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Kapitel 6

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"Irgendwie wirkst du wirklich nicht so ganz verrückt, wie du es nach den Geschichten, die man sich über deine Familie erzählt, eigentlich sein müsstest", meinte Veronika Tenderbilt zu ihrem Mann Frederico, nachdem er ihr gestanden hatte, wer und was er war.

"Danke", murmelte er.

"Nichts zu danken. Aber wie kommt das?" Sie setzte sich auf und bedeckte ihren Busen mit dem Betttuch.

"Naja", meinte er, während er versuchte, ihr das Betttuch zu entfernen, "ich kompensiere meine Verrücktheit, ich lenke sie auf eine andere Bahn."

Sie grinste: "Sex?"

Da er es endlich geschafft hatte, ihr das Tuch zu entreißen, musste er grinsen und meinte: "Ja, auch." Nachdem er seinen Kopf in ihrem Nacken vergraben hatte, murmelte er: "Aber das ist es nicht, was ich meinte!"

"Was denn?" hauchte sie ihm ins Ohr und befreite sich aus der Decke.

"Weswegen hast du dich in mich verliebt?" fragte er, kaum noch fähig, sich auf ihr Gespräch zu konzentrieren.

"Also doch Sex", flüsterte sie. Später setzten sie dann ihr Gespräch fort: "Ach das meinst du." Sie sah ihn erstaunt an. "So kannst du deine Verrücktheit kompensieren?"

"Ja, es geht. Man lässt seine Triebe so wenigstens nicht an anderen aus. Und manchmal kann man ganz gut damit verdienen."

"Stimmt, deine Schriftstellerei hat mich schon immer fasziniert"

"Das andere ist aber auch nicht schlecht", murmelte er und begann wieder, sie aus der Bettdecke zu befreien.

Als sich Theobald Melberg mit dem Thema 'Kunst als Ausdruck von Schwachsinn' beschäftigte, kam er auch, nicht ohne vorher die Kabelprogramme als völlig unbrauchbare Untersuchungsobjekte eingestuft zu haben, zur Familie Tenderbilt, die, zumindest was den Schwachsinn anging, ein bekannter Name war. Was den Garten anging, hatte es nie einen Künstler in der Familie gegeben, was wohl auch mit der Furcht davor zusammenhing, dass wieder Knochen unter den Beeten gefunden werden könnten. Eduard Tenderbilt, welcher seinerzeit Haus Senkmoor erbaut hatte, galt als meisterlicher Architekt, bis sich herausstellte, dass nur fälschlicherweise behauptet wurde, er habe es gebaut, in Wirklichkeit sei es aber Leonardo da Medici gewesen, wenn auch diese Theorie noch durch einen Beweis bekräftigt werden muss. Da es ein Zeitgenosse von ihm war, stieß Melberg, nachdem er sich eingehend mit der Familienchronik befasst hatte, auf Frederico Tenderbilt, den Schriftsteller in der Familie. Doch werfen wir zunächst einen Blick auf das, was Melberg in der Familienchronik vorfand:

"Von Kunstverständnis oder gar künstlerischem Können, gleich welcher Gattung, kann in der Familie Tenderbilt nicht die Rede sein. Es hat nie eines gegeben und so wird es vermutlich auch bleiben. Es sei denn, man bezeichnet die Fähigkeit, sich bei allen möglichen Gelegenheiten und Leuten zum Gespött zu machen, oder sich stets durch derbe Scherze über andere lustig zu machen, als Kunst!"

Bevor wir nun zu dem kommen, was Melberg über Frederico herausfand, werfen wir erst noch einmal einen Blick auf ein Ereignis, das sich mit seinem Großvater, Sir, damals schon Lord Henry Tenderbilt, ereignete. Er befand sich, damals schon auf die 60 zugehend, auf einer Party anlässlich der Taufe eines Kindes aus der Nachbarschaft, wenn auch nicht aus seiner Nachbarschaft, denn er befand sich gerade bei Freunden zu Besuch in einem Dorf in der Nähe von Cambridge.

