Читать книгу Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst - Martin André Steinert - Страница 7
ОглавлениеMeine Kindheit – Die Jahre von 1982 bis 1989
Meine Kindheit und Jugendzeit möchte ich bewusst nicht allzu ausführlich beschreiben. Denn viele Empfindungen und Erfahrungen werden bestimmt anderen Transmännern sehr ähnlich sein.
Meinen Schwerpunkt dieses Buches sollen die Jahre 2016 bis 2020 bilden. Nicht nur weil es die härtesten und wichtigsten Jahre in meinem bisherigen Leben waren, sondern vielmehr, weil sie den Grundstein für mein spätes „Coming-out“ im Alter von 42 Jahren legten. Aufgrund der Bedeutung dieser vier Jahre bis Anfang 2020 möchte ich für ihre Beschreibung einen „neuen“ Ansatz wagen. Weg von einer Erzählung meiner Vergangenheit hin zu einem Wechsel an Gedichten, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Berichten. Meiner ganzen Sammlung an eigenen Schreiben aus diesen Jahren. Besonders wichtig sind mir dabei auch meine Kommentare aus heutiger Sicht, nach einem Jahr meines Transmann-Weges, die ich neu geschrieben und dazwischen eingefügt habe.
Aber meine Kindheit und Jugend kann ich trotzdem nicht ganz vernachlässigen, weil mich diese Jahre sehr geprägt haben.
Und ein jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt …
Auch wenn ich in meiner Biografie nicht ganz so weit zurückblicken möchte.
Nach außen hin schien alles klar zu sein. Ich wurde als Mädchen geboren und entsprach damit dem ersehnten Wunsch meiner Eltern. Ich selbst aber fühlte mich von Anfang an als ein Junge. Offen sprach ich darüber nicht, weil ich mich für diese „Gedanken“ schämte. Ich verbarg sie möglichst ganz tief in mir. Unter den schönen Kleidern, die meine Mutter sehr liebevoll für ihre Tochter aussuchte und häufig auch selbst nähte oder strickte. Ich wusste, dass sie sich darüber sehr freute, und ich wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Obwohl ich mich in mädchenhaften Kleidungsstücken sehr unwohl fühlte. Vor allem Strumpfhosen und Röcke hasste ich, die ich dann vor Widerwillen auch nicht mehr häufig tragen musste. Freche Shirts, Jeanshosen und Sportsocken waren mir am liebsten. Sie waren gefragt bei meinen Kumpels aus der Nachbarschaft, und ich wollte zu ihnen gehören. Jungs waren meine besten Freunde, weil ich so dachte und die gleichen Interessen hatte wie sie. Meine Freizeit verbrachte ich am liebsten mit Fußball spielen, Abenteuerspielen im Freien. Manchmal sogar auch mit waghalsigen Klettertouren oder Zündeln. Ich wollte einfach dazugehören und musste über meine ängstliche Seite, die es häufig auch schon gab, springen. Mädchenfreundschaften dagegen waren mir zu „kitschig“. Ich kam mit ihnen absolut nicht zurecht. Und wenn ich eine Freundin gefunden hatte, dann war schnell wieder Schluss, weil es mir keinen Spaß machte, zu malen, mit Puppen zu spielen. Auch außerhalb dieser Klischees spürte ich schon damals, dass ich anders war, anders fühlte und dachte als die Mädchen in meinem Umfeld.
Das bemerkten auch meine Eltern schnell. Und ich bekam das Spielzeug, das ich mir wünschte und das kaum zu einem Mädchen passte. Und wenn ich dann doch einen flotten Puppenwagen mit toller Puppe geschenkt bekam, war ich eben der Puppen-Papa. Ich lernte mich an alle Gegebenheiten anzupassen, um damit meine innere Zerrissenheit von Anfang an möglichst gegenüber meinen fürsorglichen Eltern zu verbergen, die alles für ihre Tochter taten. Und ich hatte ja meine Kumpels aus der Nachbarschaft, zu denen ich dann gehen konnte, wenn mir meine Rolle als Mädchen zu viel wurde.
Einen weiteren Lieblingsort fand ich bei meiner Oma (mütterlicherseits). Zu ihr hatte ich von klein auf ein sehr enges, herzliches Verhältnis, weil ich viel bei ihr war, und ich fühlte mich von meiner Oma zu jeder Zeit voll verstanden. Sie nahm mich an, egal wie ich mich nach außen zeigte. Und sie sah dabei tief in mein Herz und spürte schon sehr bald, dass ich „anders“ war. Aus diesem Grund war sie die Person, vor der ich mich am wenigsten zu „verstellen“ brauchte. Und wenn ich dann mit ihr spielte und ich ganz ihr „Junge“ sein durfte, akzeptierte und mochte sie mich ebenso wie das Mädchen, das ich sonst war.
