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Signor Carbonara

Februar 2017

»Ihre Kindheit muss sehr harmonisch gewesen sein, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte sein Klemmbrett auf den Beistelltisch gelegt, die Brille in die Stirn geschoben und mit wachsender Faszination den Schilderungen des Musikers gelauscht. Er würde anschließend noch genügend Zeit haben, um sich Notizen zu machen und das Gehörte zu analysieren. Ohne auch nur einmal zu unterbrechen, hatte er seinem Gegenüber ausreichend Raum geboten, um dessen Vergangenheit nochmals aufleben zu lassen.

Lars hatte diese Freiheit ausgiebig genutzt und war tief in seine Kindheit eingetaucht. Wie ein Film waren die Bilder vor seinem inneren Auge durchgezogen, manchmal beinahe zu rasch, und am liebsten hätte er die eine oder andere Erinnerung für einen Moment festhalten wollen, um sie mit den aufkeimenden Emotionen anzureichern.

Doch er drängte vorwärts, die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. Er bemerkte mehr als einmal, dass er sich selber ein wenig zügeln musste, damit der Arzt den Anschluss nicht verpasste und die Sätze in ihrem überbordenden Tempo auch verständlich blieben. Es war das erste Mal, dass er jemanden in seine Kindheitserinnerungen einweihte, aber er stellte fest, dass sie ihm problemlos über die Lippen flossen, wohl dadurch bedingt, dass er in ruhigen Stunden ständig wieder an die für ihn so schwerelose und liebevolle Zeit zurückdachte.

Sogartig wurde er in die Vergangenheit hineingezogen. Da fiel ihm noch ein zusätzliches Detail ein und dort wäre noch eine weitere Geschichte zu erzählen gewesen. Doch er bemühte sich, den roten Faden nicht zu verlieren und zielstrebig auf seine ersten Erfahrungen mit dem Klavier zuzusteuern. Erst später sollte er sich selber die Frage stellen, durch wie viel romantisierende Verklärung seine Erinnerungen getrübt gewesen sein könnten.

Nach der Episode mit Schwein Churchill in der Badewanne merkte er, wie erschöpft er war, wie ihn das Eintauchen in die Vergangenheit ausgelaugt hatte und wie froh er um eine Pause war, die ihm der Arzt mit einem zustimmenden Nicken gewährte.

Wie aus dem Nichts hatte Doktor Fleischhauer eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser hervorgezaubert, füllte diese randvoll auf und reichte Lars eines davon. Er prostete ihm zu.

»Zum Wohl, Herr van Loon. Diese Erfrischung haben Sie sich redlich verdient.«

In hastigen Zügen leerte Lars sein Glas bis auf den letzten Tropfen und streckte es dem Arzt entgegen. Dieser schenkte nach und beobachte, während er an seinem Getränk nippte, wie sein Gegenüber auch das zweite Glas gierig austrank.

Mit einem Seufzer der Erleichterung wischte sich Lars über den Mund und lehnte sich in den Sessel zurück. Mit lauerndem Blick musterte er den Arzt.

»Ist dies das übliche Prozedere bei Ihnen? Man startet ganz harmlos in der Kindheit und tastet sich dann langsam an die Neurosen und Phobien der Patienten ran?«

»Nun, Herr van Loon, ich hatte nicht den Eindruck, dass ich Sie zu irgendetwas gezwungen hätte. Sie haben aus freien Stücken erzählt, und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie haben dies auf eine sehr lebendige und anregende Weise getan.« Nachdenklich nahm er einen Schluck Wasser. »Aber ich denke, das ist nun genug für heute. Wir werden morgen noch genug Zeit finden, um weiter in ihr Leben vorzudringen.«

»Morgen?« Lars schoss aus dem Stuhl empor und stemmte die Arme in die Hüfte. Plötzlich war ihm wieder bewusst geworden, wo er sich überhaupt befand und dass sein oberstes Ziel darin bestand, so rasch wie möglich hinaus zu gelangen und nach Hause zu kommen. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, Herr Fleischwolf.«

