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08

Therese Obermeier stützte sich schwer auf ihren Gehstock, den sie in der gichtigen Linken hielt. Das Gehen fiel ihr jeden Tag noch ein bisschen schwerer. Trotzdem machte sie sich täglich auf, die vier Stockwerke hinunterzusteigen und ihre kleinen Einkäufe zu erledigen. Am Sonntag ging sie einfach nur die Treppen hinunter und dann wieder hinauf. In Bewegung bleiben. Wer rastet, rostet – und landet schließlich im Pflegeheim. Davor hatte sie am meisten Angst. So lange sie es noch konnte, würde sie die vier Stockwerke packen. Therese Obermeier machte eine kleine Verschnaufpause und stellte ihr Einkaufsnetz mit dem Liter Milch, dem halben Brot, den drei Tomaten und der Cervelatwurst ab. Ein Rollator, nein, den würde sie auch weiterhin ablehnen. Selbst wenn ihr den ihr Sohn bei jedem Telefonat aufs Neue ans Herz legte. Was wusste schon ihr Sohn … Der lebte fern in Berlin und besuchte sie sowieso nur ein bis zwei Mal im Jahr. Öfter konnte er es sich nicht leisten, seit er seinen Job verloren hatte und nun auf die Verrentung wartete, weil niemand einem Neunundfünzigjährigen eine neue Stelle anbot. Noch dazu in Berlin, wo es sowieso keine Arbeit gab. Und die Enkel hatte sie das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen. Therese Obermeier seufzte und zupfte ihren Wintermantel aus dunkelblauem Plüsch, der an manchen Stellen zu abgewetzt war, um noch kuschelig zu sein, zurecht. Ihre Perücke juckte. Sie nahm ihr Einkaufsnetz hoch. Noch um die Ecke von der Augusten- in die Rottmannstraße, dann war sie da.

Die alte Frau stieg bedächtig die knarzenden Stiegen hinauf. Einen Fuß auf die nächsthöhere Stufe, dann den anderen daneben. Mit der rechten Hand zog sie sich am Treppengeländer hoch. Ihr begegnete niemand. Wie auch. Sie war die letzte alte Mieterin im Haus. Außer ihr wohnten nur noch junge Leute hier, die gute Jobs hatten, weshalb sie von denen praktisch nie jemand tagsüber zu Gesicht bekam. Eigentlich schade, denn sie ratschte gerne ein bisschen, vor allem mit den beiden netten jungen Frauen, die sich die Wohnung im zweiten Stock teilten. Eine von denen kam ab und an abends bei ihr vorbei auf einen Plausch und um nach dem Rechten zu sehen. Und die Frau vom ambulanten Pflegedienst, die jeden Abend ihr offenes Bein versorgte, war immer zu sehr in Eile für einen Schwatz. Schwer atmend erreichte Therese Obermeier den vierten Stock und wühlte in der Manteltasche nach dem Schlüssel. Sie öffnete das Türschloss und das Sicherheitsschloss, nahm ihre Einkäufe hoch und wollte eben den ersten Fuß in die Wohnung setzen, als sie von hinten ein Stoß traf. Therese Obermeier taumelte vorwärts, ließ das Netz fallen und versuchte, sich irgendwie abzufangen. Noch bevor sie auf dem Boden aufschlug, fingen kräftige Hände sie auf. Es war das Letzte, was Therese Obermeier spürte.

Max Pfeffer schlenderte die Backsteinmauer entlang durch den Schlachthof. Kindheitserinnerungen wurden wach. Er schob sie beiseite. Weiter vorne in der Zenettistraße hatten seine Eltern ihre Reinigung betrieben. Das Letzte, an das er denken wollte, waren seine Eltern. Er bog beim Wirtshaus links in den Teil, der längst nicht mehr als Schlachthof genutzt wurde, sondern an verschiedene Gewerbe vermietet war, meist an Lebensmittelgroßhändler. Aber auch die Kunstgroßhandlung Menzl. Verena Klein hatte ihm vorhin am Telefon den Weg beschrieben. Pfeffer fand das Gebäude sofort. Verena Klein erwartete ihn vor dem Eingang.

»Tut mir leid, dass ich Sie hierher bemühen musste«, sagte sie zur Begrüßung.

»Kein Problem«, antwortete Pfeffer. Die junge Frau fror augenscheinlich. Sie verschränkte sofort nach dem Händeschütteln die Arme und begrub die Hände unter den Achseln. Sie war Ende zwanzig, hübsch und zierlich, aber sie strahlte Durchsetzungskraft aus. Sie sah tief in Pfeffers kuschelbraune Augen und ein feines Lächeln umspielte ihren Mund. Sie versuchte, ein wenig zu flirten. Pfeffer ging darauf ein, ließ sie augenkuscheln und lächelte. Aber er ließ sich nicht täuschen. In ihren Augen lag etwas Hartes, Berechnendes. Die beiden betraten die Kunsthandlung, die Tür führte direkt ins elegant und sehr reduziert gestaltete Büro. Verena Klein begleitete den Kriminalrat zu einem Schreibtisch.

»Kaffee?«, fragte sie.

»Nein danke.« Pfeffer ließ den Blick schweifen. »Einen Kunstgroßhandel habe ich mir etwas anders vorgestellt.«

Die Studentin lachte. »Die Kunst ist hinten im Lager.« Sie deutete auf eine schwere Metalltür, die mit einem Zahlencodeschloss gesichert war. »Hier ist nur Büro. Glauben Sie mir, wir haben eine Menge, eine wirkliche Menge Kunst.« Ein Telefon klingelte. »Entschuldigung, da muss ich kurz rangehen.« Sie hob ab und drehte beim Telefonat dem Kriminaler den Rücken zu. Pfeffer ließ unterdessen seinen Blick über die Titel der Auktionskataloge schweifen, die auf dem Schreibtisch lagen. ›Münchner Malerei des späten 19. Jh.‹ und ›Meisterwerke des Blauen Reiters‹ und ›Meister der Moderne‹ und Ähnliches. Offenbar wollte jemand den Chef sprechen und Verena Klein beendete das Gespräch schnell.