Ich spürte auch die große Liebe und Fürsorge meiner Eltern, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bemerken und wissen konnten, wie ich mich in meinem Innern fühlte. Denn allein die mangelnde Aufklärung machte es für meine Eltern fast unmöglich, mein Verhalten richtig einzuschätzen oder mich gar zu dieser Zeit (in den 80er-Jahren) als „Transident“ einzustufen. Zumal ich sie nicht damit verletzen wollte, dass ich mich nicht als Mädchen fühlen konnte. Und ich gewöhnte mir an, nur dann der Junge zu sein, wenn es meine Umwelt und die Situation zuließen und es möglichst wenig auffiel. Denn in den Augen meiner Eltern und auch vor meiner sonstigen Umwelt entsprach mein äußerliches Erscheinungsbild eben dem eines Mädchens. Der Druck, den ich dabei empfand, entsprang MEINEM inneren Gefühl und Bild, das ICH von mir hatte. Meine Umgebung konnte dabei nicht wissen, dass es für mich in meiner Seele zu einem immer größeren Problem wurde, meinen biologischen Vorgaben (eines Mädchens) entsprechen zu müssen.
Niemand anderes als der Betroffene selbst kann nachempfinden, wie es sich anfühlt, im „falschen Körper“ leben zu müssen, weil man selbst eine andere Person mit ganz anderen Empfindungen und Blickwinkeln ist. Und alles von außen wird dann als „Druck“ empfunden, weil es den krassen Gegensatz der eigenen Erwartungen und des Bilds von einem selbst darstellt. Letztendlich wird dabei der Druck nicht von außen, sondern in einem selbst aufgebaut. Und dennoch sah ich die Welt auch aus meinen Kinderaugen. Und vieles, was im Moment schwer und bedrückend erschien, war im nächsten schon viel leichter oder gar vergessen. Aus diesem Grund gab es auch viele schöne Stunden und Tage, in denen ich die Leichtigkeit und Freude des „Kindseins“ erfahren durfte.
Zudem liefen viele Vorgänge bei mir als Kind im Vorschulalter noch unbewusst ab. Und ich lernte „automatisch“, wie ich mich nach außen hin zu verhalten hatte. Positiv zeigte sich dies in meiner überwiegend lebendigen, lebensfrohen Art, die meine noch „unbeschwerte“ Kindheit widerspiegelte. Andererseits aber bildete meine Kindheit auch die Basis, über meine Gedanken und Empfindungen zu schweigen und mich vor meiner Umwelt zu verleugnen. Mein Bild von mir wurde zusammen mit meinen Gefühlen, nicht Junge sein zu dürfen, Tag für Tag geschluckt und irgendwo tief in mir abgelegt. Und genau diese Trauer und mein kindliches Unverständnis des großen Zwiespalts in mir entwickelten sich zu einer ungeahnten Zeitbombe der Verzweiflung und des Selbsthasses, die meinen Körper in weiter Zukunft fast zu sprengen schaffte.
Zudem versuchte ich meine innere Zerrissenheit und die „Lähmung“ meiner wahren Gefühle durch einen großen Bewegungsdrang zu kompensieren. Beim „Sport“ konnte und durfte ich noch am ehesten „Junge“ sein. Wenn das Wetter es nicht zuließ, mit meinen Freunden aus der Nachbarschaft draußen Fußball zu spielen, wurde das Wohnzimmer zum Spielfeld. Mit meinem Vater boxte ich um die Wette, machte mit ihm Ringkämpfe oder aber wurden Mamas Vasen das Opfer unserer nicht ganz gezielten Softball-Schüsse.
Doch meine „heile Welt“ bekam schon ihre ersten kleinen Risse, als ich in die Grundschule kam. Die geforderte Rolle, ein Mädchen zu sein, wurde größer, und ich konnte mich dieser „Realität“ immer weniger entziehen. Aber ich war eine sehr gute Schülerin, nahm das Lernen ernst und bemerkte schon bald, dass ich mir durch hervorragende Noten und Leistungen Ansehen erringen konnte. Weniger bei meinen Klassenkameraden/-innen, als vielmehr bei den Lehrer/-innen. Ich bekam zu ihnen schnell einen guten Draht, vor allem Anerkennung von ihnen, weshalb ich meine Rolle als Schüler/-in immer mehr perfektionierte, während ich mich von mir selbst Schritt für Schritt entfernte. Ich erkannte, dass ich durch Leistung und Fleiß all das von außen bekam, was ich mir selbst immer weniger geben konnte. Ich klammerte mich an meine schulischen Erfolge, um meine Fassade am Strahlen zu erhalten. Mein Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, auf meine innere Stimme zu hören, begannen dagegen unter dem „Rollendruck“ langsam, aber sicher zu zerbröseln.
Alles vollzog sich zunächst noch schleichend, mehr oder weniger unbewusst. Zumal ich in der Grundschule noch voll und ganz in der Jungs-Clique aufgenommen war, gute Freunde hatte und durch meine sportlichen Leistungen ein Ventil gefunden hatte, alle negativen Emotionen abzubauen.