»Fleischhauer«, korrigierte ihn der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen, und parierte den wild flackernden Blick des Musikers. »Sie brauchen im Moment sehr viel Ruhe, Herr van Loon. Und wenn Sie schon mal hier sind, so wollen wir doch die Gelegenheit nutzen und Sie gründlich untersuchen.«

Die Nennung des Namens hatte Lars bereits wieder von seiner Situation abgelenkt; kichernd setzte er sich in den Stuhl zurück. »Fleischhauer, richtig. Der vegane Fleischhauer. Was für ein Witz!«

Der Arzt wartete geduldig, bis Lars sich beruhigt hatte und wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als dieser ihm zuvorkam:

»Nun denn, Doktor. Quid pro quo. Ich habe meine Kindheit vor Ihnen ausgebreitet, und nun wären Sie an der Reihe. Erzählen Sie mal: Was soll das alles? Weshalb bin ich hier, und was haben Sie mit mir vor?«

Doktor Fleischhauer dachte einen Augenblick angestrengt nach, dann schob er sich die Brille auf die Nase zurück und beugte sich vor. In diesem Moment vibrierte das Handy in seiner Jackentasche. Er holte das Gerät hervor, hob den Finger und nickte Lars zu:

»Gleich, Herr van Loon. Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment. Das ist wichtig.«

Er erhob sich aus dem Stuhl, nahm das Gespräch mit einem auffordernden und gedehnten »Ja« entgegen und trat ans Fenster, wo er in die Landschaft hinausblickte, über die sich inzwischen völlige Dunkelheit gelegt hatte. Ohne eine weitere Entgegnung lauschte er der Stimme, meinte schließlich »In Ordnung« und beendete das Gespräch. Mit einem Lächeln im Gesicht setzte er sich wieder zu Lars zurück und ließ das Handy in sein Jackett zurückgleiten.

»Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr van Loon. Natürlich haben Sie das Recht zu erfahren, weshalb man Sie hierhergebracht hat.« Er griff nach dem Klemmbrett und trommelte einen kurzen Moment lang mit den Fingern darauf herum. »Aber ich denke, es gibt da jemanden, der Ihnen die Lage besser schildern kann als ich und dem Sie wahrscheinlich auch mehr Vertrauen entgegenbringen, als Sie es mir gegenüber tun.« Mit einer Kunstpause versuchte er herauszufinden, welche Wirkung seine Worte auf sein Gegenüber auszulösen vermochten. Als er keine Reaktion feststellen konnte, seufzte er und fuhr fort: »Herr Carbotti ist soeben in der Klinik eingetroffen. Er hat darauf bestanden, dass wir ihn sofort verständigen, wenn Sie wieder aufgewacht sind.«

»Papa Carbonara ist hier?« Lars’ Gesicht hellte sich auf. »Der kommt mich bestimmt abholen. Auf den Signor ist eben Verlass!«

Doktor Fleischhauer runzelte die Stirn.

»Soweit ich verstanden habe, ist Herr Carbotti Ihr Manager. Ihre Beziehung scheint aber weit über ein normales Arbeitsverhältnis hinaus zu gehen.«

Lars war aufgesprungen. »Das sehen Sie völlig richtig, Doktor. Er ist so was wie mein Kindermädchen. Ohne ihn bin ich manchmal komplett aufgeschmissen.« Dann verflog plötzlich seine Aufregung, und mit einem Anflug von Zärtlichkeit fügt er hinzu: »Und er ist ein sehr guter Freund. Mein einziger Freund.«

Der wehmütige Unterton in Larsʼ Stimme berührte den Arzt auf merkwürdige Weise. Doch bevor er etwas sagen konnte, war dieser spezielle Moment bereits wieder entschwunden, die Stimmung gekippt. Lars fuhr ungeduldig fort:

»Wann kann ich Ihn sehen?«

»Setzten Sie sich doch bitte wieder, Herr van Loon.« Fleischhauers Stimme war ruhig, aber bestimmt. »Schwester Hanife wird Sie abholen und in Ihr Zimmer führen. Ihr Manager wartet dort auf Sie.«

»Niemals!« Völlig aufgedreht tänzelte Lars vor dem Arzt auf und ab. »Ich gehe nicht zurück zu diesem Engelbild. Ich kann Engel nicht ausstehen – und diese Klee-Zeichnungen erst recht nicht!«

