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05

Alexander Degenhardt hatte übertrieben. Nicht sehr viel, aber dennoch übertrieben. Die Wohnung der Toten machte einen völlig verwahrlosten Eindruck am Rande des Messietums. Aber es stapelte sich kein Müll in den Räumen, durch den nur Trampelpfade hindurchführten. Keine vergammelten Essensreste, kein Ungeziefer. Pfeffer kannte echte Messiewohnungen. Diese hier war noch harmlos. Vorsichtig schritten er und seine Kollegin durch die Zimmer. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad. Im Türrahmen der Küche blieb Pfeffer stehen und holte sein Mobiltelefon hervor. »Bella«, rief er über die Schulter. »Ich denke, wir haben den Tatort gefunden.«

Die Hauptkommissarin kam hinzu und sah, was Pfeffer meinte. Unten an der altmodischen Anrichte sah man einige Blutspritzer. Der Boden davor hingegen war sauber. Zu sauber für den Rest der Küche.

»Das haben Verena Klein und ihr Freund wohl übersehen«, sagte sie.

»Und wenn sie die Täter waren und den Boden gereinigt haben?«

»Oder wenn sie sich tatsächlich in der Wohnung nur umgesehen haben, ob die Alte irgendwo liegt.«

»Ich rufe die Kollegen von der Spurensicherung.«

Anschließend ging Pfeffer zurück ins Wohnzimmer und sah sich um. Ein Schubfach der Kommode war geöffnet, eine Tür der Schrankwand stand halb geöffnet auf. Überall standen Sachen herum, Bücher, Zeitschriften, leere Bierflaschen. An den Wänden klebten vergilbte, kräftig gemusterte Tapeten. Es hingen auch ein paar Fotos herum. Pfeffer erkannte auf einigen eine noch jüngere Erna Kubelik. Ihm fiel eine uralte Fotografie in Sepiatönung auf, darauf räkelte sich eine nackte Dame neckisch auf einem Diwan. Das Foto war eindeutig zu alt, um die junge Erna Kubelik zu zeigen. Dann gab es noch das kitschige Gemälde einer Landschaft und Katzenbilder. An mehreren Stellen zeugten helle Rechtecke und leere Nägel davon, dass da einmal weitere Bilder gehangen haben müssten.

Pfeffer nahm sich ein Foto von der Wand, das eine fröhliche Erna Kubelik mit zwei lachenden Männern in einem ordentlichen aufgeräumten Wohnzimmer zeigte. Anhand der Tapete konnte Pfeffer den Raum als das Zimmer identifizieren, in dem er stand.

Annabella Scholz kam herein. »Ich kenne das Haus hier«, sagte Max Pfeffer. »Da hat der Bichler Toni gewohnt. Oben im dritten Stock.«

»Jugendfreund?«, fragte die Hauptkommissarin.

»Kann man so sagen. Kein Freund, eher ein Kumpel.« Pfeffer steckte das Foto in seine Manteltasche. »Das Himmelhaus. So haben wir es damals als Kinder genannt. Himmelhaus.«

»Warum das denn?«

»Keine Ahnung. Vermutlich, weil es damals schon so himmelblau angestrichen war. Ich glaube, es ist das einzige blaue Haus hier im Viertel gewesen.« Er ging hinaus in den Flur. »Weißt du was, Bella, der Bichler Toni war eigentlich ein Arsch. Was der wohl heute macht? Egal. Wir sind nur hergekommen, weil wir dann unten im Keller spielen konnten. Komm mal mit.«

Neben der Eingangstür befand sich ein Schlüsselbrettchen, an dem mehrere Schlüsselbunde und einzelne Schlüssel hingen. Pfeffer studierte die Schlüssel und nahm dann einen Bund mit. Die Hauptkommissarin folgte ihrem Chef zum Keller. Nach zwei Versuchen fand Pfeffer den richtigen Schlüssel zur Tür. Dann gingen sie die Stufen hinab. Es roch nach feuchtem Moder.

