meines Abenteuers zurück, weil ich mein Bestes tat, um offenzubleiben für die Einsichten, die zu mir kamen, auch wenn sie nicht wissenschaftlich fundiert waren und damals überhaupt nicht in mein Weltbild passten.

Als Will in mein Leben trat, vervollständigten die objektiven Informationen, die er beitrug, meine früheren subjektiven Beobachtungen auf ­unerwartete Art und Weise. Ich denke an diese Zeit zurück als die „Yang-Phase“, weil Wills Beiträge (die auf dem heutigen Verständnis vieler inspirierter Wissenschaftler basieren) uns ein vollständigeres, abgerundeteres Verständnis dessen ermöglichten, was ich erfahren und beobachtet hatte. Seine Forschungen prägen Kapitel vier (Im Herzen des Trennungsvirus), fünf (Der Zyklus der Leidenschaft), sechs (Die Straße zum Exzess), und acht (Bindendes Wissen) und enthüllen die Funktionsweise unseres im Unbewussten verankerten Paarungs- und Bindungsprogramms aus wissenschaftlicher Sicht.

Selbst wenn Sie glauben, dass Sie Wissenschaftliches nicht mögen, werden Sie überrascht sein, wie sehr dieser Teil des Buches Sie möglicherweise fesseln wird. Wir werden uns damit befassen, wie unsere dominanten Gene uns manipulieren, um ihren Auftrag auf Kosten unserer Partnerschaften zu erfüllen. Wir werden uns den Orgasmuszyklus näher anschauen und erfahren, welche aktuellen Quellen uns mehr darüber erzählen, wie dieser Zyklus zuweilen als Ursache für zwanghaftes Verhalten dient. Wir werden außerdem untersuchen, welche Gründe es geben könnte, dass Karezza zu Heilung, Ausgewogenheit und stärkerer emotionaler Bindung beiträgt.

In Kapitel sieben geht es dann darum, wie wir die Balance zwischen unserem Paarungs- und Bindungsprogramm verschieben können. Kapitel neun (Den Abgrund überbrücken) erläutert, wie es dazu kam, dass wir den Orgasmus als „Stimmungsmedikament“ benutzt haben, und warum diese Strategie für Säugetiere mit fester Paarbindung wie uns fatal sein kann. In dem Kapitel schlagen wir auch Vorgehensweisen vor, wie man andere Menschen mit dem Konzept von Karezza vertraut machen kann. Kapitel zehn (Der Weg der Harmonie) fasst die Praxis von Karezza selbst zusammen.

Seien Sie sich bewusst, dass die Kapitel mit praktischen Vorschlägen wahrscheinlich die am wenigsten wichtigen Teile dieses Buches sind. Wenn Sie einmal die Ursprünge und Mechanismen der Herausforderung, der sich die Menschheit gegenübersieht, verstanden haben, dann werden auch Sie Ihre eigenen Wege zu der Möglichkeit großherzigen, liebevollen ­Karezzas finden. Solange Sie diese Informationen nicht vollständig integriert haben, sind alle praktischen Vorschläge, die dazu dienen, Ihrem unbewussten Paarungsprogramm zu entgehen, nichts mehr als angenehme, doch irgendwie leere Übungen. Dann könnte es so sein, dass Sie in Ihrer ganz persönlichen „Und täglich grüßt das Murmeltier – Schleife“ enden.

Das Gift an Amors Pfeil

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