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Meine Jugendzeit – Die Jahre von 1990 bis 2000

Momente

Über mir

ein dichtes Dach aus rauschenden Blättern,

bunte Farben verströmen Wärme und

trennen mich vor der Kühle des Morgens.

Nur Sonnenstrahlen durchbrechen

das schwingende Leben,

dringen hell und strahlend

durch laue Lüfte,

um sich in glitzernden Pfützen

wiederzufinden.

Eine Sehnsucht nach ewiger Ruhe erwacht;

sie besiegt

das schleichende Gefühl von Einsamkeit,

von Bedeutungslosigkeit

inmitten überwältigender Natur,

deren zarte Kräfte die Momente bestimmen;

ich möchte bleiben,

doch es ist mein Weg zur Schule.

(geschrieben von Martina Steinert im Jahr 1996)

Durch meine Anorexie veränderte ich mich sehr. Nicht nur körperlich, indem ich immer dünner wurde. Auch mein Denken und Verhalten wurde von meinen Schulkameraden immer weniger verstanden. Ich zog mich komplett zurück, mied wenn möglich sämtliche Treffen und konzentrierte mich darauf, meine Leistungen erbringen zu können. Dieser enorme Fleiß, den ich mir aneignete, zusammen mit meinen sehr guten Noten in allen Fächern, wurde zu einem Dorn in den Augen meiner Klassenkameraden. Gerade die Jungs in meiner Klasse reagierten mit einem enormen „Mobbing“-Verhalten, das mich häufig bis an meine Belastungsgrenze trieb. Ich wurde noch stärker ausgegrenzt, vielfach beschimpft, niedergemacht, gehänselt („Was bist du eigentlich?!“), und manchmal wurden mir sogar noch meine Arbeiten vor der Benotung gestohlen. Mein einziger Ausweg, alles zu ertragen, war das sehr gute Verhältnis zu meinen Lehrern und Lehrerinnen, das ich mir erarbeitete. Doch dadurch wurde meine Stellung in der Klasse zu einem regelrechten Minenfeld für mich. Aber ich lernte immer mehr, über alles hinwegzusehen, weil ich den Blick fast nur noch auf mein akribisches Lernen gelenkt hatte. Fast, denn es gab ja noch meinen Sport.

Aufgrund meiner zunächst noch vorhandenen Kraft und guten körperlichen Konstitution (46 kg bei 1,57 m) entschied ich mich noch im Jahr 1988 beim Wechsel auf die Realschule für die Leichtathletik. Denn Ballsportarten wurden nicht so intensiv als AG mit Wettkampfziel gefördert. Obwohl ich schon Tennis und Tischtennis ausprobiert hatte, war mein Ziel, mich jetzt innerhalb der Leichtathletik auf Wurfdisziplinen zu konzentrieren. Noch im ersten Realschuljahr vor dem Beginn meiner Anorexie spezialisierte ich mich auf Schlagball-Weitwurf, der dann schnell von Speerwurf und Kugelstoßen abgelöst wurde. Ich trainierte voller Freude und Motivation als zunächst noch wichtigem Gegenpol zu meinem schulischen „Leistungskampf“. Vor allem im Speerwurf erzielte ich durch eine solide Technik schnell gute Leistungen. In der Sportgruppe ging ich voll auf und fand dort nette Kameraden/-innen, die mich auch ohne Neid akzeptierten. Für sie war ich zwar ein Mädchen, aber für mich selbst erschien beim Sport immer mein inneres Selbstbild als Junge vor meinen Augen. Nur in dieser Gruppe gönnte ich mir diesen Gedanken, eine andere Person zu sein. Denn bloß der Sport schenkte mir dazu zunächst noch die nötige Sicherheit, Freiheit und etwas mehr Selbstvertrauen.

Doch mit Beginn meiner Anorexie im Jahr 1989 änderte sich alles schlagartig. Auch meine Beziehung zum Sport. Dies bemerkte ich vor allem im Jahr 1990, nachdem ich mich auf „nur“ noch 40 kg innerhalb eines halben Jahres heruntergehungert hatte. Meine Kräfte, vor allem für den Speerwurf, schwanden von Tag zu Tag. Natürlich bemerkten auch meine Sportkameraden/-innen und mein Trainer, dass etwas nicht mit mir stimmen konnte. Sie schlugen Alarm, redeten auf mich ein. Ich wehrte ab, es sei nur eine Phase. Aber ich erkannte, in welch schrecklichem Dilemma ich steckte, da ich doch eigentlich meinen Sport so liebte, aber immer weniger Leistung erbringen konnte.

