Читать книгу Pechwinkel - Martin Arz - Страница 11
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»Ich weiß nix«, sagte der alte Mann und schüttelte energisch den Kopf. Er nippte an seinem Bier und sah Max Pfeffer mit wässrig blauen Augen misstrauisch an. Ein Mix aus lange abgestandenem Zigarettenqualm und altem Bratfett machte die Räume stickig. Bei dem mit einer grauen Plane eingerüsteten Haus in der Pestalozzistraße hatte Max Pfeffer vorhin bei Xylander lange Sturm geklingelt und hatte schon gehen wollen, weil niemand öffnete. Da war eine Frau aus dem Haus gekommen und hatte auf Pfeffers Frage nach Bertram Xylander gesagt: »Den finden Sie vorne in der Stehkneipe in der Westermühlstraße, wenn er nicht da ist.«
Die Stehkneipe hatte Pfeffer schnell gefunden. Countrymusik dudelte aus den Lautsprechern. Pfeffer stellten sich die Nackenhaare auf. Die dicke Wirtin hatte wortlos mit einer Kopfbewegung auf den alten Mann gewiesen, der alleine auf einem Barhocker an einem der Stehtische saß. Neben ihm stand eine große Plastiktüte eines Elektromarkts. Außer ihm befand sich noch ein weiterer alter Mann im Raum, der aus dem Fenster starrte und dabei unablässig mit dem Unterkiefer mahlte.
»Wollen Sie sich setzen?« Xylander deutete auf einen abgewetzten Barhocker.
Pfeffer setzte sich. »Herr Xylander, Sie haben Frau Kubelik als vermisst gemeldet.«
»Na ja, ich hab sie halt gekannt, die Erna.« Er zuckte mit seinen gebeugten Schultern. Bertram Xylander rieb sich mit schwieligen Händen über das faltige Gesicht. Seine Haltung und seine Hände verrieten, dass er sein Leben lang körperlich schwer gearbeitet haben musste. »Sie war früher ein lebenslustiger Mensch. Wir haben oft mal was unternommen. Der Alkohol. Ja, dann kam der Alkohol, und sie wurde immer launischer in all den Jahren.« Er warf die Hände in die Luft.
»Wie lange kannten Sie sich denn?«
»Ewig. Ewig und drei Tage. Schon als Kinder kannten wir uns. Wir sind im selben Haus aufgewachsen. Vorne in dem Haus, in dem sie immer noch gewohnt hat. Sie ist dort aufgewachsen und gestorben. Ich bin als junger Mann ausgezogen. In meine Wohnung. Gleich ums Eck. Und jetzt soll ich raus. Wird luxussaniert. Wie alles hier.« Er deutete zu den Fenstern. »Presslufthammer und so Zeugs. Bumm, bumm, bumm. Seit letztem Oktober geht das schon so. Fast alle Wohnungen sind mittlerweile fertig. Sie haben mir eine Wohnung im Hasenbergl angeboten! Im Hasenbergl! Was soll ich da? Dann noch eine in Laim. Da will ich auch nicht hin. Ich bleibe hier. Ich wohne hier seit fünfzig Jahren. Ich habe vorne bei Hurth gearbeitet, Sie wissen schon, und als die dichtgemacht haben, dann bei Zettler.«
Pfeffer nickte. Er kannte die alten Firmen, die hier im Viertel einst große Produktionsstätten unterhalten hatten. Hurth stellte bis in die 1980er-Jahre an der Holzstraße Zahnräder und Getriebe her, seitdem stand hier eine riesige Wohnanlage. Zettler produzierte bis 1999 elektrische Anlagen aller Art auf einem großen Areal zwischen Jahn- und Klenzestraße, wo sich nun eine Seniorenluxusresidenz befand. Bald würde auch der Brillenfabrikant Rodenstock, der letzte große Betrieb in der Isarvorstadt, seine Produktion in die Peripherie verlagern, dann wäre es endgültig vorbei mit dem alten Industrieviertel.
»Die müssen mich schon mit den Füßen voran hier raustragen«, fuhr Xylander fort. »Ich bleibe, bis es gar nicht mehr geht. Und vor den Scheißpolacken hab ich schon gleich gar keine Angst!«
»Polen?«
»Na, die Schwarzamseln, die sie eingemietet haben.« Er deutete nach oben, als sei die Bar seine Wohnung, und die Bauarbeiter direkt über ihnen. »Die den Innenausbau machen. Lauter Verbrecher. Allen voran der Gorilla mit seinem debilen Bruder. Hausen da oben in einer Wohnung und machen nur Lärm und Dreck, statt zu arbeiten.« Er machte verächtlich »Pfffhhh« und winkte mit beiden Händen ab.
»Sie sagten, Sie kennen Erna Kubelik schon seit Kindesbeinen«, sagte Pfeffer, um wieder aufs Thema zurückzukommen.
