Читать книгу Martin André Steinert – der lange Weg zu mir selbst - Martin André Steinert - Страница 9
ОглавлениеMeine „ausgelöschten“ Jahre – Die Zeit zwischen 2000 und 2015
In meiner stabilsten „Phase“ wurde ich im Jahr 2000 vergewaltigt.
Nüchterne, trockene Worte für ein Ereignis, dessen Folgen ich bis heute nur schwer in Worte fassen kann. An dieser Stelle soll das Geschehen von mir auch nicht weiter beschrieben werden. Es wird im Kapitel „2016 – Das Jahr der Kontaktaufnahme“ von mir zweimal intensiv aufgegriffen, weil ich es solange tief in den Trümmern meiner Seele geheim hielt. Ich möchte daher bewusst in diesem Kapitel darüber „schweigen“ und auf meine Briefe weiter hinten verweisen.
Die Folgen für mich waren immens. Ich war zutiefst geschockt, gelähmt und körperlich sowie psychisch schwer gezeichnet. Meine Gefühle waren wie zementiert, und alles in mir schien zerstört, zerfetzt in tausend Stücke. Ich war keine Person mehr, sondern ein „Nichts“. Die letzte leise Stimme meines „gefangenen Ichs“ wurde vollends erdrückt und verhallte in mir. Meine Gedanken verliefen sich in dunklem Nebel, der mich immer weiter in die Tiefe zu drücken schien. Alles unterhalb meiner Gürtellinie war wie taub, und ich befand mich in einem gefühlten „Vakuum“, das mich immer weiter zusammenzog. Meine Umwelt verschwand hinter dem grausamen Film vor meinen Augen, der keinen realen Blick mehr erlaubte. Und ich hatte riesige Angst. Eine Panik, die mich nicht nur zu absolutem Schweigen zwang, sondern mich in die Flucht trieb. Ein Lauf von mir weg ohne Ziel, angetrieben von unbeschreiblichem Selbsthass und einer neu entfachten Selbstzerstörungswut.
Meine einzige Beruhigung fand ich in einem starken Schmerzmittel, einem Betäubungsmittel „Valoron“, das mir der Frauenarzt in der Not verschrieb, weil er mich nicht einmal richtig untersuchen konnte.
Bericht 1 – Mitteilungsblatt vom 16.11.2000
Fortan rannte ich von mir weg, und das Mittel dazu war mein Sport. Das Training wurde zu einem mörderischen Plan gegen meinen Körper. Doch nicht um mich dabei umzubringen, sondern erneut um mir von außen Anerkennung zu erkämpfen.
Aus meiner heutigen Sicht rettete mir der Ausdauersport zu diesem Zeitpunkt mein Leben. So provokativ diese Aussage auch klingen mag. Aber ohne meine sportlichen Wettkämpfe hätte ich mir wahrscheinlich sogar aus Verzweiflung das Leben genommen.
Ich lernte durch den Sport mich immer mehr auf einem Grat zu bewegen, den ich noch so breit „ausbaute“, um dabei nicht ganz abzustürzen. Vor allem wollte ich unbedingt meine letzten Kraftreserven möglichst lang für meine Leistung und den Erfolg aufrechterhalten.
Dass sich mein Körper dann zu einem viel späteren Zeitpunkt, ab dem Jahr 2005, rächen würde, konnte ich, 2001, Gott sei Dank noch nicht erahnen!
So tragisch meine sportliche Karriere begann und so sehr die Erfolge auch im Schatten meiner Flucht sowie Anorexie standen: Ich wurde immer besser und mutete mir im Jahr 2000 und 2001 einen Wettkampf nach dem anderen zu, deren Resultate für sich sprachen. Wenn auch nur auf Kreis- und Landesebene.
An dieser Stelle möchte ich einen kleinen chronologischen Abriss der Höhepunkte meiner „kurzen“ sportlichen Laufbahn einfügen, weil sie für mich unbeschreiblich wertvoll waren. Sie schenkten mir ein letztes Gefühl von „Leben“, wenigstens für einen kurzen Moment zwischen meiner „Trainingsqual“ und meiner Flucht am Limit:
Baden-Marathon Karlsruhe (Halbmarathon), 17.09.2000, Zeit: 1:23:40 Std., WHK, Rang 1
Bericht 2 – Stuttgart-Halbmarathon vom 01.06.2001
Stuttgart-Halbmarathon vom 01.06.2001
Meine ersten Wettkämpfe absolvierte ich schon im Jahr 1999. Im Juni dieses Jahres lief ich meinen ersten Halbmarathon beim „Stuttgart-Lauf“ und belegte als guten Einstieg Rang 4 in der Klasse „Frauen W20“ in einer Zeit von 1:32:20 Std. über die Distanz von 21,1 km.