Doch die Magersucht hatte mich schon voll im Griff. Sie übernahm das Kommando über mein Handeln. Und ihre Signale waren eindeutig: Umso mehr ich an Gewicht abnehmen würde, desto weniger müsste ich eine Frau werden. Und nichts auf der Welt war mir wichtiger, als das zu verhindern! Meine Sucht wurde zum Mittel, meinem einzigen Ausweg, meine falsche Identität zu erdrücken, meinen Körper immer weiter aufzuzehren, die absolute Kontrolle über ihn zu bewahren. Ich hasste ihn, und er musste leiden, weil er mein Selbstbild immer weiter zerstören würde, wenn er sich frei entwickeln dürfte.

Fataler Weise konnte ich genau zu dem Zeitpunkt im Jahr 1990 im Speerwurf kaum noch gute Ergebnisse erbringen, als ich mit der Schulmannschaft bei „Jugend trainiert für Olympia“ in der Leichtathletik das Landesfinale gewann und wir nach Berlin zum Bundesfinale reisen durften! Doch mein Trainer wusste, was es für mich bedeuten würde, wenn auch „nur“ für meine Psyche. Und ich durfte mit. Allerdings bedeutete dieser Wettkampf und die Reise nach Berlin den absoluten Bruch für mich in dieser Disziplin.

Denn in meinen Gedanken existierte nur noch mein unkontrollierbarer „Wahn“ weiter abzunehmen und ich wusste auch schon wie. Indem ich in den Ausdauersport wechseln wollte.

Ein Wechsel mit weitreichenden Folgen. Denn ab sofort war der Sport keine motivierende „Nebensache“ mehr. Er wurde zur absoluten Pflicht, zu einem täglichen „Muss“, einem MITTEL ZUM ZWECK.

Das Sprungbrett für meinen Wechsel zum Langstreckenlauf bildete dabei der Verein im benachbarten Ort der Realschule, dessen Trainer auch mein Sportlehrer war. Da er mich sehr gut kannte und wusste, wie wichtig mir der Sport war, organisierte er mir die zusätzlichen Trainingsstunden an zwei Abenden in der Woche. Doch die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Denn er verfolgte sehr besorgt meinen Gesundheitszustand, der nicht nur für ihn ein Warnsignal zum Handeln war.

Von meiner ganzen Umwelt wurde ich angesprochen, warum ich so abgenommen hätte, was mit mir los sei. Und dazwischen standen meine verzweifelten Eltern, deren Fragen an mich ebenso unbeantwortet blieben.

Ich spürte, wie der Druck erneut zunahm. Nur diesmal von zwei Seiten. Einerseits von außen, weil sich alle um mich sorgten und eine Therapie immer näher rückte. Andererseits wurde der Druck in mir selbst immer größer. Ich wollte unbedingt mit dem Laufen beginnen. Also musste ich mir noch ein paar Kraftreserven erhalten, meinen Motor nicht ganz abwürgen. Dabei fühlte ich mich aber immer noch viel zu dick. Und mein Wille, weitere Kilos abzunehmen, war fester als alle Bitten meiner Umwelt, umzukehren, bevor es zu spät sei.

Dabei fühlte ich mich zunächst von Tag zu Tag besser, und ich täuschte meinem Umfeld vor, dass es bestimmt wieder besser würde.

Und ich begann mit dem Laufen. Beflügelt, immer leichter, weiter und länger.

Und ich lernte schon nach einem Jahr mit meiner Erkrankung immer besser umzugehen, meine Reserven nicht zu stark zu überfordern. Ich aß zwar sehr wenig, aber nie nichts. Ich lief viel, aber ich wollte mich nicht zu Tode laufen. Und so stand meine Anorexie zu diesem Zeitpunkt nicht mit einer lebensbedrohenden kontinuierlichen Gewichtsabnahme in Zusammenhang, sondern vielmehr mit einer nicht zu durchschauenden Berg- und Talfahrt, deren Ende allerdings in „unendliche“ Ferne rückte.

