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Schicksals-Symphonie
September 1980
So rasant der kleine Lars Fortschritte auf seinem Instrument verzeichnen konnte, so bergab ging es mit der Gesundheit von Churchill, dem Eber. Innerhalb weniger Monate schien das Tier sämtliche Lebensfreude verloren zu haben. Hatte es früher sich immer blitzschnell erhoben, wenn Opa Willy in den Stall getreten war, so blieb es nun apathisch liegen und nahm von seiner Anwesenheit keinerlei Notiz. Seine Futterrationen verschlang es lustlos, und schließlich rührte es das Essen überhaupt nicht mehr an.
Doktor Jansen wurde regelmäßiger Gast auf dem Hof der Familie van Loon und konnte seinem Klienten keine große Hoffnung machen.
»Schau, Willy«, meinte er betrübt, »das Tier ist neun Jahre alt, hatte ein schönes Leben und ist nun altersschwach geworden. Ich denke, dass die Zeit gekommen ist loszulassen.«
»Loslassen?«, kreischte Opa Willy verzweifelt. »Was meinst du denn damit? Churchill ist ein Senior. Aber neun Jahre sind doch noch kein Alter! Er braucht bloß die entsprechende Pflege, wie wir Menschen sie im fortgeschrittenen Alter auch benötigen. Da ist er bei mir völlig richtig. Ich werde ihm ein nettes Schweinealtersheim einrichten. Er wird einen schönen Lebensabend im Hause van Loon verbringen dürfen, und es wird ihm an nichts fehlen. Doch auch er braucht seine Pillen und Pülverchen, genau wie wir, wenn wir älter werden. Vitaminpräparate, Schmerzmittel, was weiß ich schon. Dafür bist doch du zuständig, oder etwa nicht?«
»Willy!« Doktor Jansen stellte seine Arzttasche auf den Boden, kniete sich zu Churchill hin und tätschelte dessen Flanke, ohne dass dieser Notiz davon nahm. »Hat das wirklich noch einen Sinn? Es gibt eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben. Das Schwein hatte ein schönes Leben und nun ...«
»Du sprichst von ihm, als ob er schon tot wäre«, unterbrach der Alte den Arzt mit zorniger Stimme. »Aber wenn du mir dabei nicht helfen willst – ich werde mich um Churchill kümmern. Ich weiß schließlich bestens, wie man sich im hohen Alter fühlt. Oder willst du mir auch gleich eine Todesspritze mit verpassen?«
Jansen schüttelte resigniert den Kopf, erhob sich und griff nach seiner Tasche. Er wollte auf die Provokation hin noch etwas erwidern, doch als er die Tränen in den Augen des Alten glänzen sah, hielt er sich zurück. »Du weißt, wo du mich findest, wenn ich etwas für dich tun kann«, sagte er und tippte zum Abschied an die Hutkrempe. Zurück blieb ein alter Mann, verzweifelt und aufgewühlt, der nun, da er alleine war, die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Er legte eine Kassette in die Anlage, drehte die Lautstärke auf die höchste Stufe, und der Raum wurde von Mozarts Klängen beschallt, er hatte die g-Moll-Symphonie ausgewählt, die bis ins Wohnhaus hinüber zu hören war, sodass umgehend die Zwillinge in der Scheune auftauchten.
Sie fanden ihren Großvater neben Churchill auf dem Boden liegend, den Arm um ihn gelegt und die Öhrchen streichelnd. In ihrem Alter konnten sie noch nicht genau verstehen, was vor sich ging, und sie knieten sich zu Opa Willy nieder und tätschelten das Schwein, das mit geschlossenen Augen die tröstenden Streicheleinheiten zu genießen schien.
Am nächsten Morgen war Churchill tot.
Opa Willy organisierte eine Trauerfeier, die hinter dem Stall auf der Wiese stattfand und zu der nur der engste Familienkreis eingeladen war, wie er energisch betonte
Im Schweinestall mistete er gründlich aus, entfernte Churchills Wohnstube und errichtete einen kleinen Altar, auf den er neben zwei gerahmten Fotografien seines Liebsten sowie unzähligen Kerzen auch die Urne mit der Asche des verstorbenen Tieres stellte. Stundenlang konnte er sich dort aufhalten, auf einem Schemel sitzend, versunken in Erinnerungen und der Musik lauschend. Er hatte eine neue Auswahl mit Messen und Requiems getroffen, die in Endlosschleifen die Scheune auch akustisch in einen Ort der Trauer verwandelten.