Fleischhauer schüttelte verwirrt den Kopf und machte mit den Händen eine beruhigende Geste.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Aber ich kann Sie insofern beruhigen, als dass wir Sie nicht auf die Station zurückbringen. Es besteht kein Grund mehr zur Sorge und zur Beobachtung. So haben wir ein hübsches Zimmer für Sie ausgesucht. Sie werden sich sehr wohl darin fühlen.«

Lars stützte sich mit beiden Armen auf die Stuhllehne. »Ich fürchte ebenfalls, dass Sie nicht ganz verstehen. Papa Carbonara kommt mich abholen. Ich gehe wieder nach Hause. Jetzt gleich. Daran können auch Sie mich nicht hindern!«

»Ich halte das nicht für eine gute Idee.« Der Arzt lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere. »Ich denke, es ist das Beste, wenn Sie einmal ungestört mit Ihrem Manager sprechen. Danach können wir weiterschauen.«

In dem Moment klopfte es an die Türe, und Schwester Hanife erschien im Türspalt. Lars erkannte von weitem die gewaltige Warze in ihrem Gesicht.

»Bin ich zu früh?«

»Sie kommen genau richtig, Frau Turan.« Doktor Fleischhauer war aufgestanden und machte einen Schritt Richtung Tür. »Herr van Loon und ich haben sehr ausführlich miteinander gesprochen. Ich denke, er braucht jetzt Ruhe. Er wird ziemlich erschöpft sein.«

»Bin ich nicht!«, widersprach Lars energisch.

»Bringen Sie ihn auf sein Zimmer.« Der Arzt schob Lars’ Einwand beiseite. »Ist Herr Carbotti bereits dort?«

»Alles, wie Sie es gewünscht haben.« Die Schwester nickte.

»Bitte achten Sie darauf, dass er nicht zu lange bei unserem Patienten bleibt. Wie bereits gesagt: Herr van Loon braucht nun Ruhe und Erholung.«

»Werde ich eigentlich auch mal um meine Meinung gefragt?« Lars hatte seinen Protest energisch vorbringen wollen, doch er merkte selbst, wie matt er klang.

Schwester Hanife trat neben ihn und nickte ihm aufmunternd zu.

»Kommen Sie, Herr van Loon. Wir wollen Ihren Besuch doch nicht warten lassen.«

Fasziniert und zugleich voller Abscheu starrte Lars auf die Warze. Am liebsten hätte er der Schwester ins Gesicht gegriffen und über die dunkle Erhebung gestrichen. Er wollte sie berühren, fühlen, an ihr drehen und sie damit wie eine Schraube aus der Wange entfernen.

»Herr van Loon?« Schwester Hanife hob ihre Stimme etwas an. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Wollen wir dann gehen?«

Lars merkte, wie seine Finger sich in die Stuhllehne gekrallt hatten. Er entspannte sich, bedachte Doktor Fleischhauer mit einem fragenden Blick, den dieser mit einem aufmunternden Zunicken erwiderte, und schloss sich schließlich der Schwester an.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, hörte er die Stimme des Arztes im Rücken. »Wir sehen uns morgen, dann können wir weiterreden.«

Lars war zu erschöpft, um Widerspruch zu leisten. Die Energie, die sich während seiner Erzählung in ihm aufgestaut hatte, war verflogen, und er fühlte sich enorm müde.

Einmal darüber schlafen, dachte er sich. Morgen sieht alles besser aus.

Mit einem tiefen Seufzer ließ er die Stuhllehne los und dehnte den Rücken. Sein Blick schweifte nochmals durch das Büro, als ob es gelte, für immer Abschied zu nehmen. Dann nickte er dem Arzt zu und schloss sich ohne ein weiteres Wort Schwester Hanife an, die ihn mit einem aufmunternden Lächeln in Empfang nahm.

