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Zweifel

Februar 2017

Das Unerreichbare liegt unmittelbar auf der nächsten Stufe.

Mit solchen, zum Teil provozierenden Maximen hatte sich Lars van Loon, der bekannte Pianist und Dirigent, einen Namen gemacht – weit über den kleinen Kreis von Liebhabern klassischer Musik hinaus. Er liebte es, mit solchen Aussagen herauszufordern und seine Zuhörer zum Nachdenken anzuregen. Mit seinem quirligen und rastlosen Wesen ließ er ihnen aber gar nicht viel Zeit, um sich mit seinen Äußerungen auseinanderzusetzen und darüber zu reflektieren.

Am liebsten stapfte er während seinen Betrachtungen von einer Ecke in die andere, klatschte dabei in die Hände oder hatte sie hinter dem Rücken verschränkt, und spann seine Gedanken weiter, führte aus, worüber die anderen noch im Begriff waren, sich den Kopf zu zerbrechen, stets mindestens zwei Züge voraus:

»Doch wie gelangen wir bloß auf die nächste Stufe – und ist es überhaupt wünschenswert, sie zu erklimmen? Sollte das Unerreichbare für uns nicht immer in weiter Ferne liegen? Erstrebenswert, sich daran anzunähern? Vielleicht, gewiss sogar, und jeder Schritt, mit dem man ihm näherkommt, ist mit Freude und Genugtuung begleitet. Aber eben auch immer mit der Gewissheit im Hinterkopf, dass man die Distanz stets nur halbieren kann.«

Wenn er dann in die verblüfften Gesichter seiner meistens nicht mehr ganz nüchternen Zuhörer blickte und darin ihre Überforderung beinahe ablesen konnte, so brach er in schallendes Lachen aus, schlug sich auf die Oberschenkel und griff nach einem weiteren alkoholischen Getränk. Am liebsten war ihm ein Gin Tonic, den er sich vorzugsweise mit einer in frischem Pfeffer eingelegten Gurkenscheibe servieren ließ, und böse Zungen behaupteten, dass ihm dabei der Anti-Aging-Effekt, welcher dem kalorienarmen Getränk nachgesagt wurde, ebenso wichtig sei wie das genussvolle Trinken.

Lars van Loon verstand es vortrefflich, seine Zuhörerschaft mit provozierenden Aussagen, schrägen Anekdoten und skurrilen Geschichten zu unterhalten und wurde nicht müde, immer wieder von Neuem weitere Episoden aus seinem reichen Erfahrungsschatz hervorzuzaubern, die richtiggehend aus ihm heraussprudelten. Und wenn er in seiner wilden Fabulierlust keinen passenden Anschluss fand, so liebte er es, Herrmann Hesse zu zitieren – irgendeine Stelle aus dessen Gedichten oder Prosawerken, die Lars van Loon scheinbar alle auswendig aufsagen konnte und von denen er immer ein passendes Zitat zur Hand hatte:

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Und dann war es aber auch möglich, dass seine Stimmung von einer Sekunde zur anderen komplett kippen konnte; wo vorher noch Lachfalten in seinen Augenwinkeln gesessen hatten, übernahmen strenge, ernste Züge plötzlich die Oberhand, und wie aus dem Nichts, völlig zusammenhangslos, meinte er zum Beispiel:

»Dort, wo ich herkomme, kann man den Menschen keine größere Freude bereiten, als wenn man scheitert!«

Dann war es vorbei mit seiner Ruhelosigkeit, und man hatte das Gefühl, eine völlig andere Person vor sich zu haben. Verschwunden war der Derwisch, der noch vor wenigen Augenblicken alle Anwesenden bestens unterhalten hatte – auf hohem und anspruchsvollem Niveau notabene. Zurück blieb ein kleiner, feingliedriger Mann, der plötzlich enorm zerbrechlich wirkte, und dem man die Energie, die er zuvor noch versprüht hatte, nicht im Entferntesten zusprechen würde.