Die einzige Freude, die ihm in dieser Zeit das Leben noch zu versüßen vermochte, waren die unglaublichen Fortschritte, die der kleine Lars auf dem Gebiet der Musik erzielte. Der Klavierlehrer, Herr Steinmeyer, attestierte dem Jungen ein ungewöhnliches Talent, das nicht nur seine Technik mit einbezog, sondern auch das musikalische Verständnis sowie die Fähigkeit, einmal gehörte Melodien sofort und fehlerfrei nachzuspielen.
Bereits mit sechs Jahren hatte er den Jungen an den Vortragsübungen von seinen deutlich älteren Klavierschülern teilnehmen lassen. Und während diese aufgeregt ihren Auftritten entgegenfieberten und einige kurz zuvor vor lauter Nervosität die Toilette vollkotzten, konnte Lars sich vor lauter Vorfreude fast nicht zurückhalten und musste regelrecht zurückgehalten werden, damit er nicht als Erster auf die Bühne stürmte.
Mit zunehmendem Alter wurde der junge van Loon auch immer kritischer in Bezug auf die Korrekturhinweise, die er von seinem Klavierlehrer erhielt.
Es war erst wenige Wochen her, als er sich Herrn Steinmeyer regelrecht widersetzte, als dieser seine Interpretation einer Diabelli-Sonate so nicht gutheißen wollte.
»Und wer sagt denn, dass man das nicht auch so spielen kann?«, fragte er nach den tadelnden Hinweisen seines Klavierlehrers.
»Beachte doch die Vortragsbezeichnungen. Und außerdem: Die Tradition will es so«, stellte dieser eindringlich fest.
»Was heißt denn das nun wieder?« Lars war ganz außer sich. »Scheiß auf die Tradition! Ich finde, so klingt es viel besser.« Im nächsten Augenblick bereute er allerdings seinen Ausbruch, und als er den entsetzten Blick Steinmeyers auffing, entschuldigte er sich und ließ dessen Verbesserungswünsche über sich ergehen.
Als er am Abend seinem Opa von der Klavierstunde erzählte, blickte dieser in die Ferne und sinnierte seufzend:
»Churchill hat immer gesagt: Wenn die Musik tief empfunden ist und die Seele erreicht, so kann keine Interpretation dieser Welt falsch ein.«
»Das hat er wirklich gesagt?«, wunderte sich Lars.
»Er war ein sehr kluges Schwein«, antwortete Willy und wischte sich dabei eine Träne aus den Augenwinkeln.
Von diesem Moment an probierte Lars, die Noten aus verschiedenen Betrachtungsweisen heraus zu lesen. Er variierte, improvisierte, schmückte aus und entdeckte ständig neue Bezugspunkte und Ansätze, die ihm ein vertieftes Verständnis zu dem bearbeiteten Stück ermöglichten. Selbstverständlich immer vor dem Erfahrungshorizont eines Neunjährigen – doch was das musikalische Empfinden betraf, da war er seinen Altersgenossen um Jahre voraus. Während den Klavierstunden spielte er allerdings so, wie es von seinem Lehrer verlangt wurde und ärgerte sich ständig mehr über die sturen Vorgaben, die an ihn gerichtet wurden und die er mit fortschreitender Dauer nicht mehr begreifen wollte.
Gregor hatte die neue Lieblingsbeschäftigung seines Zwillingsbruders zunächst argwöhnisch verfolgt. Es war für ihn eine völlig fremde Welt, zu der er keinen Zugang fand. Und trotzdem wollte er herausfinden, was denn dieses Besondere sein könnte, das Lars so umtrieb und ihn immer wieder ans Klavier lockte.
Er setzte sich einige Male selber ans Instrument und drückte auf den Tasten herum. Doch es gelang ihm nicht, die gleichen Klänge und Melodien hervorzubringen, die sein Bruder scheinbar mühelos aus dem Ärmel schütteln konnte.
Mit sechs Jahren hatte er genug von seinen hoffnungslosen Versuchen und beschloss, dass er ebenfalls Klavierunterricht nehmen wollte. Doch schon nach einem halben Jahr stellte sich heraus, das ihm weder Technik noch Empfindungsvermögen beschieden waren, mit denen sein Bruder so mühelos umgehen und brillieren konnte.