»Trockene Keller findest du hier nirgends«, sagte Pfeffer. »Der Bach. Wir hatten uns einmal eine Mutprobe ausgedacht. Nicht hier. Vorne an der Kapuzinerstraße, wo der Bach unter der Straße durchfließt. Da war früher ein Schrottplatz neben der Tankstelle, der hat dem Vater vom Gruber Basti gehört. Von da sind wir in den Bach gesprungen und haben uns unter der Straße hindurch auf die andere Seite treiben lassen. Es war saukalt und echt unheimlich.«

»Und saugefährlich«, ergänzte die Hauptkommissarin.

»Was ja der Sinn der Sache.«

Annabella Scholz ging hinter Pfeffer her, der zielsicher zwischen den Abteilen aus einfachen Holzlatten verschwand. In einer Ecke blieb er stehen und klopfte gegen die Metalltür vor ihm.

»Wir haben Schiffchen gebaut und hier in den Bach gelassen, wenn der Toni den Schlüssel organisieren konnte. Dann haben wir uns vorgestellt, wie sie durch den Kanal schwimmen und in die Isar und dann in die Donau und dann ins Meer.« Pfeffer lachte. »Später haben wir auch Flaschenpost losgeschickt.«

»Und?«, fragte Hauptkommissarin Scholz.

»Nie eine Antwort bekommen.« Max Pfeffer probierte die großen Schlüssel am Bund aus. Der Vierte passte. Er öffnete die schwere Metalltür und blickte in die Öffnung. In der Dunkelheit konnte man nur schemenhaft die Wand gegenüber und das Bachbett unten erkennen.

»Der Täter wird sie hier hineingeworfen haben. Das sollen sich die Kollegen dann auch mal ansehen.« Max Pfeffer betrachtete die Backsteinwand und erinnerte sich dunkel an etwas. Er bückte sich und suchte das untere Mauerstück ab. »Da.« Er deutete auf einen verblassten schwarzen Schriftzug. »Himel«, hatte da jemand hingekritzelt. »Jetzt weiß ichs wieder. Darum haben wir es das Himmelhaus genannt.«

»Himmel mit einem M? Legastheniker«, sagte Annabella Scholz trocken.

Pfeffer merkte, wie er melancholisch wurde. Sie hatten sich damals auch darüber amüsiert und immer wieder versucht, den Schriftzug wegzuwischen, was ihnen nie gelungen war. Sie hatten auf einen Edding getippt. Edding gewinnt immer. Alter Graffiti-Spruch. Er musste raus aus dem Keller.

»Wartest du auf die Kollegen?« Es war weniger eine Frage als eine Anweisung, die Max Pfeffer Annabella Scholz gab, als sie wieder oben in der Wohnung waren.

»Mach ich, Chef. Und du?«

»Ich widme mich den Pennern draußen.« Er deutete aus dem Fenster auf die andere Straßenseite.

Das achteckige, gusseiserne Pissoir aus der Jahrhundertwende am Holzplatz war außen mit Graffiti beschmiert. Seit Jahren verschlossen und außer Betrieb, stand es nur noch als stummer Zeuge vergangener Jahrzehnte denkmalgeschützt ohne Funktion da. Pfeffer kannte es noch in Betrieb. Davor hatten sich auf den beiden Parkbänken vier Männer versammelt. Drei ältere und ein junger. Sie tranken Bier aus Flaschen und rauchten Selbstgedrehte.

»Servus, die Herren«, sagte Max Pfeffer, als er zu den Männern trat. Misstrauische Blicke musterten ihn.

»Wir dürfen hier sitzen«, sagte einer trotzig. Ihm fehlten oben die Schneidezähne. »Wir tun niemandem was, und hier ist kein Anwohner gestört.«

»Darum geht es nicht.« Pfeffer stellte sich vor den Mann, der geredet hatte. Der Gestank von lange ungewaschenen Körpern, Alkohol und Zigaretten drang in seine Nase. Er machte einen kleinen Schritt zurück. »Sind Sie öfter hier?« Schweigen, dann leichtes Nicken.

»Sie wohnen drüben bei der Heilsarmee?« Er deutete mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich in einem gelb gestrichenen Altbau das Männerwohnheim der Heilsarmee befand. Der ohne Schneidezähne nickte.