Leicht angetrunken, der Zustand, in dem er die Party betreten hatte, sprach er viele der jungen Frauen an, machte ihnen unsittliche Anträge und wäre, hätte er sich in einer anderen Zeit befunden, zu diversen Duellen herausgefordert worden, so aber ließ man es damit bewenden, ihm nahe zu legen, doch bitte die Party zu verlassen, was er jedoch nicht tat, da die Gastgeber in ihrer Tauffreude auf sein Treiben noch nicht aufmerksam geworden waren.

So begab es sich aber, dass der eigentliche Pate des Kindes auf dem Weg von London nach Cambridge im Verkehr stecken geblieben war – ein Lastzug war so freundlich, ihn mitzunehmen, frontal! Man hörte sich um, wer denn wohl an seiner statt dieses Amt auf sich nehmen würde, und da Würde etwas sehr Wichtiges war, kam man auf den adeligen Herrn mit den grauen Haaren. Der Gastgeber trat an Henry heran, der gerade seinen 29. Scotch leerte und fragte: "Sie sind doch Lord Henry, der Freund der Clingfords, nicht wahr?"

Henry nickte und wartete auf Nummer 30.

"Unser Pate ist auf dem Weg hierher stecken geblieben und da wollten wir fragen, ob Sie vielleicht Pate des Kindes werden wollen."

Etwas irritiert meinte er: "Um der Vater des Kindes werden zu können, dürfte es jetzt wohl etwas zu spät sein!" (Die Geschichtsschreibung nimmt an, dass Lord Henry Tenderbilt unter Schwerhörigkeit litt!)

"Pate, Sie sollen sein Pate werden."

Scheinbar konnte Henry mit diesem Begriff nicht viel anfangen, im Gegensatz zu seinem Drink. "Was muss ich da denn machen?" fragte er scheinheilig.

"Nur das Kind halten." Der stolze Vater strahlte, wessen Kind hatte schon einen Lord als Taufpaten?

"Na gut, äh, was kriege ich denn dafür?" (Dieser Satz, der von einigen auf dieser Party Anwesenden, darunter Raymond und Jill Clingford, die Freunde, bei denen er zu Gast war, bestätigt wird, wird von der modernen, wie auch der unmodernen und veralteten Geschichtsschreibung so gedeutet: "Auf einer Party anlässlich der Taufe eines Kindes bestätigte sich, dass die Tenderbilts ihre Vorfahren in den Highlands von Schottland zu suchen haben, denn Sir Henry Tenderbilt, der sich schon damals als Lord ausgab, fragte: '...'")

"Sie werden der Pate meines Kindes", soll daraufhin wahrheitsgemäß der stolze und nun etwas verwirrte Vater des Kindes gesagt haben.

Henry ließ sich überreden und hielt das Kind. Während der Taufe musste er kurz die Orientierung verloren haben, denn als das Kind anfing zu schreien, versuchte er es abzuschalten, offensichtlich in dem Glauben, es handele sich um eine Art Radio. Nur die Umsicht des Pfarrers verhinderte schwere Schäden des Kindes. Als es dann soweit war, das Kind in das Weihwasserbecken zu tauchen, fragte Henry, ob sie es pur haben wollten, oder 'on the rocks'. Auch hier verhinderte das scharfe Auge des Pfarrers ein Ertrinken des Kindes in dem großen Becken. Nach der Taufe kam Henry dann endlich dazu, sich ordentlich zu betrinken.

Es war allerdings nicht so, dass Frederico Tenderbilt aus dieser Tradition, wie man es nannte, heraus fiel, nein, auch er leistete sich in seiner Jugend so manchen Fehltritt, ohne den sich Melberg wahrscheinlich auch nicht für seine Arbeit interessiert hätte, doch versuchte er, diese Triebe, die in seiner Familie zu herrschen schienen, diesen Hang zum Extravaganten, der schon ins extrem Exzentrische ging, dadurch zu kompensieren, dass er ihn schriftstellerisch ausdrückte, dass er ihn in seiner Phantasie auslebte und diese Geschichten dann aufschrieb.