Die dunklen, dichten Haarlocken, die sein schmales Gesicht säumten und ihm zuvor wild um den Kopf geflogen waren, fielen nun schlaff in die Stirn und bildeten eine Art Vorhang, sodass sich seine Augen, aus denen das aufgeregte und elektrisierende Leuchten völlig verschwunden war, dahinter verbargen.

Die Worte, die wohlmoduliert und in einem überbordenden Tempo aus seinem Mund geströmt waren, wurden plötzlich leise und eintönig und waren durchtrieft von einer stumpfen Traurigkeit. Seine ohnehin stets etwas gebückte Haltung wurde dabei noch ausgeprägter, und man musste sehr gut hinhören und aufmerksam seinen Ausführungen lauschen, um ihn überhaupt noch zu verstehen.

Wer Lars gut kannte, der wusste, dass es in diesem Zustand zwei Möglichkeiten gab, wie der weitere Verlauf des Beisammenseins verlaufen sollte: Entweder kippte die Stimmung plötzlich wieder auf die andere Seite (und er würde noch quirliger und aufgedrehter seine Anekdoten aus dem Hut zaubern) oder es würde nicht mehr lange dauern, bis der Maestro den Anlass verlassen würde – aber nicht bevor er mindestens noch zwei Gin Tonic runtergestürzt hatte, was bei ihm sehr selten viel Zeit in Anspruch nahm.

Seine schwankende Gefühlsverfassung war bekannt und wurde auch meistens toleriert, der Künstlerbonus war dabei sehr hilfreich. Gelegentlich wurden ein paar höhnische Stimmen laut, die Lars van Loon sämtlichen Anstand absprachen und seine Auftritte scharf verurteilten, doch das störte ihn selber am allerwenigsten.

»Man kann’s nicht allen recht machen!«, war einer seiner Leitsätze, und um die Meinungen anderer kümmerte er sich in der Regel keinen Deut. Kritik prallte an ihm ab, auch positive Rückmeldungen ignorierte er weitgehend. Die einzige Stimme, auf die er hörte und auch Wert legte (neben seiner eigenen, selbstverständlich), war diejenige seines Managers und Freundes Sergio Carbotti, den Lars liebevoll Signor Carbonara nannte. Ein sehr nachvollziehbarer Spitzname, da der Italiener gefühlte zweihundert Kilogramm wog und Pastagerichte sowie sahnige Saucen über alles liebte – dementsprechend mächtig war sein Bauchumfang.

Obwohl den fülligen, liebenswerten Mittfünfziger beinahe nichts aus der Ruhe bringen konnte, hielt ihn Lars mit seinem fahrigen und flatterhaften Wesen ständig auf Trab und schaffte es immer wieder, dass dieser das Kreuz schlug und ein Stoßgebet gegen den Himmel sandte.

»Oddio! Salva questa povera anima!«

»Der da oben kann dir nicht helfen, Signor Carbonara«, wies ihn Lars in solchen Moment schalkhaft zurecht. »Du musst das Problem schon selber in die Hand nehmen.«

»Welch frevelhafte Worte, mio figlio«, flüsterte Sergio darauf ehrfürchtig, zog den Kopf ein und schlug erneut das Kreuz. »Auf Gott können wir uns immer verlassen. Du solltest ihm etwas mehr Respekt entgegenbringen!«

»Ach, Papa Carbonara, du weißt, ich hab’s nicht so mit der Religion. So häufig, wie du betest, das reicht locker für uns beide.«

In der Tat schloss Sergio Carbotti Lars van Loon nicht nur in seine Gebete ein, manchmal, wenn sein Schützling einmal mehr kopflos durch die Welt irrte, hatte er auch das Gefühl, für beide denken zu müssen. Auf der anderen Seite hatte er aber absolut nichts dagegen, wenn er für beide essen durfte – was nicht selten vorkam, wenn bei Lars nämlich der Hunger plötzlich verflogen war und er von seinem Teller fast gar nichts anrührte.

