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Kapitel 1
ОглавлениеKnisternd sackte das Holz im Kamin in sich zusammen. In seinem Schaukelstuhl saß der alte Graf Benedict, eine Pfeife im Mundwinkel und leise vor sich hinrauchend. Er schüttelte den Kopf und musste lächeln. Die Geschichte, die ihm sein Enkel gerade erzählt hatte, übertraf wirklich bei weitem die Erzählungen, die er in den letzten Jahren zu hören bekommen hatte. Nicht, dass die Geschichte unglaubwürdig klang, sie war vielmehr zu verrückt, um widerspruchslos akzeptiert zu werden. Selbst in seiner Jugend hatte er nichts Derartiges ausgefressen, aber wahrscheinlich lag es daran, dass sich die Zeiten tatsächlich änderten. Jedenfalls gab es keinen Zweifel, dass der junge Teddy zu seinen Nachkommen zählte, wenn er auch gewisse Apathien gegen den Namen hegte. "Teddy" war in seinen Augen ein Stofftier, kein halbwegs erwachsener Jugendlicher. Aber wie gesagt, die Zeiten änderten sich.
"Wie bist du denn auf die Idee gekommen?" hakte Benedict noch einmal nach.
"Pffff", Teddy machte eine unbestimmte Handbewegung und grinste.
Es war an einem Samstag, die Läden schlossen gerade und Teddy befand sich auf dem Weg nach Hause. Er wohnte schon lange nicht mehr im Hause seiner Ahnen; schon sein Vater hatte das ländliche Anwesen verlassen und war in die Stadt gezogen, um seinen Kindern, Teddys Bruder Rodney war im Alter von zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, eine ausreichende Ausbildung zukommen lassen zu können. Eine unbestimmte Melodie vor sich hin pfeifend schlenderte er durch die Straßen und dachte an nichts Bestimmtes. Auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums fiel ihm ein verlassener Polizeiwagen auf, die beiden Polizisten betraten gerade das Einkaufszentrum. Als er fast an dem Wagen vorbei war, kam ihm plötzlich eine, wie sein Großvater später sagen sollte, immens dumme Idee. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen, er sah sich um, bückte sich und schraubte das vordere Nummernschild des Polizeiwagens ab, dann das hintere. Schnell lief er vier Wagen weiter, entfernte die Nummernschilder, lief zurück, brachte sie am Polizeiwagen an und umgekehrt. Dann, um dem Spiel die Krone aufzusetzen, knackte er den Privatwagen mit den fremden Nummernschildern und parkte ihn, weitgehend unbeschädigt, drei Querstraßen entfernt. Grinsend setzte er seinen Weg fort.
"Ich fürchte, an sowas musst du dich gewöhnen", meinte Graf Benedict zu seinem Sohn, als er wegen der Geschichte mit den Nummernschildern in das ländliche Anwesen kam, um mit seinem Vater die Angelegenheit zu besprechen.
"Es ist doch nicht normal." Benedicts Sohn, Teddys Vater und Veronikas Mann, Frederico, lief nervös auf und ab, wobei er hin und wieder einen Blick durch eines der Fenster hinab in den Garten warf. Rot leuchteten ihm die Rosen entgegen, Benedict liebte diese Farbe. Sie erinnerte ihn an seine Jugend. Früher hatte er oft im Garten gespielt, oder er hatte Rosen für seine Freundinnen gepflückt. Einmal hatte er sich auch hinter das Rosenbeet flüchten müssen, um nicht erschossen zu werden. Der Anblick des Gartens barg viele Erinnerungen für ihn, gute wie schlechte. Für Frederico, der hin und wieder nervös hinuntersah, bedeuteten die Rosen nichts. Er nahm sie kaum wahr, lediglich der helle rote Schein war ihm bewusst. "Wie kann ein Junge auf so eine Idee kommen?"
Benedict hob die Schultern. Es war auch ihm ein Rätsel. Er hatte so etwas nie gemacht. Allerdings gab es zu seiner Zeit weder Polizeiwagen noch Nummernschilder. Aber im Prinzip fand er die Idee auch nicht besonders gut, vielleicht ganz reizvoll, aber nicht gut. "Das Schlimme ist, es gibt nur einen, der für so einen Unsinn in Frage kommt, die Stadt ist eben auch nur ein Dorf."