Schon in früher Jugend begann er, sich im Geiste mit einer Figur zu beschäftigen, die er 'den bösen Ritter' nannte und deren Abenteuer er in seinen Memoiren niederschreiben sollte. Für Theobald Melberg, einen ehemaligen Theaterkritiker, der glaubte, sich mit mehrlei Gesichtern der Kunst auseinandersetzen zu können, war in erster Linie die frühe Phase Fredericos interessant, da zu dieser Zeit, wie er bei seiner Beweisaufnahme feststellte, der Trieb auch noch verstärkt in der Realität ausgelebt wurde, die Persönlichkeit Fredericos, wie es Professor Heilbrigerl ausdrückte, gespalten war, da 'sich sein Geist nicht einig gewesen ist, ob er sein Leben leben oder sich ein neues erfinden sollte'. Frederico begann damit, kleine Gedichte für seine Freundin zu schreiben, ging dann zu Kurzgeschichten über, die seine Spezialität wurden, schrieb im Laufe seines Lebens auch einige Romane und endete mit seinen Memoiren, in die er auch verschiedene seiner Geschichten einbaute und bei denen es nicht völlig eindeutig ist, wieviel Realität und wieviel Phantasie in ihnen zu lesen ist, was besonders durch die Tatsache erschwert wird, dass es sich bei Frederico um einen echten Tenderbilt handelte.

Hier also sein erstes Gedicht, das er seiner Freundin Christine schenkte und das seitdem verschollen gilt:

"Du und ich, wir sind

das glaube mir, mein liebes Kind,

am Glücklichsten, nur immer dann,

wenn wir zusammen sind, wann

immer es nur geht, Christine,

für uns spielt nur die Violine."

Erwähnte Christine, mit der Frederico sehr lange in seiner Jugend zusammen war, spielte von ihrem vierten Lebensjahr an Geige. Mit 12 zogen sie und ihre Eltern dann nach London, wo sie eine sehr teure und gute Ausbildung auf der Geige bekam, sie heiratete mit 22, wurde für ihr klassisches Geigespiel bekannt und mit 25 von ihrem Mann, der die Violine noch nie gemocht hatte, in einem Anfall von Hass erschlagen. Ihre weltberühmte Violine ist heute im Museum of Modern Art in New York zu bewundern. Als sie im erwähnten Alter von 12 Jahren den Ort Brindige verließ, verließ sie auch den enttäuschten Frederico Tenderbilt. Als er die Trauer überwunden hatte, lernte er ein nettes Mädchen mit dem hübschen Namen Oktavie kennen. Ihr schrieb er als Beweis seiner Liebe folgendes kleines Gedicht:

"Du und ich, wir sind

das glaube mir, mein liebes Kind,

am Glücklichsten, nur immer dann,

wenn wir zusammen sind, wann

immer es nur geht, Oktavie,

für uns spielt nur das Klavier."

An diesen kleinen Versen kann man erkennen, dass Frederico nicht nur sehr praktisch und sparsam dachte, er hatte auch ungemeines Glück, dass seine Angebetete ausgerechnet das Instrument spielte, das sich auf ihren Vornahmen reimte. Bezeichnend ist, dass er mit diesen kleinen Gedichten, über deren künstlerischen Wert sich streiten lässt, stets Erfolg hatte. Es wäre interessant, festzustellen, welche Äußerung Melberg bezüglich dieser Gedichte abgegeben hätte, doch da er sie nie zu Gesicht bekam und sie auch später in keiner Veröffentlichung abgedruckt wurden, entfällt dieser Punkt. Er schrieb noch weitere Gedichte, die in der Anthologie 'Duelle mit schlechtem Ausgang' (Pitberg Verlag, London) veröffentlicht wurden. Das Gedicht, welches dieser Sammlung ihren Namen gegeben hat, haben wir zur Veranschaulich hier abgebildet.