Astrid van Loon fand ihn weinend am Klavier vor und schloss ihn in die Arme.
»Lars ist euer Engel«, jammerte Gregor. »Und was bin denn ich?«
»Aber mein Schatz.« Die Mutter war erstaunt über den plötzlichen Ausbruch ihres Sohnes und streichelte seine Wange. »Hast du gemeint, dass wir Lars mehr lieben als dich, weil er ein außergewöhnliches musikalisches Talent hat?«
»Er ist euer Engel«, beharrte der Junge. »Ich bin nichts.«
Sie tröstete ihn und versuchte mit beruhigenden Worten, Gregors Sichtweise wieder zurecht zu rücken.
»Wolltest du nur deshalb mit Klavier spielen beginnen?«, fragte sie ihn. »Hast du gemeint, dass wir dich dann mehr lieben würden? Du bist doch auch unser Engel. Wir lieben euch beide, egal was ihr tut.«
Als am Abend die beiden Jungs im Bett waren, rief sie ihren Mann und Opa Willy zu Tisch und erzählte ihnen, was am Nachmittag vorgefallen war.
»Haben wir Lars etwa zu viel Aufmerksamkeit geschenkt?«, wunderte sich Claas. »Das war mir nicht bewusst. Ich war überzeugt davon, dass Lars und Gregor von mir die gleiche Zuneigung erhalten und dass ich ebenso viel Zeit mit dem einen wie mit dem anderen verbringe.«
»Also gar keine«, krächzte Opa Willy zynisch und erntete dafür einen bösen Blick seiner Tochter.
»Lass ihn«, stoppte Claas seine Frau, die gerade zu einer gewiss nicht freundlichen Erwiderung ansetzen wollte. »Er hat ja recht. Ich kümmere mich wirklich zu wenig um die beiden. Ich arbeite zu viel, und wenn ich zu Hause bin, beschäftige ich mich mit der Frage, was an unserem Hof noch zu verbessern ist.«
»Darum geht es jetzt im Moment aber nicht«, meinte Astrid. »Darüber können wir ein andermal sprechen. Jetzt geht es um die Jungs. Vater.« Opa Willy sah erstaunt hoch. »Ich glaube, auch du solltest dich vermehrt mit Gregor abgeben. Es dreht bei dir sehr häufig immer alles um Lars. Musik, Musik und nochmals Musik. Ich denke, auch du könntest deinen Teil dazu beitragen, dass Gregor sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlt.«
»Mag schon sein.« Der Alte knetete seine Finger. »Aber irgendjemand muss einem Jungen mit diesem ungewöhnlichen Talent ja zur Seite stehen, ihn beraten und für ihn da sein.« Er schwieg einen Moment und sah seine beiden Gegenüber mit ernstem Blick an. »Ihr Zwei seid es auf jeden Fall nicht.«
Mit Beginn der Schulpflicht normalisierte sich das Verhältnis der Zwillinge wieder. Es wurde gar noch intensiver, wodurch eine starke Bindung zwischen den zwei Brüdern geknüpft wurde.
Gregor fand rasch Anschluss und knüpfte neue Freundschaften mit Kameraden, welche die gleichen Interessen hatten: Fußball, durch den Wald streifen und von großen Abenteuern träumen oder Indianer spielen. Die freien Nachmittage verbrachte er mit seinen Freunden, tollte draußen herum und kam oft mit schmutzigen oder zerrissenen Kleidern nach Hause.
Lars hingegen war von Beginn weg ein Eigenbrötler, der die Freizeit lieber am Klavier verbrachte und in die Welt der Musik eintauchte. Er unterschied sich massiv von seinen Klassenkameraden durch eine ungewöhnliche Reife und eine unbeirrbare Zielstrebigkeit. Seine Leistungen waren tadellos, und die Prüfungen meisterte er im Handumdrehen, was ihm natürlich den Ruf eines Strebers einbrachte. Er suchte keine Kontakte, spielte in den Pausen auf einem Luftklavier und summte dabei flotte Melodien.
Damit war er das ideale Opfer für seine Kollegen. Sie machten sich lustig über ihn, stellten ihm das Bein oder lauerten ihm gar auf. Doch sie hatten die Rechnung ohne Gregor gemacht, der die Rolle des Beschützers seines Bruders annahm und ihm konsequent zur Seite stand.