Es ging zurück, zunächst erneut durch einen langen Korridor, der Lars unendlich und fremd vorkam. Waren sie auf dem gleichen Weg zu Doktor Fleischhauer gekommen? Die eingebauten Spotlampen, die von der hohen Decke hinunterstrahlten, warfen lange Schatten auf den Fußboden, und Lars beobachtete fasziniert, wie diese sich veränderten, sich trennten und neue Figuren auf das Linoleum warfen. Das Schauspiel lenkte ihn völlig ab, und er merkte gar nicht, wie er immer langsamer wurde und aufmerksam den Boden betrachtete. Erst als Schwester Hanifes Stimme zu ihm durchdrang, die ihn geduldig zum Weitergehen aufforderte, tauchte er wieder in der Wirklichkeit auf und beschleunigte seine Schritte.

Ein Lift brachte die beiden schließlich in die zweite Etage, in welcher sehr gedämpftes Licht vorherrschte und wo der Korridor mit einem schweren Teppich ausgelegt war, sodass sich Lars eher in einem Hotel wähnte als in einer Klinik.

»Sehr edel hier«, murmelte er und erntete dafür einen strahlenden Blick von Schwester Hanife.

»Gefällt es Ihnen, Herr van Loon? Es ist uns ein vordringliches Anliegen, dass unsere Gäste sich wohl fühlen bei uns und die nötige Entspannung finden, um sich restlos zu erholen.«

»Ihre Gäste?« Lars war stehengeblieben und musterte die Schwester belustigt. »Sehr nobel ausgedrückt für ein paar Irre in der Klapse.« Ein glucksendes Lachen ertönte, und er drehte sich mit ausgestreckten Armen einmal um die eigene Achse. »Aber man kann’s natürlich auch so betrachten. Allerdings bin ich der Meinung, dass ein Gast den Zeitpunkt seines Abschieds immer noch selber bestimmen kann, oder etwa nicht?«

Schwester Hanife zupfte nervös an ihrem Kittel. »Wollen wir nicht weitergehen, Herr van Loon? Da vorne links befindet sich Ihr Zimmer, und dort wartet Ihr Besuch auf Sie. Sie erinnern sich?«

Lars’ Gesicht hellte sich auf. »Papa Carbonara, aber natürlich. Wir wollen ihn nicht länger warten lassen.«

Nach wenigen Metern blieb die Schwester stehen, öffnete die Tür und ließ Lars eintreten. Mit großen Augen musterte dieser die noble und geschmackvolle Einrichtung der Suite. Er stand in einem Wohnzimmer mit dunklem Parkett sowie hellen und modernen Möbeln. Ein gemütliches Ledersofa, ein Beistelltisch mit einer gläsernen Platte, auf der sich eine Schale mit frischen Früchten befand. Außerdem ein Schreibtisch vor dem Fenster, von dem aus man bestimmt einen wundervollen Ausblick haben würde, wenn sich draußen nicht bereits die Dunkelheit über die Landschaft gelegt hätte. Links befand sich eine Tür zum Bad und rechts gelangte man in einen weiteren Raum, das Schlafzimmer, in welchem Sergio Carbotti auf dem riesigen Bett saß und die Härte der Matratze zu prüfen schien.

Als er Lars erblickte, erhob er sich ächzend und klatschte erfreut in die Hände. Sein Jackett hatte er ausgezogen und aufs Bett gelegt. Unter den Achseln seines blauen Hemdes, das seinen mächtigen Bauch fast nicht zu bedecken vermochte, waren dunkle Flecken zu sehen. Er stopfte die Zipfel in seine Hose, trat auf Lars zu und packte ihn an den Oberarmen. Mit kritischem Blick musterte er das Gesicht des Musikers und nickte ihm zufrieden zu.

»Du siehst deutlich besser aus als letzte Nacht. Wie fühlst du dich?«

Lars drehte sich um und bedachte Schwester Hanife, die im Türrahmen zum Schlafzimmer stehengeblieben war, mit einem vorwurfsvollen Blick. Diese verstand die stille Aufforderung, räusperte sich und ließ verlauten:

»Meine Herren, bitte denken Sie daran: Nicht zu lange. Unser Patient braucht viel Ruhe.«

»Ach, jetzt bin ich plötzlich kein Gast mehr?«, spottete Lars, doch die Schwester war bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden, und er hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer leise zugezogen wurde.

Lars musterte seinen Manager ohne ein Wort, bis dieser schließlich seine Oberarme losließ und verlegen nach den richtigen Worten zu suchen schien.