Duelle mit schlechtem Ausgang

Die Nacht näherte sich ihrem Ende,

Nun gab es eine klare Wende

In des armen Mannes Leben,

Denn nun würde es Ärger geben!

Ein selbsternannter Ehrenmann

Sah den kleinen Mann schief an,

Blickte kalt auf ihn herab

Und sagte eisig und sehr knapp:

„Ich hörte, Ihr seid wohl verrückt.“

Dann hat er die Pistol gezückt,

Sie ihm tief ins Gesicht gedrückt,

Der Mann war davon nicht entzückt!

„Das wäre Mord!“

„Das wäre Sport!

Es wird bald hell,

Zeit fürs Duell!“

Der kleine Mann fragt nun: „Warum?“

Dem Ehrenmann ist das zu dumm:

„Ich hörte, dass Ihr vorlaut seid!

Ich hörte, Ihr habt wenig Schneid!

Ich hörte, Ihr seid feig und klein!

Ich hörte, Ihr schreit wie ein Schwein!

Ich hörte, Ihr seid schwach im Kopf!

Ich hört’, Ihr seid ein Armer Topf!“

„Ihr hört sehr viel, drum hört jetzt zu,

Ich lege lieber mich zur Ruh

Als Euch vor diesen heil’gen Hallen

Bei nem Duell gleich abzuknallen.

Ihr habt, ich wiederhol es gern,

Keinen Grund, drum bleibt mir fern!

Ihr glaubt hier nur zuviel Gerüchten,

Und deshalb wollt Ihr mich vernichten?“

Der Ehrenmann denkt drüber nach,

Verlieren wär hier eine Schmach,

Und doch sieht er nun langsam rot

Und will des kleinen Mannes Tod!

Damit der das auch recht verstand

Rief er nun seinen Sekundant,

Er durfte eine Waffe wählen

Und dann würd er bis 10 nur zählen.

„Ich weiß wohl, wie man so was macht!“

Sagt nun der Mann, der andre lacht.

„Dein Tod ist eine gute Tat,

Drum schenk dir deinen dummen Rat!“

Als kurz danach die Sonn aufgeht

Es schlecht um jenen Mann nun steht,

Der Ehrenmann ist ganz von Sinnen,

Denn das Duell kann nun beginnen!

Der Sekundant beginnt zu zählen,

Das Ziel ist, sich nicht zu verfehlen,

Er kommt zur 10, man dreht sich um

Und dann gibt es ein lautes Bumm.

Beide Duellanten

Treffen sich ins Herz.

So wie solch Streit entbrannten

So kurz war auch ihr Schmerz.

Der Tod von diesen beiden

War völlig ohne Sinn.

Und mussten sie nicht leiden,

So war’s doch kein Gewinn.

Duelle brachten immer

Nicht Ehre, sondern Tod.

Das machte es noch schlimmer,

Sie waren eben… Kot!

Es scheint kaum zu übersehen, dass Frederico in diesem Gedicht auf die Duelle anspielt, zu denen einige seiner Vorfahren des Öfteren herausgefordert wurden, zu denen sie jedoch nie erschienen sind. Ob er selbst zu einem Duell erschienen wäre, zu dem man ihn herausgefordert hätte, ist nicht bekannt. Bekannt ist jedoch, dass er, wie alle übrigen Tenderbilts, Ärger, gleich welcher Form, stets aus dem Weg ging. Die Urfassung dieses Gedichtes war übrigens „Duelle mit Dichtern“ betitelt und ist unter diesem Titel in dem Buch „DADA op Kölsch“ (Regionalia Verlag, Rheinbach, ISBN 978-3-939722-01-1) erschienen.