Sergio führte sorgfältig Lars’ Agenda, koordinierte Konzerte, Proben und Termin, arrangierte die Reisen und war ständig bemüht, über den aktuellen Aufenthaltsort des Musikers informiert zu sein, um ihn jeweils pünktlich an den richtigen Ort zu leiten. Eine Sisyphusarbeit, da dieser den Akku seines Handys ständig aufzuladen vergaß, wenn er in die Welt der Musik versank, und somit für seinen Manager nicht zu erreichen war.

Manchmal wusste Lars van Loon in seinen geistigen Verwirrungen selber gar nicht genau, wo er sich eigentlich befand.

So auch an diesem Morgen.

Das Erste, was Lars beim Öffnen seiner Augen wahrnahm, hing an der weiß getünchten Wand gegenüber und war eine lineare Engelszeichnung von Paul Klee. Außerdem wurde er von den Sonnenstrahlen, die auf seinem Gesicht herumtänzelten, empfindlich geblendet, sodass er den Kopf ins Kissen zurücksinken ließ und mit stark zitternden Händen vor den Augen sämtliche optischen Sinneseindrücke wieder von seinem Bewusstsein aussperrte.

Dann wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich eigentlich befand, und gleichzeitig war er erstaunt über seine rasche Auffassungsgabe, mit der er das Bild, das nur aus wenigen Linien bestand und eigentlich den Charakter einer Skizze hatte, erkennen und dessen Urheber eindeutig zuordnen konnte.

Er spreizte seine Finger ein wenig und blinzelte mit halb geschlossenen Lidern nervös durch die daraus entstandenen Zwischenräume. Da hing immer noch der Engel an der Wand, und Lars erinnerte sich, dass er Klees Bilderserie nie gemocht und sie als Kinderzeichnungen verschrien hatte. Außerdem hasste er Engel!

Die Sonne schien immer noch unerbittlich in den Raum und hatte sich als Zielscheibe zweifelsohne sein Gesicht ausgesucht.

Das musste geändert werden – Jalousie runter, Engel weg!

Lars wollte sich aus dem Bett erheben, doch es gelang ihm nicht. Verwundert betrachtete er seine Bettdecke und stellte fest, dass sie mit der Matratze verbunden und dass darin, längs über seinen Körper, ein Reißverschluss angebracht war, sodass er am Aufstehen gehindert wurde. Durch zwei Öffnungen waren seine Arme nach draußen gelangt, doch dem Rest des Körpers blieb die Freiheit verwehrt. Die Einrichtung erinnerte ihn stark an eine Zwangsjacke, und er versuchte verzweifelt, den Reißverschluss nach unten zu ziehen. Ohne Erfolg. Es gelang ihm nicht, den kleinen Schlitten mit Daumen und Zeigfinger zu ergreifen; seine Hand zitterte zu stark.

Jetzt erst sah er sich etwas genauer in dem Raum um, in dem er aufgewacht war und in dem er sich seines Wissens nach noch nie zuvor aufgehalten hatte. Er erinnerte ihn stark an ein Krankenzimmer, allerdings fehlten die dazu notwendigen Apparaturen. Aber zum Bettgestell, er drehte seinen Kopf verzweifelt nach links und rechts, gehörte ein zaunartiges Gebilde, über welches er klettern müsste, wenn er aus dem Bett steigen wollte.

Er hob seinen Oberkörper, soweit es ging, und versuchte erneut mit verzweifelter Kraft, sich zu befreien. Seine Aufregung war zu groß, um sich des feinen Reißverschlusses wieder anzunehmen, und so krallte er seine Finger in die Decke hinein und versuchte mit aller Kraft, sie entzwei zu reißen.

Auch dieser Versuch misslang.

Er betrachtete das schlichte Nachttischchen aus weißem Holzfurnier, das von ihm aus gesehen rechts vom Bett stand. Doch außer einer Leselampe und einem Plastikbecher, der wahrscheinlich mit Wasser gefüllt war, befand sich nichts auf der matt schimmernden Tischfläche.