Durch das hohe Ansehen, das Gregor in der Schule genoss und dem Umstand, dass man es mit ihm nicht verscherzen wollte, verloren die Kinder das Interesse an Lars und ließen ihn in Ruhe. Der eine oder andere faule Spruch war nicht ganz zu vermeiden, aber größtenteils wurde seine Andersartigkeit gar akzeptiert, und man nannte ihn, nicht ganz ohne Spott Gregors kluger Bruder.
»Du bist mein Schutzengel, Bruderherz«, sagte Lars oft zu Gregor. »Ohne dich würde es mir sehr schlecht gehen.«
»Du bist doch der Engel«, meinte dieser dann lachend, »auch ohne blonde Haare.«
Es hatte sich in ihm eine Faszination für die Begabung seines Bruders entwickelt, und er liebte es, am Abend nach dem Nachtessen auf dem Sofa zu fläzen und Lars beim Klavierspielen zu beobachten. Es gelang ihm nicht, die Leidenschaft für Musik zu teilen. Sie war für ihn eine Sprache, die er nicht verstand und zu der er keinen Zugang fand. Aber er konnte Lars’ Begeisterung spüren, wenn dieser auf dem Instrument spielte oder über Musik sprach. Und er war überzeugt davon, dass aus seinem klugen Bruder mal etwas ganz Besonderes werden würde, etwas, worauf er stolz sein konnte.
Vergessen war seine einstige Eifersucht, dass sein Bruder von den Eltern mehr Aufmerksamkeit genießen und mehr Liebe erhalten könnte. Im Gegenteil, wenn er seinen Bruder am Klavier, in die Musik vertieft, beobachtete, so konnte er sogar verstehen, weshalb sie in ihm einen Engel gesehen hatten.
»Wie ein Engel«, murmelte er, »ein kleiner Engel.«
Und plötzlich hatte Gregor dieses Wort im Kopf, diesen Namen. Angelino. Er hatte keine Ahnung, wie er darauf gekommen war. Es war einfach da, und er fand, dass es zu seinem Bruder passte, wie die Faust aufs Auge. Er klatschte vergnügt in die Hände, erhob sich vom Sofa und trat zu Lars, der gerade in eine Etüde vertieft war.
»Das machst du großartig, Angelino«, sagte er und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Als er in das verwunderte Gesicht seines Bruders blickte, lachte er verschmitzt und rannte in einem Höllentempo nach oben in sein Zimmer, wo er sich außer Atem aufs Bett warf und zu seinen Walt-Disney-Heften griff.
An einem prächtigen Spätsommertag anfangs der Achtziger-Jahre spaltete Opa Willy vor der Scheune Holz, und Gregor stapelte die Scheite unter dem Vordach. Aus dem offenen Fenster drangen die Läufe eines Mozart-Klavierkonzerts nach draußen, das Lars für eine Vortragsübung vorbereitete.
Der Großvater ließ häufig die Axt sinken und lauschte der Musik. Außerdem schmerzte ihn bei dieser kräftezehrenden Arbeit der Rücken, sodass die Unterbrechungen sich sehr häuften.
»Er ist gut, dein Bruder, nicht wahr, Gregor?«, meinte der Alte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er trug bloß seine verwaschene Cordhose mit den Hosenträgern. Sein Oberkörper war nackt und glänzte in der Sonne.
»Angelino wird einmal ein berühmter Musiker«, nickte Gregor und gönnte sich auch eine kurze Pause. Er griff nach dem Krug mit Limonade und füllte seinen Becher. Erschöpft setzte er sich an die Scheunenwand in den Schatten.
»Angelino«, sinnierte derweil Opa Willy. »Wie kommst du bloß auf so was?«
Gregor zuckte mit den Schultern und nippte an seinem Getränk. Der Großvater stellte das Werkzeug neben den Hackklotz und stopfte gemütlich eine neue Pfeife. Nach den ersten paar Zügen setzte er sich ächzend zu seinem Enkel neben die Holzbeige.