Das Jahr 2000 verlief für mich dann noch weitaus erfolgreicher. Ein Bericht aus dem Wochenjournal meines Heimatortes zum Ende dieses Jahres beschreibt am besten eine kurze Zusammenfassung meiner Wettkämpfe:
Mit einem besonderen Höhepunkt in diesem Jahr:
Dann allerdings folgte das Wettkampfjahr 2001 mit einem ganz anderen Hintergrund. Mein Kalender war vollgespickt von Wettkämpfen, ich gönnte mir keine Pausen mehr und versuchte wie in „Trance“ alles Leid hinter mir zu lassen:
Baden-Württembergische Crossmeisterschaften, Bad Liebenzell, 3.02.2001, Frauen, Mannschaft, 4 km, MEISTER (Tina Walter, Susanne Niemeyer, Martina Steinert), im Trikot der DJK Schwäbisch Gmünd
Baden-Württembergische Straßenlaufmeisterschaften, St. Leon-Rot, 11.03.2001, Frauen, Mannschaft, 10 km, MEISTER (Tina Walter, Susanne Niemeyer, Martina Steinert), Gesamtzeit: 1:50:21 Std.
Bezirks-Waldlaufmeisterschaften, Heroldstatt, 07.04.2001, 4650 m, Zeit: 00:18:43, Rang 2
Göppinger Berglauf, 29.04.2001, 8 km, Zeit: 00:36:55 Std., W20, Rang 1
Oberschwaben DUATHLON (7-km-Lauf/31 km, Rad/4-km-Lauf), Blitzenreute, 05.05.2001, Gesamtzeit: 1:42:05 Std., TW21, Rang 2
BW-DUATHLON-Meisterschaft (6 km/36 km/3 km), Aidlingen, 20.05.2001, Gesamtzeit: 1:54:16 Std., AK21, Rang 8
Trossinger Summertime-DUATHLON (12 km/50 km/5,5 km), 16.06.2001, Gesamtzeit: 2:51:52 Std., Frauen, Rang 3
Adelberger Klosterlauf, 22.06.2001, Zeit: 00:41:49 Std., Frauen, Rang 1
8. Stuttgart-Lauf (Halbmarathon), 01.07.2001, Zeit: 1:23:12 Std., W20, Rang 1, Frauen Gesamt, Rang 2, mein Höhepunkt:
Dieser größte Erfolg sollte zugleich auch mein letzter sein. Denn einen weiteren durfte ich nicht mehr feiern.
Meine sportliche Karriere endete, bevor sie eigentlich richtig beginnen durfte.
Mein Lauf fing im Sturm an und endete in einem Orkan, dem ich mich nicht mehr widersetzen konnte!
Im Hochsommer 2001 brach ich nach einem Lauf eines Teamwettkampfes zusammen und musste für kurze Zeit ins Krankenhaus.
Das Ende aller Wettkämpfe und einer Zeit, in der ich mich von meinem geliebten Sport endgültig trennen musste. Ein schwerer Schritt, der zwar notwendig war, aber die Dunkelheit und meine Verzweiflung noch verstärkte. Ein Abschied, der mich auch nicht heilen konnte. Lediglich die Momente blieben …
Denn meine sportlichen Ereignisse waren auch die einzigen, an die ich mich noch richtig erinnern konnte. Wahrscheinlich weil ich für diese Augenblicke des Erfolgs noch lebte, meinen Körper, zumindest meine Beine noch spüren konnte.
Sie verhalfen mir zu einem äußeren Lächeln, obwohl meine Seele in mir ungehört weinte. Doch ich musste mich nach außen so gut wie möglich verstellen, damit man nicht hinter meine schmale Maske sehen konnte …
Der Inhalt der anderen Erlebnisse meines Lebens zwischen dem Jahr 2001 und 2015 ist in meinem Kopf ausgelöscht. Ich kann mich an sie nur erinnern, wenn ich davon Fotos sehe, Berichte lese oder mir meine Eltern erzählen, was in welchem Jahr war. Aber mein eigenes Handeln, meine Gefühle in diesen Jahren sind für immer verloren. Ich weiß heute, dass der Grund dieser für mich bis heute schlimmen Erkenntnis meine posttraumatische Belastungsstörung war. Ein typisches Symptom, das nach einem Trauma, meiner Vergewaltigung, als Folge auftreten kann und einen psychologischen Schutzmechanismus darstellt, wobei das eigentliche „Erlebnis“ häufig wie eingebrannt erhalten bleibt.