»Schön hast du’s hier, das muss ich sagen«, meinte er nach langen Momenten der Stille, um dem Schweigen endlich ein Ende zu bereiten. »Schön, schön.«

»Kein Vergleich mit den schäbigen Hotelzimmern, die du mir jeweils für meine Konzerte besorgst, nicht wahr?«, knurrte Lars und setzte sich aufs Bett.

Carbotti trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Maestro, es war unumgänglich, dich hierher zu bringen. Die Polizei hätte dich wahrscheinlich woanders hingebracht, wenn ich nicht kurzfristig meine Beziehungen hätte spielen lassen. Die Klinik Langenegg ist die beste Adresse in der Stadt, und es ist wahrlich ein Wunder, dass Doktor Fleischhauer so spontan bereit gewesen ist ...«

»Ach, schweig doch«, unterbrach Lars die Wortflut, die aus dem Mund seines Managers zu sprudeln begonnen hatte. »Es ist mir scheißegal, in welchem Nobelschuppen ich hier gelandet bin. Schlussendlich ist es eine Klapse, e basta.«

Hoffnungsvoll strahlte Sergio Carbotti den Musiker an. Es war immer ein gutes Zeichen, wenn dieser zum italienischen Vokabular griff, da er damit seinen Manager regelmäßig neckte. Lars wollte allerdings das Lächeln nicht erwidern, sondern ließ sich nach hinten fallen und streckte sich auf dem Bett aus.

»Nun komm schon, Carbonara. Ich bin gespannt wie ein Pfeilbogen. Dieser Doktor Meatball wollte mich nicht darüber aufklären, weshalb ich hier bin und hat mich nobel an dich verwiesen. Also los, ich warte auf deine Erklärung.«

»Allora.« Carbotti dehnte das Wort wie ein Gummiband und suchte nach einer Sitzgelegenheit. Er wuchtete sich stöhnend in einen Lederfauteuil, der neben dem mächtigen Holzschrank stand. Lars hatte sich mittlerweile wieder aufgesetzt und deutete mit kreisenden Handbewegungen seine Ungeduld an.

»Du erinnerst dich an gar nichts, Maestro?«

»Keine rhetorischen Fragen, Signor Carbonara. Meine letzte Erinnerung ist eine Orchesterprobe, die nicht so gut gelaufen ist. Irgendein Impressionistenscheiß.«

Carbottis Miene hellte sich auf. »Richtig, mein Lieber. Deine Probe im Kultur Casino gestern Morgen. Ravel. Daphnis et Chloé. Du warst etwas ausfallend, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Also doch ein Konzert.« Lars schlug mit der Faust in die Handfläche. »Ich hab’s diesem Fleischmeister doch gesagt. Man braucht mich. Wir müssen sofort hier raus, Carbonara. Wann findet die Aufführung statt?«

»Übermorgen, aber ohne dich, Maestro. Ich habe deinen Auftritt abgesagt. Man wird einen Ersatz finden.«

»Du hast was?« Lars sprang auf und tigerte aufgeregt im Raum umher. »Das geht überhaupt nicht. Das muss unbedingt rückgängig gemacht werden. Ich brauche die Partitur. Die nächste Probe muss vorbereitet werden.«

Carbotti spreizte die Hände und legte die Fingerkuppen aneinander. Seine Hamsterbacken zitterten aufgeregt, und er überlegte sich sorgfältig seine Worte.

»Du wirst dieses Konzert nicht leiten, Maestro. Und ich habe auch deine nächsten Auftritte in Stuttgart und Düsseldorf abgesagt.«

Lars war stehengeblieben und starrte seinen Manager mit offenem Mund an. »Aber wieso denn?«, flüsterte er. »Ich muss doch auftreten. Ich kann doch mein Publikum nicht enttäuschen.« Und dann steigerte sich seine Fassungslosigkeit in eine überbordende Wut, mit jedem Wort wurde er lauter. »Sind wir hier eigentlich im Kindergarten? Wer gibt dir das Recht, mich so zu bevormunden? Ich will auftreten! Ich. Will. Musik. Machen!«

Er packte eine Vase mit hübschem Blumenarrangement, die auf dem Sideboard stand, und hob sie hoch. Kurz bevor er sie auf den Boden schmettern wollte, hielt er inne, als er feststellte, dass sein Wutanfall keinerlei Wirkung auf Sergio Carbotti zeigte.