Doch nun zurück zu Theobald Melberg, der sich eingehend mit der Dicht- und der weiteren Kunst Kunst Fredericos beschäftigte. Ganze Aufsätze schrieb er über dieses Thema. Es begann mit seiner 'Warum Schwachsinnige auch schreiben können' betitelten Arbeit, die er für das inzwischen zugrunde gegangene Magazin DER KLEINE SPIELGEFÄHRTE schrieb. Später behauptete er, er habe es nur gemacht, weil er das Geld gebraucht habe, das ihm von der recht zweifelhaften Zeitung angeboten worden war. Auch versuchte er, seinen Stil als Ironie darzustellen, was jedoch von führenden Experten einwandfrei falsifiziert wurde. Hier ein kleiner Ausschnitt:

"Ja, auch Schwachsinnige können schreiben. Es erscheint merkwürdig, dass Menschen, die geistig nicht der Norm entsprechen, Dinge können, die einem großen Teil der Weltbevölkerung verschlossen bleiben, doch dem ist so. Noch merkwürdiger erscheint es, dass viele von ihnen Bücher schreiben und sich als Schriftsteller ausgeben. Ich kann nur immer wieder den Mut bewundern, den diese ungebildeten Idioten aufbringen, um sich als Teil einer intellektuellen Kaste auszugeben, die ihren Horizont bei weitem überschreitet..."

Nach Lektüre dieses Auszugs stellt sich die Frage, ob nicht doch die Möglichkeit der Ironie besteht – der Selbstironie, versteht sich. Leider sind inzwischen alle Exemplare dieser Ausgabe vergriffen, in der der Text durch Zeichnungen von Hernandes del Afrella, auch Potenzo Blitzt genannt, illustriert wurde, die etwa den Geschmack des Lesers getroffen haben mussten, der sich mit dem vorliegenden Text identifizieren konnte.

Um einen Grobüberblick zu geben, kann man zusammenfassen, dass Melberg in seiner Arbeit nicht nur alle geistig Behinderten verurteilt, sondern sich auch einen intellektuellen Grad zubilligt, der seinesgleichen sucht, etwa zur Behandlung in einer therapeutischen Praxis.

Potenzo Blitzt, der Herausgeber und Zeichner pornographischer Bilder der Zeitung DER KLEINE SPIELGEFÄHRTE, die sich nicht allein mit dem legendären Sado-Maso-Kult auseinandersetzte, sondern auch Sex mit Minderjährigen für eine erstrebenswerte Angelegenheit hielt, wurde drei Ausgaben später angeklagt, vor Gericht gestellt und für drei Jahre inhaftiert. Später wurde er in eine psychiatrische Anstalt in der Nähe von Brighton überwiesen, wo er im Alter von 64 Jahren nach siebenjähriger Verwirrung starb.

In der erwähnten Ausgabe wurden illegal gemachte Aufnahmen von Vergewaltigungen, sowie von Kindesmisshandlungen gezeigt, denen ein Text beigefügt war, der ein solches Verhalten hoch lobte und jedem der Leser dazu riet. Da Potenzo Blitzt sich inzwischen für den Papst des Sexes und seine Zeitung für eine Art monatliche Bibel mit netten Bildern hielt, wurde ihm sein Vergehen, wenn überhaupt, erst bewusst, als es bereits zu spät war.

Bezeichnend ist ebenfalls, dass die Werbung, durch die sich die Zeitung finanzierte, ausschließlich von einer Naziorganisation kam, die inzwischen ihren festen Platz in der Regierung erreicht hat, was sie wahrscheinlich auch der festen Lesergemeinschaft des KLEINEN SPIELGEFÄRHTEN verdankt.

Heute sagt Melberg, er habe von dem Hintergrund dieser Zeitung nichts gewusst, ebenfalls nichts von den Nazis, er sei konservativ. Seine Konservativität reicht jedoch weit genug zurück, um doch mit den Nazis geliebäugelt zu haben, was jedoch keinen allzugroßen Einfluss darauf hatte, was weiterhin mit der kleinen Zeitschrift passierte. Zudem bestreitet er beständig, je über die Reinheit der Rasse ge-, oder sich gar dafür ausgesprochen zu haben. Es ist anzunehmen, dass seine Meinung darüber nur durch sein Unterbewusstsein in alle seine Texte eingeflossen ist, da eine andere Vermutung eine Verleumdungsklage nach sich ziehen würde.