Insbesondere wenn keine spezielle Psychotherapie auf den Vorfall folgt. Weil ich über alles schwieg und niemandem davon erzählen konnte, war eine Therapie natürlich auch nicht möglich. Im Gegenteil: Das schreckliche Erlebnis wurde von mir ganz tief in einen „unzugänglichen“ Raum eingesperrt. Doch seine Gewalt war so groß, dass es auch noch meine Seele, meine wahre Identität, vollends unter sich erdrückte.
Aus diesem Grund verstärkte sich meine Anorexie stark. Ein mittlerweile doppelter Hilfeschrei meiner Seele, den ich durch den Auftrag meiner körperlichen Selbstzerstörung als einzige Lösung zum Schweigen bringen wollte.
Mein einzig verbleibendes Gefühl für mich. Die Kontrolle über meinen Körper, dessen Identität ich nicht (mehr) kannte.
Ich bewegte mich wie in „Trance“ durch diese Jahre. Aus meinem Leben wurde ein „Dasein“. Ein Versuch, mich permanent an einem Limit zu halten. Meine neue Aufgabe, eine Gratwanderung zu beginnen, weil ich doch zunehmend die Kontrolle verlor und nach neuen Wegen suchen musste. Denn ab dem Jahr 2005 war es mein Körper, der zurückschlug, der sich rächte und nun das Kommando übernahm.
Mein Studium fiel mir zu diesem Zeitpunkt immer schwerer. Denn die Fächer des Hauptstudiums entsprachen immer weniger meinen Interessen. Ich versuchte zwar nach dem Grundstudium doch noch zu den Ernährungswissenschaften überzuwechseln. Aber es war unmöglich, weil ich wegen zahlreicher fehlender Praktika ins erste Semester zurückgestuft worden wäre. Dazu hätte ich keine Nerven mehr gehabt, vor allem aber schwanden zunehmend meine körperlichen Kräfte. Denn ab dem Jahr 2005 bekam ich Schmerzen im ganzen Körper, insbesondere jedoch immer stärkere Magen- und Darmbeschwerden. Mir wurde häufig nach nur einem Bissen übel, und die Anzahl an Durchfällen stieg von Woche zu Woche an. Es waren zunächst nur schleichende Anzeichen, doch ich konnte sie immer weniger ausblenden. Das Hunger- und Durstgefühl war mir schon länger abhandengekommen, was mich nicht sonderlich störte, da ich nur dann etwas trank und aß, wenn es unbedingt notwendig war.
Aber meine zahlreichen „Schwächeattacken“ und das Gefühl, immer weniger verdauen zu können, beunruhigten mich sehr. Ich bekam eine neue Angst dazu, die ich seither noch nicht kannte, und ich spürte, dass ich von Tag zu Tag immer mehr das Regiment über meinen Körper verlor und er zurückschlug, indem er begann, jetzt mich zu quälen. Ich musste nach einer Lösung suchen, wie ich meinen verzweifeltes „Dasein“ weiter erhalten konnte, ohne aber leiden zu müssen. Meine einzige Rettung sah ich darin, zu versuchen, meine schwere Erkrankung mit ihren spürbaren Folgen selbst zu analysieren.
Wie konnte ich mir noch weiterhelfen? Ich begann mich mit Fragen der Humanmedizin, Sportmedizin, vor allem aber der Ernährungsmedizin intensiv in einer Art Eigenstudium zu befassen. Während ich immer mehr Vorlesungen meines eigenen Studiengangs ausließ, besuchte ich zahlreiche der Ernährungswissenschaften. Aus diesem Grund zog sich mein Studium der Agrarbiologie bis ins Jahr 2005, in dem ich es trotz der Qualen mit der Note 1,6 erfolgreich abschließen konnte.
Doch so sehr ich mich auch bemühte, meinen weiteren Krankheitsverlauf in den Griff zu bekommen – der weitere organische „Zerfall“ in Form einer immer geringeren Funktionsfähigkeit meiner inneren Organe war nicht mehr aufzuhalten. Volle 16 Jahre hatten sie bislang meine Anorexie schon „schweigend“ ertragen. Jetzt sollte Schluss sein.
Mein „Dasein“ wurde zu einem täglichen Kampf am Abgrund. Ein jeder Schritt musste gezielt gesetzt werden, denn mein Grat, auf dem ich mich bewegte, wurde immer schmaler. Ich stürzte aber nur deshalb nicht ganz ab, weil mir meine eigene Sucht ab dem Jahr 2010 zu viel wurde. Der Kampf mit meinem Körper kostete mich zu viel Kräfte, die ich immer weniger aufbringen konnte. Also versuchte ich verzweifelt „auszusteigen“, indem ich meine Ernährung so anpasste, dass mein Magen-Darm-Trakt das Notwendigste verdauen konnte und immer etwas Energie für mich übrigblieb. Mein „Dasein“ ähnelte zu diesem Zeitpunkt dem eines Kolibris. Nach jedem kurzen Flug musste er wieder nachtanken, um zu überleben. Hätte er nur einmal nicht genug Nahrung aufgenommen, wäre er vor dem Erreichen seiner nächsten Energiequelle unweigerlich abgestürzt.