»Ich finde es schön, wie ihr beide euch mögt, obwohl ihr so unterschiedlich seid. Gemeinsam seid ihr unheimlich stark.« Er betrachtete Gregor von der Seite, und ein Anflug von Stolz überwältigte ihn. Was hatte er doch für tolle Enkelkinder! »Der Weg von Lars ist wohl ziemlich klar. Aber weißt du denn schon, was du einmal werden willst?«
Der Junge strahlte. »Ich werde Angelinos Manager.«
»Natürlich!« Opa Willy lachte laut. »Wie konnte ich nur so blöd fragen. Das ist doch völlig klar. Angelino, Manager. Woher hast du denn diese Worte, mein Kleiner?« Er wuschelte ihm durch die dunklen Locken.
»Oder ich werde Bettler.«
Der Alte hielt in der Bewegung inne und griff verwundert nach seiner Pfeife, die ihm sonst aus dem Mund gefallen wäre.
»Bettler? Wie denn das?« Verwirrt betrachtete er seinen Enkel.
»Das sind ganz liebe Menschen. Sie haben einen Hund und werden von den Leuten beschenkt.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Astrid van Loon schüttelte den Kopf, als ihr Vater ihr am Abend von seinem Gespräch mit Gregor berichtete. »Weißt du, Vater, ich war letzte Woche mit ihm in München, und da hat er einen Bettler gesehen, der mit seinem Hund in der Fußgängerzone gesessen hat. Er war völlig fasziniert von dieser Gestalt, ist zu ihr gegangen, hat mit ihr gesprochen und den Hund gestreichelt. Ich habe ihn fast nicht mehr weggebracht. Auf dem Rückweg hat er mich mit Fragen gelöchert, wollte wissen, weshalb der Bettler dort gesessen sei, was er so alles mache und wo man dies lernen könne.«
Opa Willy lachte laut und hielt sich seinen mächtigen Bauch.
»Das ist nicht witzig, Vater!« Astrid strafte den Alten mit einem tadelnden Blick.
»Manager oder Bettler.« Er konnte sich fast nicht mehr erholen. »Das sind goldene Zukunftsaussichten für meinen Enkel. Auf jeden Fall scheint er eine sehr soziale Ader zu haben.«
Das Lachen verging aber ein paar Tage später auch ihm, als die van Loons einen Anruf von Frau Lang, der Inhaberin des kleinen Lebensmittelladens im Dorf, erhielten.
»Stell dir vor, dein Sohn sitzt mit eurem Hund vor meinem Geschäft und hat einen Hut hingestellt. Geht’s euch so schlecht, dass ihr jetzt schon die Kinder zum Betteln schicken müsst?«
Die Frau Lang war bekannt für ihre spitze Zunge, und Astrid war nie ganz mit ihr warm geworden. Umso peinlicher war es ihr, dass gerade das größte Lästermaul der Umgebung auf Gregor aufmerksam geworden war. Sofort eilte sie ins Dorf und holte den Jungen nach Hause.
»Das geht nicht, Gregor!«, schimpfte Vater Claas beim Abendbrot.«
»Du kannst doch nicht einfach betteln gehen. Was sollen denn die Leute von uns denken«, weinte Astrid.
»Mein Junge«, grummelte Opa Willy, »wir müssen uns einmal ernsthaft miteinander unterhalten.«
Er blickte hinüber zu Lars, der artig seine Rindsroulade aß und von der ganzen Aufregung gar nichts mitbekommen zu haben schien. Es machte den Anschein, als ob er in anderen Sphären schweben würde.
Die Vortragsübung, für die Lars so eifrig geübt hatte, stand an. Er durfte ein Klavierkonzert von Mozart darbieten und sein Lehrer, Herr Steinmeyer, spielte auf dem zweiten Flügel den Orchesterpart. Der kleine van Loon verblüffte die Zuhörer mit seiner virtuosen Technik und mit einer improvisierten Kadenz, die in der Nachbetrachtung noch viel zu reden gab.
Eine Woche später nahm ihn Opa Willy zur Belohnung für seine außerordentliche Leistung mit nach München an ein Symphoniekonzert.
Lars staunte nicht schlecht, als er seinen Großvater in einem Anzug mit Krawatte erblickte, der ihm zwar überhaupt nicht stand, weil er ihn sich bloß ausgeliehen hatte. Trotzdem hinterließ die Aufmachung bei dem Jungen einen tiefen Eindruck.