Er ließ sich ins Bett zurücksinken und blickte zur Decke. Wo war er bloß? Und dann tauchte noch eine zweite Frage auf, über die er bisher völlig hinweggesehen hatte: Wie war er hierhergekommen? Er kramte in seinem Gedächtnis nach den letzten Erinnerungen. Da war eine Orchesterprobe gewesen. Ravel oder Debussy – etwas Impressionistisches auf jeden Fall. Und die Musiker waren zu wenig auf seine Ideen eingestiegen. Daran vermochte er sich zu erinnern, denn er war ziemlich aufgebracht gewesen und hatte ihnen mit klaren und deutlichen Worten zu verstehen gegeben, was er von ihrer Leistungsbereitschaft hielt.

Aber war das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihm vor, als ob diese Probe viel länger her wäre. An etwas anderes vermochte er sich jedoch im Moment nicht zu erinnern.

Erneut fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Wand, und nun hatte er den Eindruck, dass der Engel ihn mit mitleidiger Miene auslachte. Die wenigen Linien waren in Bewegung geraten, sodass die Figur plötzlich animiert wirkte. So schlicht und einfach sie dargestellt war, plötzlich vermochte sie ganz einfache Gefühle auszudrücken. Lars kniff die Augen zusammen und versuchte, seinen Blick zu schärfen. Das bildete er sich doch bloß ein!

Er fühlte, wie er von einer ohnmächtigen Wut übermannt wurde, die bei ihm ungeheure Kraftreserven mobilisierte. Laut schreiend zerrte er an der Bettdecke, wälzte seinen Körper zur Seite, zog die Beine an, so gut es ging, und versuchte, sich irgendwie aus seiner Gefangenschaft zu befreien.

Keine Chance.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Hilferufe zu intensivieren und zu hoffen, dass sie irgendwo auf Gehör stoßen würden. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Tür mit einer ruckartigen Bewegung aufgestoßen wurde und eine kleine, stark untersetzte und kräftig wirkende Frau in einer weißen Jacke eintrat und ihn mit stechendem Blicken musterte.

Lars war von der Erscheinung so überrascht, dass er das Schreien komplett vergaß und sich wieder ins Kissen zurücksinken ließ. Die Frau näherte sich dem Bett mit energischen Schritten und blieb daneben stehen. Ohne ein Wort griff sie nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls.

»Herr van Loon, wie geht es Ihnen?«

Er schaute in ein rundes, faltiges Gesicht und starrte wie hypnotisiert auf die gewaltige Warze, die sich auf der rechten Wange erhob und die der mächtigen und dicken Brille eine zusätzliche Stütze zu bieten schien. Die fleischigen Lippen, die knollige Nase und die dichten Augenbrauen ließen auf eine osmanische Abstammung schließen. Dann ging sein Blick nach unten, und er entdeckte auf Hüfthöhe einen Clip mit Schriftzug, doch die kleinen Buchstaben machten es ihm unmöglich, den Namen zu entziffern.

Die Frau legte mit einer beinahe zärtlichen Geste, die er ihr überhaupt nicht zugetraut hatte, seinen Arm wieder auf die Bettdecke zurück und nickte zufrieden.

»Es scheint Ihnen deutlich besser zu gehen als letzte Nacht, Herr van Loon. Ich bin Schwester Hanife.«

Im Nu hatte sie den Reißverschluss nach unten gezogen, die beiden Seitengitter nach unten geklappt, und ehe Lars es sich versah, hatte sie ihn mit sicherem Griff aufgesetzt und auf die Bettkante gezogen, sodass seine Beine hinabbaumelten.

Sie drückte ihm einen Becher mit Wasser in die Hand und reichte ihm dazu ein paar Tabletten. Er hatte immer noch kein Wort herausgebracht.