Bertram Xylander sah ihn müde an. »Jetzt ist sie tot.«
»Sie haben sie offensichtlich vermisst und sind dann zur Polizei gegangen.«
»Wir hatten losen Kontakt. Man traf sich oft beim Einkaufen, vorne im Tengelmann. Dann haben wir über alte Zeiten geratscht. Nix Besonderes. Wie man es halt so macht. Im Sommer hab ich sie oft vorne am Pissoir bei den Grattlern sitzen sehen. Sie ist in schlechte Gesellschaft gekommen, die Erna.«
»Nur weil sie bei den Obdachlosen saß?«
»Ist das eine gute Gesellschaft? Ich denke nicht.« Zum ersten Mal lachte er ein wenig. »Sie hatte ihre Rente, und diese asozialen Schmarotzer haben sich bei ihr durchgefuttert. Na, was soll ich sagen … Ich habe sie mein Lebtag ein bis zwei Mal die Woche gesehen und dann plötzlich eben nicht mehr. Da bin ich dann zu ihr, habe geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Drei Tage lang. Dann bin ich kurz vor Silvester zur Polizei. Sie hat ja sonst niemand.«
»Waren Sie jemals bei ihr in der Wohnung?«
»Gelegentlich. Früher öfter. Warum?«
»Würden Sie in der Wohnung feststellen können, ob etwas fehlt, und wenn ja, was?«
Bertram Xylander starrte den Kriminaler an, dann lachte er lauthals los. »In der Bruchbude? Von Ordnung hat die Erna noch nie viel gehalten. Aber das ist in den letzten Jahren immer schlimmer geworden. Ich kanns ja mal probieren. Aber versprechen Sie sich nicht allzu viel davon, Herr Rat.«
Max Pfeffer ließ seinen Blick durch den Raum wandern, auch auf die Tüte neben Xylander. Die Tüte stand offen. Pfeffer entdeckte darin eine moderne Spielkonsole.
Bertram Xylander war Pfeffers Blick gefolgt und beeilte sich zu sagen: »Das Zeug da ist für meinen Neffen. Er besucht mich öfter, und dann langweilt er sich schnell. Er hat sich das Ding gewünscht. Ich bin zu blöd für diese modernen Sachen. Das geht alles so schnell und bumm, bumm, zack, zack … Aber mein Neffe kann den ganzen Tag davor verbringen. Die Jugend halt.«
Max Pfeffer lächelte verbindlich. »Kenn ich von meinen Jungs.«
»Sie haben Söhne?«
»Zwei.«
»Wie schön. Dann haben Sie viel Remmidemmi im Haus.«
»Es geht.« Pfeffer lächelte. »Der Ältere macht dieses Jahr Abitur und der Jüngere geht auf ein Internat in England.«
»Wie schön.« Bertram Xylander bekam glänzende Augen. »Kinder. Das blieb mir leider versagt. Wir waren fünf Kinder zu Hause. Erst zwei. Mein Vater ist im Krieg geblieben. Meine Mutter hat später neu geheiratet. Dann waren wir fünf Kinder. Alle tot, bis auf mich. Vier blieben unverheiratet. Nur eine Halbschwester, Gott hab sie selig, hatte Nachwuchs. Ich bin nur ein alter Mann. Ich werde bestimmt so einsam sterben wie Erna.«
»Was ist mit Ihrem Neffen?«
»Ach der!« Xylander winkte ab. Er schwieg.
Pfeffer fragte nach einer Weile: »Sagt Ihnen der Name Verena Klein etwas?«
»Verena? Klar. Die besucht mich ab und zu. Sie hat mich zumindest früher oft besucht. Jetzt hat sie keine Zeit mehr, sie macht ihren Doktor. Ein liebes Kind. Oh, jetzt versteh ich.« Er lächelte verschmitzt. »Nein, Herr Rat. Die Verena hat sicher nichts mit dem Tod von Erna zu tun. Die hat sich rührend um die Erna gekümmert. Hat zwei Mal die Woche versucht, diese Müllhalde, die Erna eine Wohnung nannte, wenigstens ein bisschen in Ordnung zu bringen. Vergebene Liebesmüh.«
»Und Sie, Herr Xylander, hätten Sie einen Grund gehabt, Erna Kubelik zu ermorden?« Zwei neue Gäste, wohlbeleibte Männer, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatten, betraten den Raum und orderten lautstark Fleischpflanzerl und zwei Halbe.
»Ich, Herr Rat?« Xylander keuchte ungläubig und schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«
»Könnte ja sein. Vielleicht waren Sie früher mal ein Liebespaar und …«
Der alte Mann lachte dröhnend. »Bestimmt nicht.«
»Eine Frage noch, Herr Xylander, dann sind Sie mich los: Fällt Ihnen ein Grund ein, warum man Erna Kubelik hätte ermorden wollen? Oder fällt ihnen jemand ein, der einen Grund gehabt hätte?«
»Nein.« Der Alte schüttelte den Kopf.