»Aber Opa«, meinte er. »So zieht Papa sich doch nur an, wenn wir in die Kirche gehen.«
»Man wählt die feinste Kleidung aus, wenn man ins Konzert geht, mein Junge. Du wirst sehen: Die Leute werden alle so angezogen sein. Mutter hat dir auch deine schönsten Kleider bereitgelegt. Geh schon, zieh dich an, sonst verpassen wir den Bus.«
Auch im Konzertsaal kam Lars aus dem Staunen nicht heraus. Da es im Hause van Loon immer noch keinen Fernseher gab, hatte er eine solche Veranstaltung noch nie von der optischen Seite wahrnehmen können und bombardierte Opa Willy mit Fragen:
»Weshalb sitzen alle Leute so still da? Das ist ja wie in der Kirche. Freuen die sich denn nicht?«
»Warum tragen die Musiker alle so einen komischen Anzug? Die sehen ja aus wie Pinguine.«
»Was macht der Mann da vorne mit dem Stäbchen? Und weshalb steht der, wenn alle anderen doch sitzen?«
»Warum klatscht denn niemand?« Eine berechtigte Frage, die Lars zwischen zwei Sätzen stellte.
»Weshalb schauen alle so ernst drein?«
Während er all die vielen Fragen stellte, die ihm auf der Zunge brannten, stellte er die ärgerlichen und vorwurfsvollen Blicke rund um ihn herum fest, und Opa Willy wies ihn schließlich darauf hin, dass in der Pause genug Zeit vorhanden wäre, um Antworten zu geben.
»Hör doch einfach zu, Bub«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Dafür sind wir nämlich da!«
So vertiefte sich Lars in das Klavierkonzert von Schumann, das er von den Aufnahmen, die Opa Willy ihm vorgespielt hatte, bereits kannte. Staunend lauschte er den Klängen, die so ganz anders tönten als auf den Kassetten, viel unmittelbarer, viel mächtiger, viel eindringlicher. Er konnte die Musik fühlen und hatte die vielen Fragen, die ihn noch vor wenigen Augenblicken gequält hatten, rasch vergessen. Es kam ihm vor, als ob er in einem See baden würde, allerdings war es nicht Wasser, sondern die Musik, die seinen Körper umsäumte, kräuselte und für sich einnahm.
Der Solist spielte seinen Part abwechslungsweise so innig, mal kräftig, dann wieder verträumt und zärtlich und mit einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit, die Lars nicht einmal bei Herrn Steinmeyer so gesehen hatte.
Und dann der Klang! Diese Töne! Wenn Lars die Augen schloss, dann war es nicht nur das Wasser, in dem er schwebte, sondern er glaubte, über sich ein ganzes Himmelszelt zu erblicken, an dem die Sterne golden funkelten und sich zu einer Einheit formierten, die seinen ganzen Körper erschaudern ließ. Er hatte das Gefühl, sich in der Gegenwart zu verlieren und sie gleichzeitig mit einer Intensität zu fühlen, die er bisher noch nie so erlebt hatte.
Und dann, in der Pause, hatte Lars endlich die Gelegenheit, die unzähligen Fragen, die ihn im Konzertsaal beschäftigt hatten, endlich loszuwerden. Gierig sog er die Antworten seines Opas in sich auf, und jede Erklärung zog weitere Fragen nach sich, sodass Willy seinen Enkel beinahe auf den Sitz zurückprügeln musste. Und auch dort sprudelte es aus dem Kleinen nur so hinaus. Jede Beobachtung, jedes Detail musste erklärt werden, und erst als der Dirigent zurück aufs Podest kam, verstummte Lars und war gespannt, wie es weitergehen würde.
Für den zweiten Teil des Konzerts stand Beethovens Fünfte auf dem Programm, ein Stück, das Lars im Schweinestall schon oft gehört hatte und zu dessen mitreißenden Themen er dort stets aufgeregt herumgehüpft war. So fiel es ihm noch viel schwerer, ruhig sitzen zu bleiben, denn die Musik entfaltete seinen Bewegungsdrang. Am liebsten wäre er aufgestanden, seinen Opa an den Händen gepackt, mitgesungen und getanzt. Er war erstaunt darüber, wie die Zuhörer scheinbar emotionslos auf ihren Sitzen saßen und die Musik über sich hinwegfluten ließen.
Im zweiten Satz dann allerdings, im wunderbaren Andante con moto, war er auch ganz in sich versunken und lauschte atemlos dem herrlichen Melodienreichtum, den Beethoven komponiert hatte.