Und die Jahre meiner Realschulzeit bildeten erst den Anfang meiner Leidenszeit, die mir noch bevorstehen sollte. Es waren die Jahre meiner Schulzeit, in denen ich mich unaufhörlich, mehr oder weniger unbewusst getrieben, in ein immer dunkleres, einsames Tal manövrierte. Zunächst noch im Wechselbad meiner Gefühle, zwischen Euphorie, Freude, Stolz, tiefster Trauer, Erschöpfung bis hin zu schwerer Depression. Aber der Leistungswille hielt mich auf meinem Weg, bei meinem Plan, auch wenn ich das Ziel noch nicht kannte.

Ein Ereignis allerdings wurde zu meinem absoluten Festtag im Jahr 1991. Einen Tag nach meiner Konfirmation durfte ich mir endlich meine langen Haare abschneiden lassen. Ich konnte sie von jeher nur deshalb ertragen, weil ich sie zu einem engen Zopf zusammenband, der die langen Haare für mich unsichtbar erschienen ließ. Denn mit offenen Haaren fühlte ich mich wie nackt, entblößt, meine falsche Identität nach außen zeigen zu müssen. So war der Tag meiner Konfirmation auch der einzige, an dem ich keinen Zopf hatte. Meine Bilder mit langen, offenen Haaren fand ich zwar schön. Aber das Mädchen auf dem Bild war nicht ich, sondern eine andere Person!

Obwohl meine Realschulzeit für mich keine leichte Zeit war, hielt ich mich tapfer „über Wasser“ und klammerte mich an die Anerkennung meiner schulischen Leistungen, die meine Anorexie immer wieder verschleiern konnten.

Ein Wechsel auf ein weiterführendes Gymnasium stand außer Debatte, da ich meine Mittlere Reife im Jahr 1994 mit 1,0 abschloss.

Ich wollte selbst unbedingt weiterlernen, da für mich der Erfolg damals sehr wichtig war, um mir, mehr oder weniger unbewusst, für meine Krankheit mehr Raum und Freiheit zu erkämpfen. Denn nicht alles Wissen kam mir entgegengeflogen. Manches musste ich mir mit viel akribischem Fleiß, einer immer größeren Verbissenheit und Präzision hart erarbeiten. Der Druck meiner Sucht, mir selbst gegenüber immer perfekter werden zu müssen, zeigte sich auch in meinem Leistungswillen.

Aufgrund meiner Lieblingsfächer Biologie und Chemie wechselte ich dann noch im Jahr 1994 auf das Ernährungswissenschaftliche Gymnasium (EG) in Göppingen.

Allerdings in einem gesundheitlich zunehmend bedenklichen Zustand. Nicht aus dem Grund, weil ich vielleicht noch keine richtige Behandlung für mein Suchtproblem gefunden hatte. Im Gegenteil!

Schon im selben Jahr mit dem Ausbruch meiner Anorexie im Alter von zwölf Jahren begann meine zusätzliche Therapie-Odyssee, die ich nur vereinfacht beschreiben kann. Natürlich schickten mich meine besorgten Ärzte und nach Hilfe flehenden Eltern in zahlreiche „spezialisierte“ Psychotherapien. Allerdings ohne großen Erfolg und mit stetigem Wechsel, weil nur meine Anorexie im Mittelpunkt stand.

Obwohl ich vor den ersten Therapien große Angst hatte, ging ich bereitwillig hin, weil ich mir tief in meinem Innern doch eine Hilfe versprach. Aber der Schein trügte.

Vielleicht hatte ich wirklich nur Pech. Oder die mangelnde Aufklärung meiner zahlreichen Psychotherapeuten (im ländlichen Raum) in den 90er-Jahren führte zu einer immer stärkeren Abwehr und Frustration bei mir. Von der ersten Therapie an versuchte ich verzweifelt über meine tiefsten Probleme zu reden. Ich wagte sogar den großen, schweren Schritt, mich etwas zu öffnen und meinen Identitätskampf zu erwähnen. Aber ich wurde nie angehört, dagegen vielfach belächelt und sogar als „Neutrum“ bezeichnet, welches seinen Fantasien durch den Suchtdruck freien Lauf ließe und nicht gesund werden wolle! Meine Identitäts„krise“ wäre nur eine Phase oder aber mein Vorwand, nicht essen zu „WOLLEN“. Ich solle einfach mit dem „Hungern“ aufhören, wieder zunehmen, dann würden all meine Probleme gelöst. Dabei waren meine Gefühle nicht in Worte zu fassen. Ich entwickelte von Therapie zu Therapie eine größere Abwehrreaktion, nochmals eine zu machen. Meine Trauer, Wut, Enttäuschung und totale Frustration trieben mich immer weiter in meine Sucht, anstatt mir zu helfen. Aber auf der Berg- und Talfahrt meiner Anorexie war es vielfach aus ärztlicher Sicht eine unumgängliche Notwendigkeit, erneut einen Versuch zu unternehmen. Und ich lernte in meiner Verzweiflung das „Spiel“ mitzuspielen.