»Komm schon«, sagte dieser mit ruhiger Stimme. »Schmeiß sie hin. Mache dort weiter, wo du gestern aufgehört hast. Das beweist, dass du zu Recht hier bist.«

Lars zitterte am ganzen Körper, doch er fand zu seiner Beherrschung zurück und stellte die Vase wieder auf das Board. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, sie war schweißnass. Kraftlos ließ er sich aufs Bett sinken und vergrub den Kopf in seinen Händen.

»Was habe ich denn bloß getan, Papa Carbonara? Ich erinnere mich nicht. Ich habe keine Idee, was gestern Abend passiert sein soll.«

»Du hast genau das getan, was du soeben vorgehabt hast. Aber gestern hat dich niemand an der Ausführung gehindert. Dein Haus gleicht einem Schlachtfeld. Du hast die Einrichtung Stück für Stück in ihre Einzelteile zerlegt. Ich hoffe, dass wenigstens das Arbeitszimmer von deiner Zerstörungswut verschont geblieben ist. Das war nämlich wie immer abgeschlossen.«

Lars starrte seinen Freund entsetzt an. Alles um ihn herum begann sich zu drehen. Kleine Erinnerungsfetzen schlugen wie Blitze in seinem Kopf ein, verschwanden aber ebenso rasch wieder, bevor er sie festhalten konnte. Er hörte das Krachen des Holzes, seine wilden Schreie – und da war auch Musik. Furchtbare Musik.

Und plötzlich war alles wieder weg. Die Bilder, die akustischen Eindrücke – zurück blieb nur eine Stille, die sich über den Raum gelegt hatte und die laut vibrierend in seinen Ohren dröhnte.

Lars war blass geworden und wühlte hilflos durchs dichte Haar. Seine Stimme war tonlos.

»Warum habe ich das denn bloß getan?«

»Tja. Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten, Maestro.« Carbotti schürzte die Lippen. »Ich denke, das wird das Thema sein, welches du mit Doktor Fleischhauer bearbeiten wirst. Die Zulligers von nebenan wurden durch den Lärm auf deine Aktivität aufmerksam und haben die Polizei verständigt. Glücklicherweise hatten sie meine Telefonnummer und haben auch mich angerufen. So konnte ich kurzfristig bewirken, dass man dich hierher gebracht hat.«

Das Ehepaar Zulliger, reizende und freundliche Menschen, beide knapp über siebzig Jahre alt, waren Lars’ Nachbarn. Beide waren sehr interessiert an Kultur, vor allem an klassischer Musik, und ließen keine Gelegenheit aus, um von ihrem prominenten Nachbarn einen Einblick ins Showbusiness zu erhaschen. Lars ging ihnen aus dem Weg, wo er nur konnte, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, so fütterte er sie mit ein paar kurzen Anekdoten, um sie zufrieden zu stellen.

»Das heißt also, dass ich wegen diesen alten Säcken hier in der Klapse bin?«

»Das heißt, dass die beiden das Richtige getan haben, um dich vor dir selbst zu schützen. Ich werde ihnen morgen mit einer Schachtel Konfekt oder Pralinen einen Besuch abstatten und mich dafür bedanken.«

Lars wollte bereits wieder einen energischen Einwand vorbringen, als er einhielt und nachdachte. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren und er versuchte, die richtigen Puzzleteile zusammenzusetzen.

Er erhob sich vom Bett und blieb vor seinem Manager stehen, der unbewusst seinen massigen Körper etwas nach hinten lehnte, um zwischen ihm und seinem Gegenüber die notwendige Distanz aufzubringen. Dies war allerdings zwecklos. Lars beugte sich zu ihm hinunter und tippte mit seinem Zeigefinger gegen Carbottis Brust.

»Weshalb hast du überhaupt den Zulligers deine Nummer gegeben? Ich denke nicht, dass du dich mit ihnen auf ein Kaffeekränzchen verabreden wolltest.«

Für Sergio Carbotti wurde die Nähe des Musikers unerträglich, und er stieß ihn sanft beiseite, um sich selbst aus dem Sessel erheben zu können. Erneut strich er sein Hemd glatt und steckte die Zipfel in die Hose.