"Ja, mein Junge, du musstest ja unbedingt wegziehen von Haus Senkmoor."
"Fang nicht wieder mit dieser alten Geschichte an." Frederico starrte auf das Rosenbeet, so dass sich Benedict zu fragen begann, ob er dort vielleicht etwas Entscheidendes übersehen hatte, als er das letzte Mal einen Blick darauf geworfen hatte. Vielleicht verbuddelte gerade ein Hund einen Knochen, oder, was noch schlimmer wäre, Barrings, der Gärtner, eine Leiche. Es wäre schade, er wollte Barrings nicht verlieren, er war ein guter Gärtner. Was nicht hieß, dass so etwas nicht schon einmal vorgekommen wäre. Im Gegenteil.
"Siehst du dort im Garten eine schöne Nixe, die, nackt wie sie ist, sich in der Sonne badet?"
"Was?"
"Schade, na, vielleicht ist sie im Gästehaus?!"
Unsicher blickte Frederico zwischen seinem Vater und den Rosen hin und her, dann verstand er, nickte und setzte seinen kurz unterbrochenen Weg fort. Vor Benedict verharrte er und fragte ihn: "Was ist es nur? Was liegt uns im Blut, dass wir immer solches dummes Zeug machen müssen?"
"Hmm, das hat noch niemand herausgefunden. Aber dieser Hang zur Destruktivität existiert in unserer Familie schon lange, schon sehr lange. Allerdings ist diese freundliche Beschreibung neu."
Aus der Familienchronik, die unter Zuhilfenahme alter Stadtbücher der umliegenden Kleinstädte von einem nahen Verwandten, Stefano di Calbrizzi, vervollständigt wurde, ließ sich folgendes entnehmen:
"Schon der Begründer des Hauses Senkmoor und sein Erbauer, der Edelmann Eduardo Tenderbilt, war gefürchtet für seinen derben Humor. Oft besuchte er Schenken um zu zechen und sich mit dem Weibe herumzutreiben. Als er dann heiratete, legte sich letzterliches. Auch sein ungeschriebener Hang zu groben Späßen ließ nach, ward er doch für die Irreführung eines königlichen Soldaten verantwortlich, welcher da nach dem Weg nach Edinburgh fragte und welchen der Edelmann irrtümlicherweise nach Dublin schickte. Hier sei angemerkt, dass besagter Soldat sich im britannischen Raume erbärmlich schlecht ausgekannt habe, dessen Nachricht, welche der Maria Stewart den Kopf gerettet hätte, allerdings nie ihr Ziel erreichte, jedenfalls nicht rechtzeitig. Als seine Nachkommen, Malcolm und Angelica Tenderbilt, in das Vorerwachsenenalter kamen, wurden die Stadtväter sich der Tatsache bewusst, dass es sich bei dem Edelmann nicht um einfachen derben Humor gehandelt haben musste, sondern um erblichen Schwachsinn."
In ihrer Hochzeitsnacht hatte Frederico seiner Frau Veronika gestanden, dass man in seiner Familie erblichen Schwachsinn vermutete. Erschreckt blickte sie ihn an, sank dann in ihr Kissen zurück und starrte die Wand an. Zärtlich streichelte Frederico ihre Schulter. Sie wehrte sich nicht dagegen, starrte nur die Wand an. Nach einiger Zeit fragte sie: "Man merkt es dir gar nicht an, dass..."
"Dass ich spinne?" Er lächelte bei der Bezeichnung. "Es heißt ja nicht, dass ich mich für Napoleon oder eine andere historische Persönlichkeit halte." Sie atmete auf. "Ich glaube zum Beispiel, Marie Bellingel zu sein, und bei der kann man ja wohl kaum von einer historischen Persönlichkeit sprechen."
"Du Untier." Sie fiel ihm lachend in die Arme.
"Vielleicht haben sich die Geschichtsschreiber ja auch geirrt", mutmaßte Frederico. Hatten sie nicht, versicherte Stefano di Calbrizzi, der eigentlich nah genug verwandt war, um auch betroffen zu sein. Er wusste jedoch zu beweisen, dass es in seinem Zweig der Familie keinen erblichen Schwachsinn gebe. "Stört es dich denn, mit einem Irren zusammenzuleben?"