Ich sagte zu allem Ja und willigte ein, alles anders zu machen. Daheim angekommen, ließ ich dann meinem Frust freien Lauf und versprach meiner Seele, dass ich sie nicht mehr weiter dem „Feind“ bloßstellen und meinen Körper weiter quälen würde. Ein Ritual meiner letzten Kontrolle, meines Schutzschildes, das von Therapie zu Therapie immer härter werden musste! Ich rannte nicht mehr nur vor mir selbst weg. Durch die meisten meiner Psychotherapeuten/-innen wurde ich in ein Labyrinth getrieben, in dem ich noch hilfloser umherirrte, als jemals die Chance zu erhalten, aus ihm herauszufinden, zu mir selbst; als einzig richtigem Ausgang!

Meine Therapeuten/-innen machten mir dagegen unmissverständlich klar, dass mein Identitätsproblem eine Folge meiner Sucht sei, und NICHT mein „Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein“ die Grundlage meiner Sucht! Diese Meinung traf mich am härtesten. Ich fühlte mich wie eine junge Schildkröte, die ihren Hals immer wieder vorsichtig und noch sehr ängstlich ausstreckte, um einen Blick in die fremde Umwelt zu riskieren. Dann aber bekam sie einen Schlag auf den anderen auf ihren Kopf, bis sie ihn wieder komplett eingezogen hatte und in ihrem Panzer verharrte, der im Verlauf der Zeit zunehmend größer und dicker wurde.

Im Ernährungswissenschaftlichen Gymnasium vollzog sich mein Lernen mit einem zunehmenden Tunnelblick. Ich programmierte mich auf „Leistungsausgabe“ wie eine Maschine. Alles um mich herum erschien wie „verschleiert“ und unwichtig. Dabei wurden von mir auch letzte soziale Kontakte weitestgehend abgebrochen, selbst die zu meinen Klassenkameraden/-innen. Das „Mobbing“ hörte zwar in diesen drei Jahren auf, aber verstanden werden konnte ich von meinen Mitschülern/-innen nicht mehr. Ich lebte in einer anderen, überwiegend dunklen Welt.

Ich verstand auch meine Umwelt immer weniger, weil meine eigene Identität für mich selbst die größte Frage war: Wer war ich, und welche Rolle hatte ich zu spielen? Ich wusste es nicht. Vor allem wollte ich nach außen hin Kraft, Stärke und Beständigkeit zeigen. Im Gegensatz zu meinem Erscheinungsbild, das sich immer mehr „ausdünnte“ und von dem eigenen Schatten überholt zu werden schien. Aber ich sah mich ja nicht selbst. Ich konnte ja nicht einmal einen Blick in den Spiegel werfen! Ich lebte auch nicht mehr für mich, sondern fast nur noch für meinen schulischen Erfolg. Und natürlich auch, um meinen Körper weiter zu quälen. Selbst mein geliebter Sport trat in dieser Zeit etwas in den Hintergrund, weil es auf diesem Gymnasium keine Möglichkeit der Sportförderung gab und ich überwiegend für mich alleine „trainierte“. Besser gesagt noch am Abend, nach vollbrachtem Lernpensum, mit letzten Kraftreserven meine Runden um den Ort lief.

Es war auch die Zeit zwischen meinem 17. bis 20. Lebensjahr, in der ich mich mit meiner Sucht immer mehr arrangierte. Ich nahm nicht kontinuierlich ab, um meiner Umgebung, vor allem meinen Eltern, phasenweise eine Besserung vorzutäuschen. Ich trickste mit dem Essen und manipulierte mein Gewicht, indem ich manchmal innerhalb kürzester Zeit literweise Wasser in mich hineinschüttete.

