Читать книгу Lieder von Liebe und Schwein - Martin-Aike Almstedt - Страница 5
ОглавлениеLieder von Liebe und Schwein
1. Die Ankunft des Schweins
„Morgen früh um 7 Uhr findet Ihre Enthauptung statt“. Es war egal, wie die Stimme klang, die das sagte. Mein Körper wurde starr, fing dann aber heftig zu zucken an, als sich etwas Kaltes und Nasses klatschend auf meinen Hals legte. Das also war der Tod. Ich erwachte. Ruckartig setzte ich mich auf und griff nach oben. Ein Schauer durchfuhr meinen Körper. Wo war mein Kopf? Es dauerte, bis ich den Mut hatte weiterzudenken. - Irgendwann fiel mein Blick auf ein tiefrot gefärbtes nasses Ahornblatt in meiner rechten Hand. Jaaa! Das also.-
Es war ein diesiger Morgen im Herbst. Das Fenster stand offen und Nebel wehte herein, beinahe „schelmenzünftig“ wie in Zettels Traum. Gott sei Dank, meine Erleichterung war riesig. Ich schaute nach links. Dort lag halbnackt meine schöne junge Frau und schlief. „Meermuscheln lippten …“, würde Arno Schmidt bei diesem Anblick vielleicht schreiben. Ein Glücksgefühl durchströmte meinen Körper. Plötzlich bemerkte ich, dass ich fror. Noch sitzend drehte ich mich langsam weiter zu ihr hin und wollte sie bedecken. Da öffneten sich ihre Augen, und sie sagte fest und gänzlich klar: „Ich will ein Schwein.“ „Wie, was?“ „Ja, ein Schwein.“ „Erstmal guten Morgen, Anna Mu“, hörte ich mich etwas verwundert sagen. „Lenk nicht ab“, erwiderte meine Freundin, die mir, wie mir nun wieder einmal schien, vom Schicksal gütig zugedacht worden war - auch und gewiss zwecks inneren Wachstums meinerseits, wie ich oft meinte ahnen zu sollen. „Ich will ein Schwein, und das weißt Du.“
Nun saß sie ebenfalls aufgerichtet im Bett und bereit, ihr seltsames Begehren durchzusetzen. „Wirklich ein Schwein? Und ich soll das wissen?“ „Ja natürlich!“, hörte ich sie mit Nachdruck sagen. Mir kam ihr Wunsch allerdings keineswegs natürlich vor, ganz und gar nicht, sondern ziemlich verrückt. „Meinst du vielleicht ein Meerschwein?“, fragte ich vorsichtig. Sie verdrehte nur ihre hübschen blauen Augen. In diesem Augenblick schlug die Turmuhr sieben mal. Die Zeit stimmte. Unwillkürlich dachte ich an meine Enthauptung. „Wo soll das Schwein denn wohnen?“ „Natürlich bei uns, in unserer Wohnung.“ Sie erhob sich aus dem Bett. Rilkes Zeilen aus einem ursprünglich seiner angebeteten Lou zugedachten Gedicht durchfuhren mich: „Wie Monde stiegen klar die Knie auf und tauchten in der Schenkel Wolkenränder.“ Kann man es besser sagen? Und weiter rilkisch gesteigert: „Wie ein Bestand von Birken im April warm leer und unverborgen lag die Scham.“ Da gab es nichts als meine Anna Mu, groß und wunderschön, wie die Natur sie geschaffen hatte. Meine Höhenflüge endeten ikarusartig mit ihrem Satz: „Manche haben einen Hund, und wir eben ein Schwein.“ Ich sagte erstmal nichts weiter. Mir kam das Ganze noch weniger natürlich vor als ihr Wunsch, ein Schwein zu besitzen, aber ich wusste zugleich, sie würde mich nicht von ihren bunten Bändern lassen.
Die Bestätigung dieses Wissens ereilte mich auf der Straße vor unserer Wohnung, auf der sie mir mit ihrem korbbeschwerten Fahrrad entgegenkam. Ich spürte sofort eine seltsame Erregung - und tatsächlich: aus dem Korb blickte mich ein hübsches Ferkel an. Sie lachte ihr blitzendes Lachen, das noch kräftiger wurde, als sie mein verdutztes Gesicht sah.
Aus heutiger Sicht erscheint mir das bisher Geschilderte völlig normal, jetzt, wo es die seltsamsten Ansichten inmitten pandemischer Zeiten gibt. So erzählte mir neulich eine junge Schülerin allen Ernstes - sie geht regelmäßig zum Reiten -, dass sie beabsichtigt, zusammen mit vielen ReitschülerInnen und demnächst hoffentlich auch mit Tier- und Naturschutzverbänden für die Befreiung von Pferden zu demonstrieren. „Wie das?“, fragte ich. „Nun, man muss sich klar machen, dass die PS-Kraft in den Motoren von Pferden kommt.“ Sie schaute aus dem Fenster. „Dort auf dem Feld kannst Du einen großen Häcksler sehen. Der verfügt über tausend PS. Das bedeutet, dass tausend Pferde dafür sterben mussten. Und nun denk mal an die unendlich vielen Motoren in den unterschiedlichsten Fahrzeugen, z. B. in den Milliarden Autos auf der Welt, dann kannst Du das ungeheure Verbrechen ermessen, das allein die Autoindustrie fortwährend verübt. Jeder fühlende Mensch sollte sich uns anschließen und mit uns demonstrieren.“
Was ist dagegen der verrückte Wunsch, ein Schwein in der Wohnung zu halten, oder gar gegen virale Irrsinns-Phantasien heute, die sich fälschlich als Theorien bezeichnen?
Wie dem auch sei: Als mich das Tierchen aus dem Korb anblickte und grunzte, geschah es zu meiner Überraschung, dass ich mich - ich gestehe es frei - in das Ferkel verliebte. Es war im Kopf wie eine Kippfigur, bei der aus einer alten Kanne eine Frau wird. Hier nun wurde aus Abneigung angesichts der Vorstellung, ein echtes Schwein in der Wohnung zu haben, Liebe auf den ersten Blick.
Ich konnte nicht anders als das Tier zu streicheln. Es grunzte fröhlich, legte sich auf den Rücken, quiekte und wollte offenkundig nun auch am Bauch liebkost werden. Konnte ich das in Gegenwart meiner Freundin tun, ohne dass sie eifersüchtig werden würde? Die Frage erübrigte sich: Mein Arm streckte sich aus - ganz von selbst, wie er sich nicht lange zuvor traumtrunken ausgestreckt hatte, um nach meinem Kopf zu suchen - und ich fühlte das leicht stachelige Fell des Borstentieres, das sich nun seinerseits meiner Hand entgegenwand. „Na, es geht doch“, sagte Anna Mu, und ihr Lachen wurde hell und tönte durch die Straße. Kräftiger grunzend lachte das Schwein nun auch, und mir entrang sich ebenfalls ein stockendes Lächellachen, und so erreichten wir etwas später unbehelligt das Haus, in dem wir nun fürderhin zusammen mit unserem Schwein wohnten.