Der sportliche Gedanke war auch der Grund, weshalb ich absolut entgegen allen Empfehlungen nicht auf das Gymnasium, sondern in die Realschule nach Uhingen wechseln wollte. Denn dort gab es ein großes Stadion, ein Hallenbad, und sportliche Fähigkeiten wurden in die verschiedensten Richtungen gezielt gefördert. Genau das wollte ich. Wenigstens meine letzte Lebensfreude am Leben erhalten und zeigen, was der „Junge in mir“ draufhat. Vor allem auch endlich eine Sportart entdecken zu dürfen, die ganz zu mir passt. Denn bislang wusste ich nur, dass wenn ich einen Ball oder Schläger in die Hand bekam, ich nicht mehr zu bremsen war.
Mit Mühe und durch die Unterstützung meiner Eltern widersetzte ich mich dem Empfehlungsdruck meiner Umwelt, und ich durfte mit elf Jahren in die Realschule gehen. Ein zusätzliches Argument war die Tatsache, dass ich ja nach der Mittleren Reife auf ein weiterführendes Gymnasium wechseln konnte. Und obwohl ich zu dieser Zeit einen hervorragenden allgemeinen Gesundheitszustand besaß, litt ich häufig unter Stress und Belastungssituationen an migräneartigen Kopfschmerzen. Aus diesem Grund versprach ich mir von der Realschule in Verbindung mit den sportlichen Möglichkeiten auch ein geringeres Überlastungsrisiko.
Doch meine große Freude und die Hoffnung auf eine weitere „entspannte“ Schulzeit wurden sehr schnell von der bitteren Realität meines immer stärker werdenden „inneren Identitätskampfes“ eingeholt: Die Zeit der Pubertät war für mich eine äußerst niederschmetternde Phase. Meine Kumpels schlossen mich schon im Verlauf des ersten Jahres in der Realschule aus der „Jungs-Clique“ aus, weil ich nicht mehr zu ihnen passte und ich mich natürlich entgegengesetzt entwickelte. Freundinnen fand ich kaum, weil ich mich in ihren Kreisen absolut unwohl und nicht zugehörig fühlte. So kam es, dass ich mich immer mehr abkapselte und mich in meine „fremde“ Welt zurückzog. Einen letzten sozialen Halt bekam ich lediglich durch eine sehr gute Freundin, die zu mir hielt und mich vor allem auch dann akzeptierte, als sie bemerkte, dass ich nicht dem typischen Mädchenbild entsprach und immer wieder der „Junge“ bei mir durchschimmerte.
Ansonsten wurde meine eigene Pubertät zum Ausgangspunkt meiner schweren Erkrankung, die mich über Jahrzehnte hinweg nicht nur bis ans absolute Limit trieb, mir meine ganze Jugend und noch viele weitere Jahre zerstörte, sondern mehrmals fast mein Leben kosten sollte. Die Basis dafür bildete im Jahr 1989 mit zwölf Jahren eigentlich nur ein einziger Tag, an dem ich meine erste Periode bekam und der ein absolutes Schockerlebnis für mich war. Mein Selbstbild wurde mit einem Schlag komplett zerschmettert. Wie konnte ich weiterleben, wenn ich mich zu einer Frau entwickeln müsste? Dieser Körper musste verhindert werden, egal wie. Und meine Seele wütete in mir und schrie mich an: „Tu was, rette mich vor dem falschen Körper!“
Doch anstatt meine Seele, mein wahres Ich, zu retten, begann ich unaufhaltsam mit eisernem Willen, ihr „Zuhause“, meinen Körper auszuhungern. Mein Schritt in die Anorexie, Magersucht (ohne Bulimie), war meine Flucht davor, eine Frau zu werden. Indem ich versuchte, meinen Körper auf ein „neutrales Niveau“ auszuzehren, behielt ich die Kontrolle über ihn. Und die „weichen“ Formen wichen immer mehr einer stählernen Härte, die nicht nur die Fassade meiner verzweifelten Psyche bildete, sondern tief in mir das Gitter formte, in das ich meine Seele sperrte. Der Hass gegenüber meinem Körper wurde zu einem Selbsthass, der meine eigene Identität vollends begrub. Mein Schweigen mir selbst gegenüber war dabei der Fluchtmechanismus meiner Angst und Scham, der durch meine Anorexie noch verstärkt wurde. Denn umso stärker ich meinen Körper aushungerte, desto mehr verhungerte dabei auch meine Seele in mir.
Und noch bevor ich meine Kindheit richtig verabschieden konnte, verhinderte ich den Übergang in eine „normale“ Jugend. Meine Seele erstarrte irgendwo dazwischen. Ihre Wünsche verhallten an den Wänden des Käfigs, der sie in den Tiefen gefangen hielt und lediglich einen verzweifelten Blick in eine unendlich ferne, noch dunkle Zukunft freigab.
So wie ich bin
Ich träume davon,
dass jemand mich annähme,
einfach so wie ich bin,
mit meinen ungereimten Wünschen,
unfertigem Charakter
und alten Ängsten.
Ich träume davon, dass
jemand mich gelten lässt,
ohne mich zu erziehen, mit
mir übereinstimmt, ohne
sich anzustrengen.
Ich träume davon,
dass ich mich nicht
verteidigen muss, nicht
erklären und kämpfen muss,
dass einer mich liebt.
(Otti Pfeiffer)