Und ich tat es nicht mit Fleiß. Es war meine schreckliche Krankheit, der unbeschreibliche innere Druck; meine panische Angst davor, eine Frau werden zu müssen. Doch ich konnte es nicht mehr aussprechen, nach all den schlimmen Erfahrungen, als ich versucht hatte, mich sogar etwas zu öffnen. Die Panik war in mir eingebrannt. Und ich konnte mich nur noch verleugnen und war in ständiger Flucht vor mir selbst. Und das Mittel dazu war mein Körper, der meine falsche Identität vor meinen Augen immer kleiner und ausgehungerter erscheinen ließ.

Allerdings ein Bild, das nie meiner Zufriedenheit entsprach, da es lediglich dem verzerrten „Leitbild“ meines Gefühls, immer noch zu dick zu sein, entsprach!

Obwohl ich nicht ungern lernte, wurden viele Tage zu einem regelrechten Martyrium. Von morgens bis abends konzentrierte ich mich auf meine schulischen Aufgaben und forderte mich, indem ich viele zusätzliche Bücher und Fachzeitschriften las, um mir möglichst in allen Fächern ein noch größeres Wissen anzueignen. Und fiel mir etwas schwer, dann wurde seitenweise auswendig gelernt. Andere Hobbys, bis auf mein Laufen, gab es nicht mehr. Ich traf mich auch mit niemandem, da ich dafür keine Zeit mehr hatte. Außerdem mied ich möglichst alle Orte, wo ich in der Öffentlichkeit etwas essen oder trinken musste.

Ich wurde immer einsamer und merkte es nicht, weil ich mich selbst schon lange verlassen hatte!

Das Einzige, was mir in meiner schweren Depression im letzten Schuljahr 1996/1997 etwas half, war der Literaturkurs, den ich mir als Wahlfach auswählte.

Ein einziges Fach, indem ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte und mir meine Verzweiflung von der Seele schrieb. Viele düstere Gedichte (in Prosaform) und Geschichten, die ich aufgrund ihrer „wundersamen“ Vorhersage und Doppeldeutigkeit im Kapitel „2016 bis 2020 – Die härtesten und entscheidendsten Jahre meiner Selbstfindung“ eingefügt habe.

Doch ein Trost in allem Leid war, dass sich mein Fleiß auszahlte, indem ich mir für meine schulischen Leistungen große Anerkennung erkämpft hatte: Meine Allgemeine Hochschulreife (Wahlfächer: Chemie mit Ernährungslehre und Biologie) schloss ich im Jahr 1997 mit der Note 1,1 ab und erhielt dazu den „Scheffelpreis“.

Ein trügerischer „Ruhm“. Meine mittlerweile chronische Erkrankung und vor allem meine tiefe innere Zerrissenheit erdrückten meine Freude, weil ich nicht wusste, für WEN ich mich freuen sollte!

Im Anschluss an meine Schulzeit stand ich nun vor der großen Frage, wie es weitergehen sollte. Einen Lehrberuf schloss ich schnellstens aus. Erstens weil ich nicht wusste, welcher der richtige für mich sein könnte. Zweitens weil ich riesige Angst davor hatte, von vornherein aufgrund meines Gesundheitszustandes abgelehnt zu werden. Nach schwerer Überlegung entschloss ich mich dann für ein Studium der Diplom-Agrarbiologie an der Universität Hohenheim, das ich noch im Jahr 1997 begann.

Allerdings war es absolut keine freie Entscheidung, da meine Auswahl nicht ganz meinem Wunsch entsprach und ich mich von äußeren Meinungen leiten ließ, weil ich so wenig Selbstvertrauen hatte und ich in meiner Erkrankung keine Verantwortung für mich selbst übernehmen konnte.