»Stress, hmm?«, fragte Pfeffer.

Die Studentin seufzte. »Das können Sie laut sagen. Heute hat die Sekretärin einen freien Tag. Vormittags Uni, dann zwei Tage die Woche der Job hier … Ich brauche das Geld. Und natürlich meine Dissertation.«

»Ihr Lebensgefährte hat uns erzählt, dass Sie promovieren.«

»Alex«, sagte sie nüchtern. »Der kommt auch zu kurz.« Es klang wie eine einstudierte Antwort, nicht wie der bedauernde Satz einer Liebenden. Sie fuhr sich durch die kastanienbraunen Haare und lächelte Pfeffer gewinnend an. »Sie wollten mich sicher wegen Erna Kubelik sprechen. Ich kann Ihnen nicht viel zu ihr sagen. Sie haben ihre Wohnung gesehen. Sie verwahrloste zunehmend. Sie hatte keinen Antrieb mehr. Wenn das so weiter gegangen wäre, wäre sie noch in ihrem Dreck erstickt. Schlimm.« Verena Klein schüttelte den Kopf. »Und diese seltsamen Freunde, die sie hatte.« Bei Freunde machte sie mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Diese Penner, mit denen sie sich eingelassen hat. Nun ja, immerhin Gesellschaft, nicht wahr?«

»Sie sind sehr direkt, Frau Klein.«

»Ich weiß. Aber ich verurteile niemanden. Die armen Kerle haben es schwer genug. Die soziale Organisation, für die ich mich engagiere beziehungsweise engagiert habe, als ich noch etwas mehr Zeit hatte, macht auch Obdachlosenarbeit.« Sie kniff die Augen zusammen und rieb mit der linken Hand darüber. »Ich rede zu viel. In meinem Kopf fährt gerade alles Karussell.«

»Ich möchte nur ein paar Sachen zu Erna Kubelik wissen.«

»Ich war Mittwoch vor Weihnachten, also ein paar Tage vor Weihnachten, das letzte Mal bei ihr. Da war sie noch quicklebendig. Als ich dann zum nächsten vereinbarten Termin erschienen bin, hat niemand aufgemacht. Ich habe mir zunächst nichts gedacht und bin immer wieder mal bei ihr vorbeigegangen. Nach zwei Tagen, an denen ich zu allen möglichen Uhrzeiten bei ihr geklingelt habe, habe ich dann den Schlüssel genommen und bin mit Alex in die Wohnung. Aber da war niemand.«

»Waren Sie in allen Räumen?«

»Ja.«

»Küche? Bad? Schlafzimmer?«

»Ja, sicher doch. Alex hat sogar unter dem Bett nachgesehen.«

»Und es ist Ihnen nichts aufgefallen?«

»Nein. Hätte uns etwas auffallen sollen?«

»Zum Beispiel Blut.«

»Wo?«

»Das würde ich gerne von Ihnen wissen.«

»Nein. Nichts. Wir haben allerdings auch nicht gezielt nach Blut oder so gesucht.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass etwas aus der Wohnung fehlt?«

Verena Klein zuckte mit den Achseln. »Wie sollte man bei der Wohnung einen Überblick haben, was fehlen könnte?«

»Hatte sie irgendwelche Wertgegenstände? Etwas, von dem sie vielleicht dachte, es sei wertvoll?«

»Keine Ahnung.«

Ein Bulle von einem Mann mit teurem italienischen, aber schlecht sitzenden Anzug stürmte durch die Eingangstür und rief noch im Gehen: »Klein, was macht die Sache mit …« Er stockte, denn er hatte Pfeffer gesehen. Sein Ton wurde umgehend geschäftsmäßig freundlich. »Oh, entschuldigen Sie. Menzl.« Er schüttelte Pfeffer die Hand. »Hat Ihnen Frau Klein nichts zu trinken angeboten? Was kann ich für Sie tun? Sind Sie an etwas Bestimmtem interessiert?« Er lächelte verbindlich. Seine Haare waren für sein Alter viel zu dunkel gefärbt und schimmerten rötlich.

»Das ist kein Kunde«, sagte Verena Klein. »Kriminalrat Max Pfeffer von der Kriminalpolizei.«

»Haben Sie etwas verbrochen, Frau Klein?« Der Kunsthändler zog die Stirn kraus.

»Ich hatte nur ein paar Fragen an Ihre Mitarbeiterin«, sagte Pfeffer. »Bin auch schon fertig. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« Der Kriminalrat verabschiedete sich.

»Was wollte er?«, fragte Hans-Albert Menzl, nachdem Pfeffer das Büro verlassen hatte. Sein Anzug spannte, als er sich mit beiden Fäusten und durchgestreckten Armen auf dem Schreibtisch aufstützte.

»Er kam wegen der Kubelik.« Verena Klein sah nicht zu ihm auf, sondern schaltete den Computer an.

Menzl atmete scharf ein. Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Und?«, fragte er scharf.

»Nichts. Ich habe sie betreut, und dazu hat er mich befragt. Das war alles.«

»Sicher?« Er beugte sich drohend vor. Verena Klein sah zu ihm auf und wich nur ein wenig zurück.

»Ich lüge nicht«, sagte sie bestimmt.

»Gut, das will ich dir auch nicht geraten haben. Wir haben eine Vereinbarung.« Er tippte den Code in die Tastatur und öffnete die Tür zum Kunstlager.

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