Als er sich einmal zu seinem Sitznachbarn drehte, stockte ihm tatsächlich der Atem, und er beobachtete fasziniert, wie diesem eine Träne die Wange runterlief. Sofort wandte er sich an seinen Großvater und zupfte ihn aufgeregt am Ärmel.
»Opa, Opa.«
»Pst, Lars.«
»Aber es ist wichtig.«
»Nichts ist so wichtig, als dass wir nicht nachher darüber sprechen können. Hör gut zu.«
»Aber der Mann neben mir ...«
»Lars, bitte.«
Die Köpfe in der vorderen Reihe drehten sich zu ihnen um, doch Lars nahm keine Notiz davon.
»Der Mann. Es geht ihm nicht gut. Er weint.«
»Sei still.«
»Müssen wir ihm nicht helfen?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Pst«, kam er ärgerlich aus der vorderen Reihe. Köpfe wurden geschüttelt.
Lars konnte sich nicht mehr erholen, und er wollte bereits dem weinenden Mann seine Hilfe anbieten, als dieser mit dem Handrücken über die Augen wischte und mit einem tiefen Seufzer und einem seligen Lächeln die Hand seiner Sitznachbarin ergriff.
Opa Willy legte den Arm über Lars’ Schulter und flüsterte ihm zu:
»Wir dürfen die Zuhörer nicht stören, mein Kleiner. Hör dir die Musik gut an. Wir können nachher darüber sprechen.«
Lars nickte und warf seinem Nachbarn noch den einen oder anderen verstohlenen Blick zu. Spätestens beim majestätischen Finale hatte die Musik dann wieder komplett Besitz von ihm ergriffen, und jubelnd stimmte er in den aufbrausenden Applaus ein, als der Schlussakkord des Werkes erklungen war.
Fasziniert beobachtete er, wie der Dirigent immer wieder zurück auf die Bühne kam, eifrig die Hände der Orchestermusiker schüttelte und sich feiern ließ.
Doch als sie vor dem Konzerthaus standen, fiel ihm wieder der weinende Mann von nebenan ein, und die Fragen sprudelten aus ihm heraus.
»Schau, Lars«, begann Opa Willy, und es war ihm anzumerken, dass er nach den richtigen Worten suchte. »Die Musik hat dem Mann so gut gefallen, dass ihm die Tränen gekommen sind.«
»Aber man weint doch nicht, wenn man glücklich ist.«
»Doch, mein Kleiner. Die Musik hat ihn so stark ergriffen. Er war überwältigt, daher die Tränen.«
»Das verstehe ich nicht. Was meinst du mit ergriffen?«
Opa Willy seufzte.
»Das ist sehr schwierig zu erklären. Wenn man das nicht selber einmal erlebt hat, kann man das fast nicht verstehen.«
»Hast du auch schon einmal wegen der Musik geweint, Opa?«
»Aber natürlich.«
»Aber wieso denn?«
»Musik ist wie eine Sprache, Lars. Ich kann dich mit einem lustigen Witz zum Lachen bringen. Oder wenn ich mir dir schimpfe oder mir eine verletzende Bemerkung rausrutscht, dann weinst du. Du reagierst auf das, was ich dir sage. Und diese Wirkung hat die Musik ebenfalls. Im Gegensatz zu einer Sprache wird sie allerdings auf der ganzen Welt verstanden.«
»Du meinst also, mit Musik kann man Menschen eine Freude bereiten?«
»Natürlich, Lars. Wir freuen uns zu Hause ja auch, wenn du uns etwas auf dem Klavier vorspielst. Oder Herr Steinmeyer reagiert in den Stunden auch auf deine Übungen und Sonaten. Und ich kann dir versichern, dass ich auch schon eine Träne vergossen habe, wenn ich dir zugehört habe.«
»Aber das ist ja wie Zauberei.«
»So kann man’s natürlich auch sehen.« Opa Willy wuschelte Lars durchs Haar.
»Also sind die Musiker auf eine Art große Zauberer.«
»Richtig, mein Kleiner.« Ein Strahlen lag auf Willys Gesicht, und Lars lachte zurück.
»Wenn das so ist ...« Aufgeregt hüpfte der Kleine auf und ab. »... dann möchte ich das auch einmal werden!«