Niemand konnte sich erklären, dass Theobald Melberg allerorts als Experte für die Schriften der Tenderbilts, insbesondere Frederico Tenderbilts, ausgerufen wurde, allein die Tatsache, dass er es war, der sich als solcher ausrief, machte die Sache verständlicher.

Auch war er es, der die erste Biographie über den damals hoch gehandelten Schriftsteller Frederico Tenderbilt schrieb, die leider weniger Biographie, als vielmehr eine Anthologie seiner Aufsätze, die durch einen kommentierenden Begleittext übergeleitet wurden, welche das Bild eines Irren malt, dessen Familie schon immer schwachsinnig gewesen war und bei dem es reiner Zufall zu sein schien, dass er überhaupt schreiben konnte, wurde. In einer Pressekonferenz antwortete Melberg auf die Frage, ob er Frederico überhaupt schon einmal begegnet sei, das wäre nicht nötig, er habe all sein Wissen ( ! ) aus den Werken und der Familienchronik schließen können, im Übrigen lehne er den Kontakt mit frei herumlaufenden Irren ab. Soviel zu den Expertenmeinungen.

In Zusammenarbeit mit Frau Doktor Vera Allenstoon nahm der bekannte Fremdsprachenexperte Professor Dr. Dr. phil. etc. Allessandro Garivelli eine intensive Untersuchung der Werke Fredericos vor, die sich weit von der Arbeit Melbergs abhebt. Noch vor Erscheinen des Bandes 'Frederico Tenderbilt – Deutung und Interpretation seines Gesamtwerkes in drei Akten' von oben genannten Persönlichkeiten, starb Melberg bei einem Autounfall, der sich in seinem Wohnzimmer ereignete. Er trat auf ein kleines Spielzeugauto, das sein Sohn Raphael auf dem Boden hatte liegen lassen und rutschte darauf aus. Folge: Genickbruch. Für seinen Sohn war es ein schwerer Schlag, da es sich um das dritte Auto handelte, das er in diesem Monat verlor. Die beiden Autoren, die im Anschluss an die Beendigung ihres Buches heirateten und noch vor dem Beginn ihres nächsten gemeinsamen Buches wieder geschieden wurden (Titel: 'Vom Leben zu zweit und darüber hinaus'), beziehen sich in ihrem Werk weniger auf die angebliche Verrücktheit des Autoren, als vielmehr auf seine literarischen Leistungen. Über 'Duelle mit schlechtem Ausgang schrieben sie:

"Eines der witzigsten und geistreichsten Gedichte, die ich in meinem Leben gelesen habe. Es ist ganz klar, dass der Autor damit den Leser lediglich amüsieren, nicht aber ein literarisches Meisterwerk erreichen wollte. Ganz eindeutig festzustellen sind die sozialkritischen Aspekte, die in vielen, vor allem der späteren Werke Tenderbilts, zu erkennen sind. A.G."

"Meiner Meinung nach ist das Gedicht langweilig. Es hat keine Tiefe, verschlüsselt das, was es aussagen will in keiner Weise, ist wenig subtil, im Versmaß oft holprig und weist einen naiven Bezug zur Dichtkunst überhaupt, die in fast allen Werken Tenderbilts zu erkennen ist, auf. V.A."