»Adolf-Mathes-Haus«, murmelte einer, dessen Stirn tief eingedellt war. Das linke Auge blickte starr. Ein Glasauge. Max Pfeffer nickte. Er kannte die Adresse. Ein Männerwohnheim gleich um die Ecke neben dem Alten-Service-Center der Caritas in der Hans-Sachs-Straße.

Der Dritte, ein Blondschopf mit faltigem Gesicht, lächelte freundlich und nickte. Der Vierte und Jüngste in der Gruppe verzog keine Miene und starrte Pfeffer abschätzig an. Dem Kriminalrat fiel auf, dass der höchstens Mitte zwanzig sein konnte und im Vergleich zu den anderen glatt rasiert und sehr gepflegt gekleidet war. »Und Sie?«, sprach er den Jungen an.

»Warum wollen Sie das wissen?«, kam es aggressiv zurück.

»Interesse.«

Der junge Mann lachte. »Als ob sich irgendjemand für mich interessieren würde.«

»Ja, ich. Also?«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern und wandte den Blick von Pfeffer. »Ich habe ein Dach überm Kopf. Ich lebe nicht auf der Straße, falls Sie das wissen wollten.«

»Schön für Sie. Sehen Sie, war doch gar nicht so schwer. Und warum sind Sie dann hier?«

»Kumpels besuchen auf ein Bierchen.« Der junge Kerl zuckte mit den Schultern und pulte am Etikett seiner Bierflasche herum.

»Was willst du, Meister?«, fragte der Zahnlose.

Max Pfeffer holte das Foto der toten Erna Kubelik hervor. »Kennt jemand von Ihnen die Frau?« Er zeigte es im Kreis herum. Alle nickten.

»Die Paloma«, sagte der Zahnlose.

»Paloma«, echoten die anderen.

»Lange nimmer gesehen, die Paloma«, sagte der Mann mit dem Glasauge.

»Stimmt«, bestätigte der Zahnlose. »Was ist mit ihr?«

»Paloma?«, fragte Pfeffer. »Das ist Erna Kubelik …«

»Weiß schon«, unterbrach der mit der Stirndelle und dem kaputten Auge. »Die Erna. Für uns ist sie die Paloma. Gell?« Er rempelte seinen Nebenmann an, der faltige Blondschopf mit dichtem struppigem Haar begann zu grinsen. Pfeffer hatte den Eindruck, dass der Mann ein wenig zurückgeblieben war. »Die war eine Nette.« Alle nickten. »Eine ganz feine Person. Was zu Essen gabs bei ihr manchmal. Die konnte kochen! Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat …« Zustimmendes Brummen.

»War?«, fragte Pfeffer.

»Hör mal, Meister«, sagte der Zahnlose und sein Blick wurde finster. »Veräppeln können wir uns selber. Jeder, der zwei Augen im Kopf hat, oder selbst unser einäugiger Zyklop hier, sieht auf dem Foto, dass die Frau tot ist. Ich vermute mal, dass es die Leiche war, die man gestern im Bach unter uns gefunden hat.« Er deutete auf die Erde. Die anderen sahen ihn überrascht an. »Stand doch heute in der Zeitung. Lest ihr keine Zeitung?«

»Richtig. Aber es scheint keinen von Ihnen wirklich betroffen zu machen.«

»Wieso auch«, sagte der Zahnlose. »Wenn sie tot ist, hat sies jetzt besser. Wir kannten sie halt. Mehr auch nicht. Sie war eine Nette, hat da drüben gewohnt.« Er deutete hinter sich auf das Haus am Eck. Pfeffer folgte der Handbewegung und sah Annabella Scholz am Fenster von Erna Kubeliks Wohnung stehen, die Arme verschränkt und grinsend. Er zwinkerte ihr zu. »Sie hat sich manchmal um uns gekümmert. Nicht immer. Sie konnte verdammt launisch sein. Dann hat man sie tagelang nicht gesehen. Wochenlang. Manchmal hat sie aber was zu trinken gebracht, manchmal was zu essen …«

»Und manchmal durfte man mit zu ihr«, ergänzte der Einäugige mit der Stirndelle und rempelte prustend seinen Nebenmann an.