Doch aus meiner heutigen Sicht ist mir klar, dass der Versuch, von meiner Sucht loszukommen, damals noch nicht funktionieren konnte. Denn wenn ich es tatsächlich geschafft hätte, auch nur ein paar Kilo weiter zuzunehmen, hätte ich sofort wieder selbst die Notbremse gezogen, weil ich mich unter keinen Umständen weiter zu einer Frau entwickeln konnte. Das ungelöste Grundproblem war die eingebrannte, unüberwindbare Blockade!
Ich suche bis heute verzweifelt in meiner Erinnerung nach den Bildern, wie ich meinen Leidensweg, die schlimmen chronischen Folgen meiner Anorexie jeden Tag aufs Neue durchgehalten habe. Aber ich sehe nur Dunkel. Ich muss mich wie blind, schwankend auf meinem steinernen Pfad entlangbewegt haben. Vor allem haltlos ohne Ziel und Zukunft. Jeden Tag zu überstehen war schon viel.
Denn meine Talfahrt schritt ab dem Jahr 2010 unaufhörlich voran. Selbst die Ärzte hatten mich eigentlich schon aufgegeben, ich war im Grunde genommen austherapiert. Ende 2016 wog ich gerade noch 30 kg, und mein Körper glich einem einzigen organischen „Trümmerfeld“. Meine Psyche verlor sich in einer schwersten Depression. Die Kombination meiner Anorexie und posttraumatischen Belastungsstörung stellte die Grundlage für meine weitere Folgeerkrankung dar, die in kein medizinisches Muster mehr passte.
Erst im Jahr 2016 wagte ich einen neuen Versuch, meine Erkrankung in vielen Details zu erklären. Ich möchte daher an dieser Stelle auf meine „Erfahrungsberichte“ im Kapitel „2016 – Das Jahr meiner Kontaktaufnahme“ verweisen.
Mein beruflicher Werdegang wurde infolge meiner Erkrankung zu einem beruflichen „Suchgang“. Denn alle Versuche gingen nur so lange gut, wie es mein Körper und meine Psyche zuließen und meine Kräfte durchhielten.
Meine längste berufliche Phase war dabei meine halbe Stelle als chemisch-physikalische Laborantin der Qualitätssicherung bei einer Firma für Naturfarben in der Zeit zwischen 2007 und 2010.
Ein weiterer Versuch, meinem Wunschberuf näher zu kommen, bildete mein Fernstudium zur staatlich anerkannten „Lehrerin für Fitness“ ab dem Jahr 2010, das ich Ende 2011 sehr erfolgreich abschloss.
Aber mein Wunsch, meine Ausbildung in eine berufliche Karriere als qualifizierte „Personal Trainerin“ übergehen zu lassen, blieb ein unerfüllter Traum.
Zu groß war mein eigener Identitätskampf, der zudem komplett in den sichtbaren und unsichtbaren Folgen meiner schweren Erkrankung unterging.
Mein Körper und meine Psyche waren nicht mehr bereit, den Anforderungen meiner Außenwelt zu entsprechen.
Und meine „Welt“ war mittlerweile eine ganz andere. Eine unbeschreibliche, unfassbare, die mich immer weiter zu erdrücken schien. Nicht mehr nur meine Gedanken, die im Dunkel umherirrten …
Doch in meiner qualvollen Suche nach Erinnerungen sah ich plötzlich einen hellen Schein am finsteren Horizont erstrahlen, der mich in seinen Bann zog und von dem ich mich in meinen Gedanken nicht mehr lösen konnte. Ich war überzeugt davon, dass es das Licht meiner Rettung sein würde.
Doch mit dieser nicht fassbaren Erscheinung in meinem Kopf war mein Leidensweg noch immer lange nicht zu Ende.
Mein schmaler, enger Pfad drängte mich in einen „Raum der Extreme“, indem ich noch weitere 4 Jahre ausharren musste, bis ich endlich mit meinen letzten Kräften die Tür zu neuem Leben aufstoßen durfte.
Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir einen Menschen, der mich gernhat,
der mir verzeiht und mich tröstet,
der mich versteht und zu mir hält,
der mit mir und nicht über mich spricht,
der mir zuhört und mit mir schweigt,
der mir die Wahrheit sagt,
der mich annimmt,
der mir Geborgenheit schenkt,
der Frieden stiftet.
Ich wünsche mir ein solcher Mensch zu sein.
(Quelle unbekannt)