Vor allem bei großen Entscheidungen war ich wie gelähmt, weil ich mich nicht an einem konkreten Zukunftsziel orientieren konnte. Ich musste mich immer zuerst meinem „Suchtdruck“ beugen, der von mir verlangte, alles in meinem Leben so zu gestalten, dass ich nicht die Kontrolle über meinen Körper verlor. Folglich schied ein Studium fern meiner Heimat komplett aus, weil ich dann von zu Hause hätte ausziehen müssen. Das aber wäre für meine täglichen „Rituale“ und meine Sicherheit ein unmöglicher Gedanke gewesen. Genauso wie ich mir meine eigene Zukunft nicht vorstellen konnte. Ich stand absolut neben und fern von mir. Ich war eine andere Person, die ich nicht kannte und von der ich nicht wusste, was sie für Pläne hatte. Aus diesen Gründen wurde die so weitreichende Entscheidung für ein Studium zu einem „Mammutprojekt“, das ich selbst zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nicht stemmen konnte.

Mein innerer großer Wunsch aber wäre ein Studium der Ernährungswissenschaften gewesen, weil ich mich immer mehr für Ernährungsfragen, Human- und Sportmedizin interessierte. Allerdings war klar, dass ich trotzdem nach Hohenheim wollte, weil ich dann täglich mit dem Auto pendeln konnte und mein „sicheres“ Zuhause nicht ganz aufgeben musste. Aber schon bei der Beratung waren alle sprachlos, warum gerade ich mich mit meiner Anorexie für ein so „schädliches Terrain“ der Ernährungswissenschaften entscheiden wollte.

Und wieder war der zusätzliche Druck von außen zu groß. Also gab ich letztendlich schnell nach, ohne weiter auf meine innere Stimme zu hören. Ich war es gewohnt, meine Wünsche und Sehnsüchte nach innen zu verlagern, sie ganz tief in mir einzusperren und sie zum Schweigen zu bringen, indem ich meine Fassade noch härter gestaltete.

Mein Studium der Agrarbiologie konnte gar nicht anders verlaufen, als dass es zu einer regelrechten „wahnsinnigen“ Irrfahrt wurde. Ich studierte, um mir weiteres Wissen anzueignen, das ich dann in hervorragenden Prüfungen von mir warf, ohne genau zu wissen, für was und welche berufliche Zukunft ich studierte. Ich fühlte mich wie ein Hamster im Laufrad, der lief und lief, ohne das Ziel zu kennen, aber auch nicht einfach aussteigen konnte, weil er sonst hart auf die Nase fallen würde.

Das Studieren wurde zu einem täglichen Ritual, parallel zu meiner Sucht. Allerdings verliefen die ersten drei Jahre meines Grundstudiums bis ins Jahr 2000 noch relativ gut. Vor allem weil ich Gott sei Dank noch nicht erahnen konnte, was in späteren Jahren auf mich zukommen sollte! Die Fächer bis ins Hauptstudium entsprachen meinen Vorlieben und ähnelten denen der Ernährungswissenschaften sehr. So studierte ich relativ leicht und mit etwas mehr Freude als erwartet. Und durch diese „Sicherheit“ sorgte ich unbewusst dafür, dass ich mich trotz meines „Suchtdrucks“ in mir körperlich leistungsfähig hielt und phasenweise sogar erstaunlich stabilisierte. Vor allem nahm ich nicht weiter ab. Aber ich wollte auch kein Risiko eingehen. Die täglichen Fahrten nach Hohenheim und wieder zurück, das abendliche Laufen und Lernen forderten mich sehr. Und ich merkte, dass ich wenigstens morgens und abends etwas essen musste, um den Tag durchzuhalten. Dabei wurde mein Körper immer genügsamer, mit einem Minimum an Energie auszukommen und seine Folter anzunehmen. Und ich war zufrieden, wenn er als mein Instrument funktionierte, meine unglaubliche Stärke, Beständigkeit und Kraft meiner Umwelt zu beweisen. Ich wollte unbewusst allen zeigen, dass mein äußeres Erscheinungsbild nicht mit meinem eisernen Willen, meiner „wahren“ Identität übereinstimmte. Die wenigste Energie benötigte ich damals für mich selbst, mehr dafür, nach außen Signale zu senden, dass in meiner Hülle ein anderer starker Mensch steckte, den ich noch verleugnen musste, um ihn vor der Meinung meiner Umwelt zu schützen. Und zu zeigen, dass mich meine Umgebung weder einzuschätzen wusste noch richtig kannte.

Aber dadurch konnte ich in meiner Sucht überleben und immer größere Herausforderungen annehmen. Denn sterben wollte ich (noch) nicht!