»Halt doch deine Klappe, Idiot«, sagte der Zahnlose.

»Mit zu ihr?«, fragte Pfeffer. »Durften Sie bei ihr übernachten, oder wie?«

»Na ja, baden durfte man bei ihr, wenn sie in der Laune war «, sagte der Einäugige. »Ich durfte das. Und unser Jerzy hier auch.« Er rempelte wieder seinen Nebenmann an, der verschämt grinste und Rotz die Nase hochzog. »Der Sepp ist nur neidisch, weil sie ihn nicht mitgenommen hat, weil er ihr zu hässlich war. So ohne Zähne.«

»Ihr habt doch keine Ahnung, ihr asoziales Pack«, rief der zahnlose Sepp. »Und ob ich bei ihr baden durfte!«

»Habe ich das eben richtig verstanden«, sagte Max Pfeffer. »Sie alle waren also schon mindestens ein Mal bei Erna Kubelik in der Wohnung …« Er machte eine Kunstpause.

»Ich nicht«, sagte der junge Mann. »Ich kann mich beherrschen, bei einer alten Assel zu baden.«

»Klar, unser Mirko, der lässt sich ja beim Duschen zuschauen, wenn …«, sagte der zahnlose Sepp und Blondschopf Jerzy grinste.

»Halts Maul, Sepp«, antwortete der junge Mann, der Mirko hieß, und trank einen Schluck aus seiner Augustiner-Flasche.

»Frage an Sie alle, außer natürlich an Sie, junger Mann«, sagte Max Pfeffer. »Ist Ihnen in der Wohnung von Frau Kubelik irgendetwas aufgefallen? Hatte sie Wertgegenstände? Schmuck? Irgendetwas Wertvolles?«

Alle lachten. Pfeffer fiel auf, dass der blonde Jerzy immer erst dann lachte oder grinste, wenn die anderen es taten. Der Einäugige wurde zuerst wieder ernst. »Was denken Sie, Herr Kriminalmeister. Sie hatte ihre Rente und ein Dach über dem Kopf. Das ist schon verdammt wertvoll.«

»Und wie oft waren Sie bei ihr?«

»Selten, viel zu selten.«

»Wann zuletzt?«

»Keine Ahnung. Im Oktober oder so. Du, Jerzy?« Er rempelte seinen Nebenmann erneut an. Der Blondschopf zuckte mit den Schultern und lachte.

»Sie verstehen gar nicht, was ich sage, oder?«, fragte Pfeffer den Blondschopf direkt.

Der sah ihn erschrocken an. »Nix deutsch«, sagte er dann.

»Dachte ich mir schon«, murmelte Pfeffer. Jerzy setzte wieder ein breites Grinsen auf.

Der zahnlose Sepp lachte. »Schlau kombiniert, Meister. Na, dann hatte ich ja wohl als Letzter das Vergnügen. Ich war Anfang Dezember bei ihr. Fichtenschaumbad. Herrlich. Und sie hatte eine Flasche echten Glühwein vom Nürnberger Christkindlmarkt.« Er sah versonnen in die Ferne.

»Eine Frage noch, meine Herren«, sagte Max Pfeffer. »Warum nennen Sie sie denn Paloma?«

»Na, wegen dem Auto«, sagte der Einäugige.

»Blödsinn! Ihr Lieblingslied. La Paloma, ade, auf, Matrosen, ohé!«, fing der Zahnlose an zu singen und der Einäugige stimmte sofort erstaunlich textsicher in den Hans-Albers-Klassiker mit ein. »Ein Wind weht von Süd und zieht mich hinaus auf See, mein Kind, sei nicht traurig, tut auch der Abschied weh. Mein Herz geht an Bord und fort muss die Reise gehn, dein Schmerz wird vergehn und schön wird das Wiedersehn …«

Jerzy sang »la la la« mit. Mirko schüttelte amüsiert den Kopf und tippte sich an die Stirn.

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