»Na ja, Maestro. Ich habe mir einfach Sorgen gemacht und mir gedacht, dass es nicht schaden würde, wenn deine Nachbarn mich als Kontaktperson kennen und in Notfall kontaktieren könnten. Und das haben sie ja auch gemacht. Ich bin sehr froh darüber.«

»Du hast dir Sorgen gemacht? Um mich?«

»Maestro!« Carbotti verschränkte vorwurfsvoll seine Arme. »Du wirst nicht abstreiten können, dass ich dich schon mehrmals auf deinen Zustand hingewiesen habe. Er hat sich in den letzten Monaten deutlich verschlechtert. Du wirkst fahrig, unkonzentriert und abwesend. Außerdem kann ich dich häufig nicht erreichen, weil du dein Handy abgeschaltet hast oder der Akku leer ist. Zudem muss ich dir wohl die vier abgesagten Konzerte vom letzten Jahr nicht in Erinnerung rufen.«

»Ach die!« Lars winkte ab. »Da habe ich mich nicht so gut gefühlt. Kann ja mal vorkommen. Der Stress und so. Du weißt ja, wie das so ist ...«

»Nein, mein Lieber, das weiß ich nicht.« Nun hatte Carbottis Stimme einen energischen Unterton erhalten, sodass Lars etwas erschrocken zusammenzuckte. Der Manager holte tief Luft und setzte zu einer Brandrede an: »Ich passe die Termine sehr genau deinen Bedürfnissen an, so wie wir das abgesprochen haben. Kein großer Stress, höchstens zwei Auftritte pro Monat und, wenn es möglich ist, keine langen Reisezeiten. Du hast genug Erholung, so wie du das haben willst. Die Nachfrage nach dir ist enorm, ich kann nur etwa jede fünfte berücksichtigen, und die Warteliste von Interessenten wird immer länger. Ich bedränge dich aber nicht, halte mich an die Abmachungen und vertröste die Agenturen auf Jahre hinaus. Ich stelle mich immer vor dich, halte dir den Rücken frei, mache das Spiel mit den Medien mit und richte dich nach einer deiner depressiven Phasen wieder auf – ob du was reingeworfen hast oder nicht, das will ich jeweils gar nicht wissen.« Er blickte in Lars’ wässerige Augen, die ihm matt entgegenschimmerten und beinahe zufielen. »Kurzum, Maestro. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du zur Ruhe kommst und herausfindest, was mit dir nicht stimmt. Die Lage ist ernst, Maestro!«

Lars ließ das verbale Donnerwetter über sich ergehen und nickte dann seinem Manager zu. Er war unendlich müde; es war, als ob die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben wären und eine unheimliche Kraft auf ihn einwirken würde, die ihn hinunterzog, tief hinunter, in einen dunklen Sog, der ihn bedrohlich zu verschlucken drohte. Er setzte sich aufs Bett und verkündete mit matter Stimme:

»Du hast natürlich recht. Aber ich mag mich nicht mehr weiter unterhalten. Ich glaube, ich muss mich mal ein wenig ausruhen. Können wir morgen weiterreden?«

Und damit schlüpfte er aus den Schuhen und legte seinen Kopf mit einem lauten Seufzer auf das weiche Kissen, ohne auch nur ein Kleidungsstück auszuziehen, faltete die Hände auf der Brust und schloss die Augen.

Sergio Carbotti fühlte sich vom abrupten Zubettgehen des Musikers etwas überrumpelt, murmelte ein leises »Gute Nacht« und zog sein Jackett unter Lars’ Füssen hervor, die dieser ungeniert auf das gute Stück gelegt hatte. Er schwang es über die Schultern und verließ auf leisen Sohlen das Schlafzimmer. Im Türrahmen drehte er sich nochmals um und warf einen Blick zurück, mit der Absicht, die besten Genesungswünsche nachzureichen. Doch als er das leise Schnarchen aus dem Bett vernahm, wusste er, dass diese ungehört bleiben würden.

Lars van Loon war bereits eingeschlafen.

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