Nicht selten in ihrem gemeinsamen ersten Buch weichen die Meinungen der beiden Autoren in Einzelheiten voneinander ab, die Frage, weshalb dennoch eine Heirat nicht nur in Betracht, sondern auch durchgezogen wurde, bleibt offen: möglicherweise wird sie in 'Vom Leben zu zweit und darüber hinaus' beantwortet, Bestellnummer: INPN 28-38567-AGVA. Von der Bewertung der Literatur losgelöst, erscheint es interessant, wie sich die Autoren in ihrem Vorwort zur Familie Tenderbilt äußern:

"Wir sind übereingekommen, dieses Buch über einen bedeutenden Autoren unserer Zeit, Frederico Tenderbilt, zu schreiben, da sein Werk, gerade weil seine Familie in dem Verdacht steht, seit Generationen Schwachsinn in jede neue Generation einfließen zu lassen, besonders interessant erscheint. In den letzten Jahren rückten die Tenderbilts zunehmend in den Mittelpunkt und das Interesse der Gesellschaft, so ist es uns eine Pflicht, eine Studie der literarischen Fähigkeiten dieser Familie anzufertigen.A.G."

"Über dieses Buch: Der Name Tenderbilt sollte inzwischen jedem ein Begriff sein, nicht unbedingt der des Autors, aber immerhin der Name. Tenderbilt stand einmal nur für Verrücktheit, Schwachsinn, bestenfalls ausgefallenen Humor. Heute ist das anders. Die Tenderbilts haben einen Autoren, wahrscheinlich nicht den letzten, hervorgebracht und wir wollen sehen, was es mit ihm auf sich hat.V.A."

Eigentlich hätte man sich von diesem Werk mehr erwarten können, da es immerhin von zwei namhaften Kapazitäten geschrieben wurde, doch offensichtlich stand der private Kleinkrieg der Erarbeitung einer vernünftigen, analytischen Beurteilung der Arbeit Fredericos im Weg. Er wurde jahrelang als Schriftsteller ignoriert, niemand nahm ihn ernst. Später dann schien es unmöglich, ihn zu ignorieren, da sein Gesamtwerk inzwischen stark angewachsen war. Über seine Gedichte schrieb man: "Nett, aber wenig aussagekräftig."/"Hübsch, aber wenig aussagekräftig."/"Witzig, aber wenig aussagekräftig." Je nach Art des Gedichts wurden die Adjektive verändert. In der Jubiläumsausgabe des Bandes 'Duelle mit schlechtem Ausgang' findet sich jedoch folgendes Gedicht, das in der Welt der Literatur und Poesie Aufsehen erregte und Frederico endlich in den Olymp der geheiligten Dichter des Landes erhob, wo er zusammen mit Shakespeare Tee trinken konnte:

"Ich weiß nicht ob

mein kopf

bin ich

mein armer kopf

Taiga"

Was dieses Gedicht anging, so waren sich Frau Doktor Vera Allenstoon und Prof. Dr. Dr. phil. etc. Allessandro Garivelli völlig einig:

"Dieses Gedicht, dem der Verfasser bewusst keinen Namen gegeben hat, hat die Tiefe, die viele seiner anderen Werke vermissen lassen. Es zeigt, durch seinen kurzen und prägnanten Telegrammstil, dass sich das lyrische Ich in einer Situation befindet, in der es nicht mehr weiter weiß. Es stellt sich die essentielle Frage, ob etwas ist, so scheint es, doch schon die nächste Zeile klärt auf, dass es eigentlich der Existenzialismus ist, um den es geht. 'mein kopf', es geht darum, wer oder was er ist, wie es auch in der sofort angeschlossenen nächsten Zeile heißt: 'bin ich'. Diese Frage nach dem Sein, nach der Existenz, nach dem Gott und dem Universum, sie bleibt vorerst noch unbeantwortet. Dann wieder die Wiederholung der Metapher 'kopf', die hier für den Geist, das innere Wesen aller Dinge steht, nach dem gestrebt werden soll. Er wird als 'arm' bezeichnet, womit gemeint ist, dass für den menschlichen Geist kein Entkommen aus dieser Welt möglich ist. 'Taiga', der Abschluss dieses phantastischen Werkes, bietet viele Interpretationsmöglichkeiten. Zum einen könnte es bedeuten, dass, wenn es doch einen Ausweg auf die implizite Frage nach der Erkenntnis über alles Sein, geben sollte, die Antwort in Russland zu suchen sei. Andererseits versucht der Autor durch diesen völligen Gegensatz zu dem Vorangegangenen einen so starken Kontrast aufzubauen, dass er sie der Lächerlichkeit preisgibt. Dadurch will er zeigen, dass eine Suche nach dem Sinn des Lebens völlig wirkungslos bleiben wird."