Der beste Beweis für meinen Versuch, während meiner Anorexie immer wieder aus meinen Ritualen auszubrechen und dabei neue Grenzen zu überschreiten, waren meine geführten Wanderreisen, die ich mir ohne meine Eltern in zahlreichen Semesterferien zutraute. Sie führten immer in den Süden, hauptsächlich in die Schweiz und nach Italien, so z. B. in die Walliser Bergwelt, die Dolomiten, nach Zermatt und in die „Julier-Alpen“.

Die Bergwelt zog mich magisch an. Tiefe Täler hinter sich zu lassen, indem große Gipfel erklommen wurden, bedeutete für mich Freiheit und die Chance, wenigstens in der Ferne lähmende Rituale durchbrechen zu können. Ich wollte den Himmel sehen und dabei über alle Spitzen hinwegblicken, frei und unbefangen atmen, die Klarheit der Natur in großer Höhe auf mich wirken lassen.

Diese Erlebnisse waren die einzigen, die ich etwas bewusster aufnehmen konnte.

Ich sog aus ihnen viel Energie, hauptsächlich für meine Psyche. Mein Körper dagegen musste mit einem Minimum zurechtkommen. Und ich trieb ihn an, immer noch ein paar Kilometer mehr zu wandern als die Gruppe, indem ich vielfach den Weg vor und zurück lief. Dabei waren mir die „erstaunten“, häufig ungläubigen Blicke der Gruppenmitglieder ziemlich egal. Ich wollte und musste nach außen Stärke zeigen, damit mein zerbrechliches Erscheinungsbild in den Hintergrund trat.

Im Jahr 1999 trat auch der Sport wieder mehr in den Vordergrund. Ich suchte verzweifelt nach weiteren Möglichkeiten, um meinen Bewegungsdrang zu stillen und meinen eingefahrenen, eintönigen Studienalltag zu überwinden. An manchen Tagen wurde mir sogar meine Sucht zu viel. Ich musste dem riesigen Druck entfliehen, immer noch weniger essen zu dürfen. Deshalb war meine Strategie, länger durchzuhalten, die, mich lieber etwas intensiver mit ein paar Bissen mehr zu bewegen, als ohne Essen gar nichts mehr tun zu können.

Ich entschied mich zum Laufen, mit gezieltem Rennrad-Training zu beginnen und ins Fitnessstudio zu gehen. Alles für meinen Wunsch, irgendwann an einem Duathlon-Wettkampf teilzunehmen. Und ich hatte damit wenigstens ein sportliches Ziel vor Augen, das meine Psyche und vor allem mein Durchhaltevermögen stärkte. Dass es zu einer absoluten Flucht am Limit werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen.

Allerdings musste ich erneut gegen die weitläufige Meinung meiner Umwelt ankämpfen, dass dieser Sport mich nur noch weiter kaputt machen würde.

Ich dagegen konnte in meinen Gedanken MICH nicht weiter zerstören, lediglich meinen Körper quälen, um psychisch zu überleben!

Am meisten litten meine Eltern an meiner mittlerweile chronischen Erkrankung. Sie hatten alles versucht, um meine Anorexie zu „heilen“. Aber sie merkten auch, dass ich mich vor ihnen weitgehend verschloss, ihnen ständig auswich oder aber eine Besserung versprach. Sie konnten mir nicht weiterhelfen, weil ich es selbst verhinderte. Und letztendlich waren sie auch gegen weitere Therapieversuche, weil sie mit ansehen mussten, dass ich dadurch noch kränker wurde und noch mehr Gewicht verlor.

Aus meiner heutigen Sicht möchte ich an dieser Stelle sehr betonen, dass meine Eltern absolut keine Schuld hatten, weder am Ausbruch meiner Anorexie noch an ihrem chronischen Krankheitsverlauf. Eine Sucht ist von außen kaum zu beeinflussen, wenn der Süchtige nicht selbst den Entschluss fassen kann, aus seiner Krankheit auszusteigen, absolut alle Kräfte dafür zu mobilisieren, die Sucht zu besiegen. Und ich selbst konnte damals noch nicht ausbrechen, weil der eigentliche Grund meiner Anorexie noch ganz tief als vernichtender Stachel in mir steckte. Ich war noch längst nicht so weit und bereit, mich meinen Eltern gegenüber zu öffnen. Aus zweierlei Gründen:

Das Verhältnis zu meiner Mutter wurde schon zu Beginn meines Studiums im Jahr 1997 immer herzlicher und intensiver. Ich fühlte mich von ihr in meinem Leid verstanden, weil sie alles versuchte, hinter meine harte Hülle in mein Herz zu blicken. Obwohl sie mit dem Verstand meine Krankheit nicht nachvollziehen konnte, waren ihr Mitgefühl und ihre Fürsorge die größte Stütze für mich, immer wieder aufzustehen und einen nächsten Schritt für eine Besserung zu wagen. Denn ich spürte, ich war nicht allein, und sie glaubte an mich und eine bessere Zukunft. Sie wusste damals genauso wenig wie ich den Weg zum Ziel. Aber sie sah ein Ziel, das Ziel der Gesundheit, das für mich noch lange im Dunkel lag. Und ging es zwischendurch bergauf, dann deshalb, weil ich mich für sie und zum Dank für ihre Liebe bemühte. Auch wenn es für mich selbst nicht weit nach oben gehen durfte, war sie der Grund, warum ich nicht aufgeben konnte und weiterkämpfte. Allerdings mit meiner Sucht und noch lange nicht gegen sie!

Doch dieses herzliche, tiefe Verhältnis zu meiner Mutter war auch der Grund, warum ich ihr nicht die Wahrheit sagen und mich ihr mit meinen tiefen Identitätsproblemen nicht öffnen konnte. Ich hatte zu große Angst, sie zu verletzen und ihr wehzutun, weil sie sich so sehnlichst ein Mädchen wünschte. Doch ihre großartige Hilfe, das unbeschreibliche Leid, das sie mit mir durchgemacht hat und ertragen musste, ohne daran selbst zu zerbrechen, sollte in ferner Zukunft noch belohnt werden!

Das Verhältnis zu meinem Vater dagegen wurde mit meiner Anorexie sehr viel schwieriger. Er konnte meine Erkrankung noch viel weniger verstehen als meine Mutter. Vor allem fühlte ich mich von ihm nicht verstanden. Seine Fürsorge bestand hauptsächlich darin, mich mit materiellen Dingen überaus gut zu versorgen. Doch das war mir damals viel weniger wichtig. Was ich mir von ihm sehnlichst wünschte, konnte er mir kaum geben. Es fiel ihm sehr schwer, Gefühle zu zeigen, und er konnte sie vor allem nicht in Worte fassen! Teilweise fühlte ich mich ihm gegenüber schuldig, wenn er wieder einmal absolut nicht mit meiner Erkrankung zurechtkam und mir mein „Handeln“ vorhielt. Seine Sorge war vielfach seine Härte, die ich spürte und die mir wehtat. Zwischen uns prallten Gefühlswelten aufeinander, die zu Missverständnissen und einem sehr angespannten, schwierigen Verhältnis führten. Ging es mir allerdings an manchen Tagen sehr schlecht, dann wurde er weich, und er konnte seine Fürsorge zeigen, mit Gefühl, wie ich es mir viel öfter gewünscht hätte. Doch durch seine Art, die er genauso wenig ablegen konnte wie ich meine Magersucht, hätte ich mit ihm niemals über meine Probleme reden können.

Aber meine Eltern haben alles gegeben, was sie in ihrem großen Leid und ihrer Verzweiflung, mich vielleicht doch zu verlieren, geben konnten. Viele Tränen und Kräfte steckten in der jahrzehntelangen Begleitung ihres Kindes. Auch wenn es weiter schwieg und ein Ende seiner furchtbaren Erkrankung nicht zu erkennen war.

Aber ohne sie und ihre unbeschreibliche Unterstützung wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt sein darf.

Doch die allergrößte Herausforderung stand erst noch vor ihnen und vor mir.

Ein Kampf meiner „Extreme“, die mich in eine weitere unumgängliche Abhängigkeit von meinen Eltern führte, anstatt mich von ihnen langsam, aber sicher zu lösen.

Meine Jugend hatte ich mir selbst geraubt, und erwachsen konnte ich nicht werden …

Im Jahr 2000 folgte ein Ereignis, das mich mit einem Schlag für weitere 16 Jahre in die Finsternis katapultierte, in deren Dunkelheit sich die meisten Zeitabschnitte für immer aus meinem Gedächtnis verloren.

Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst

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