"Solange ich diesen Irren liebe, nicht. Aber eines hättest du doch tun können."
"Neugierig sah Frederico sie an.
"Du hättest mir das mit der Krankheit sagen sollen, bevor wir uns geliebt haben!"
Niemand hätte je bestritten, dass die Tenderbilts adelig waren. Zwar gab es außer ihrem erblichen Schwachsinn kein auffallendes Familienmerkmal, wie zum Beispiel fehlende Ohrläppchen, besonders geformte Nasen oder auf der Schulter sitzende Falken, die auf jedem Portrait der betreffenden Person zu sehen waren. Nicht einmal mit einem chronischen Zucken unter dem rechten Auge konnten die Tenderbilts aufwarten, seltsamerweise stellte man es aber bei Stefano di Calbrizzi fest, jedoch ohne ihm weitere Bedeutsamkeit beizumessen.
Seit Eduardo Tenderbilt sich niedergelassen und Haus Senkmoor gebaut hatte, ließ sich die Geschichte der Tenderbilts (und ihrer Erbkrankheit) verfolgen. Neben den Informationen aus der hiesigen Chronik kursierten lange Jahre Gerüchte, dass er auf dem Festland (Europa!) gewütet und unzählige Französinnen, Holländerinnen und Deutsche geschwängert haben soll, dann habe ihn ein schrecklicher Heuschnupfen zum Umkehren gezwungen und er konnte nicht vorstoßen bis nach Griechenland, was er eigentlich vorgehabt habe.
Fairerweise muss man bemerken, dass eher bei den Leuten, die derlei Gerüchte verbreiten, nach vererbtem Schwachsinn gefahndet werden sollte. Tatsächlich ist über die Herkunft des Geschlechtes der Tenderbilts bis zu ihrer Niederlassung nichts Genaues bekannt. Ob sich also die Folgen bis aufs Festland verfolgen ließen, bleibt ein Geheimnis der Geschichte.
Jedenfalls, so geht aus der Chronik hervor, hielt man Eduardo, dessen Name schon verdächtig klang, nicht für einen reinen Engländer, da er einen ausgeprägten Akzent gehabt haben soll. Er sei, so hieß es, nicht schottischer Herkunft, wahrscheinlich zumindest, möglicherweise doch. Demnach besteht die Möglichkeit, dass die Tenderbilts ihren Weg aus den schottischen Highlands hinunter ins tiefe britische England fanden, wo sie bis heute noch anzutreffen sind.
Einen möglichen Hinweis über den Stamm der Familie konnte man vor wenigen Jahrzehnten in einem leider verbrannten Dokument in London finden. Offenbart hatte dort ein Ehepaar ein kleines Haus gemietet. Das an sich ist noch kein strafbares Vergehen, jedoch schrieb man über den Mann, er habe die Besucher eines bekannten Londoner Theaters nach den Aufführungen gefragt, ob ihnen die Stücke denn gefallen hätten – und wenn ja, ob sie sie denn auch verstanden hätten. Oft zog dies die Androhung eines Duells nach sich, in sieben Fällen wurde der Mann herausgefordert. Da sich alle sieben Herausforderungen an nur einem Abend ergaben, so hieß es in dem Dokument, hielt er es für klüger, sich aus der Stadt zurückzuziehen, was er auch tat und die Miete schuldig blieb. Dieses auffällige Verhalten deutet, so die Experten, eindeutig auf einen Tenderbilt hin. Der gleiche Mann soll vor den erwähnten Theatern behauptet haben, seine Stücke seien viel besser als die, die man hier spiele. Wahrscheinlich kam aus diesem Grund das Gerücht auf, einer der Duellanten sei der hiesige Schriftsteller gewesen. Kaum jemand nahm jedoch das sich daraus ergebende Gerücht, ein nicht unbekannter Autor namens William Shakespeare sei in Wirklichkeit erwähnter Pöbler und angenommener Vorfahre der Tenderbiltfamilie gewesen, für voll.