Besonders in Russland. Offensichtlich hatte Prof. Dr. Dr. phil. etc. Allessandro Garivelli das Gedicht noch nicht gelesen. Ähnlich der Meinung Frau Dr. Vera Allenstoons äußerte sich auch die Weltpresse nach Erscheinen der neu aufgelegten und erweiterten Fassung: "Endlich ein Gedicht, das sich von den üblichen Gedichten Tenderbilts durch seinen erfrischenden Humor und seine unergründliche Tiefe abhebt. Ein wahres Meisterwerk!"/"Noch nie wurde die Frage nach dem Sinn des Lebens in derart komplexer und gleichzeitig hintergründiger Weise (dar)gestellt. Weiter so!"/"F.T. fasst mit seinem neuen Gedicht ein heißes Eisen an. Die Russlandpolitik der USA in derartiger Weise darzustellen erfordert Mut. Hoffentlich bleibt es nicht das letzte politische Gedicht von ihm!"

Als ihm Veronika, seine Frau, den neuen Druck des Bandes in die Hand drückte, war selbst Frederico verwundert, was er da geleistet hatte. Er musste es dreimal lesen, bis er endlich wusste, was passiert war. Jetzt wurde ihm alles klar. Deswegen hatte er die erste Version seines Gedichtes 'Eichenlaub im Schnee' nicht wieder gefunden. An einem Herbsttag hatte sich der fatale Irrtum ereignet, der für seinen Aufstieg in den literarischen Olymp verantwortlich war.

Er hatte gerade einen Brief von seinem Verleger gelesen, in dem er ihn bat, für die Neuausgabe seines Gedichtbandes noch ein neues Werk zu schreiben. Tatsächlich hatte er gerade erst eines geschrieben und fasste nun, da er es sonst vielleicht vergessen hätte, einen Brief an seinen Verleger ab, in dem er von dem neuen Gedicht sprach. Leider hatte er an diesem Tag starke Kopfschmerzen und konnte sich nicht richtig konzentrieren. Als er ein Blatt eingespannt hatte, begann er mit dem Satz: "Ich weiß nicht, ob das neue Gedicht in deine Sammlung passen wird, aber..." Er vertippte sich fast, als das Telefon klingelte, sein Kopf dröhnte, er drückte die Returntaste und sein gerade begonnener Satz verschwand irgendwohin. Jemand hatte sich verwählt.

Ohne darauf zu achten, was er tat, schrieb er etwas über seinen Kopf. Dann, als er sich dessen bewusst wurde, wollte er denken: "Bin ich denn verrückt?", schrieb es jedoch teilweise. Dann schob er es wieder auf seine Kopfschmerzen. Er drückte noch ein paar Mal Return und wollte dann von vorne beginnen. Der Name seines Verlegers war Tigington. Was auf dem Blatt stand hatte damit jedoch nur entfernte Ähnlichkeit.

Er zog das Blatt aus der Maschine, legte ein neues ein und begann dann in voller Konzentration einen kurzen Brief abzufassen. Den anderen Zettel warf er weg. Leider, so stellte sich jetzt heraus, warf er den Zettel weg, auf dem die erste Version seines Gedichtes 'Eichenlaub im Schnee' stand und schickte den missglückten Brief an seinen Verleger. Als Frederico endlich herausgefunden hatte, was sich ereignet hatte, brach er vor Lachen fast zusammen. Niemand außer ihm wusste, was passiert war und niemand erfuhr es je, wenn auch sein Verleger gewisse Zweifel hegte. Die Weltpresse war begeistert, was wollte man mehr?

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