»Damit«, erklärte sie, »werden wir Ihren Kreislauf wieder etwas stabilisieren. Außerdem müssen Sie ja einen Höllendurst haben.«

Gehorsam schluckte er die Medikamente und leerte den Becher in einem Zug. Schwester Hanife füllte nochmals auf, und Lars trank auch die zweite Runde bis auf den letzten Tropfen leer.

»Wollen wir versuchen aufzustehen?« Behutsam legte sie ihre Arme um seinen Oberkörper und half ihm auf die Beine. Doch als sie ihn losließ und er einen Schritt vorwärts machen wollte, wurde ihm augenblicklich schwindlig, und er sank ohnmächtig aufs Bett zurück.

Als er die Augen wieder aufschlug, war es ihre große, dunkle Warze, die er zuerst erblickte und vor welcher er sich plötzlich zu ekeln begann.

»Das war etwas zu rasch, Herr van Loon. Ich schlage vor, dass wir es gleich nochmals versuchen.«

Lars hob abwehrend die Hände. Da war etwas, was Schwester Hanife vorhin gesagt hatte und das ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte. Doch es war für ihn zunächst nicht greifbar, und verzweifelt zermarterte er sich das Hirn nach ihrer Bemerkung. Dann erinnerte er sich plötzlich.

»Letzte Nacht.« Seine ersten Worte, die er an sie richtete. »Sie sprachen vorher von letzter Nacht. Was meinten Sie damit?«

»Naja.« Sie half ihm, sich wieder aufzusetzen. »Was genau geschehen ist, das wissen wohl nur Sie alleine. Sie werden bestimmt noch mit dem Doktor darüber sprechen. Eine Polizeistreife hat sie hierhergebracht, und ich kann Ihnen versichern, dass es zwei kräftige Pfleger gebraucht hat, um Sie einigermaßen in den Griff zu kriegen und ruhigzustellen.«

»Der Doktor?« Lars sah sich erneut im Zimmer um. »Wo bin ich denn hier überhaupt?«

»Ach so.« Schwester Hanife kratzte sich am Kinn und zum ersten Mal zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf ihrem strengen Gesicht. »Sie befinden sich in der Psychiatrischen Klinik Langenegg. Letzte Nacht, so um Mitternacht herum, wurden Sie hier eingeliefert und konnten mit Ach und Krach beruhigt werden. Sie haben gut und gerne mehr als zwölf Stunden geschlafen. Erinnern Sie sich denn an gar nichts mehr?«

Lars drehte den Kopf nachdenklich zur Seite und erblickte dabei wieder Klees Engelzeichnung. Die tiefstehende Sonne zwang ihn, die Augen zuzukneifen.

»Nein.« Blinzelnd schüttelte er den Kopf. »Ich weiß weder wie ich hierhin gekommen bin, noch was der Anlass dafür war. Ich bin einfach nur müde.« Er vernahm seine eigene Stimme wie durch eine Watteschicht. »Lassen Sie mich doch bitte wieder schlafen, Schwester Hanife.«

»Sie werden noch genug Zeit zur Erholung haben, Herr van Loon.« Hatte sich die Warze in ihrem Gesicht etwa gerade bewegt? »Aber der Doktor hat angeordnet, dass er sofort informiert werden will, wenn Sie aufwachen. Ich denke, dass er ein kurzes Eintrittsgespräch mit Ihnen geplant hat.«

»Ein Eintrittsgespräch?« Bevor die Pflegerin reagieren konnte, schoss Lars in die Höhe. »Was soll denn der ganze Quatsch?« Für einen kurzen Moment glaubte er, dass ihm wieder schwarz vor Augen werden würde. Doch schien sich sein Kreislauf beruhigt zu haben, und jetzt, als er stand, sah er an sich hinunter und stellte fest, dass er ein Krankenhaushemd trug. »Wo, zum Teufel, sind denn meine Kleider?«

Schwester Hanife drückte ihn wieder aufs Bett zurück und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Ganz ruhig, Herr van Loon. Der Doktor wird Ihnen alles erklären. Bitte warten Sie doch einen Moment. Ich bin gleich wieder zurück.«

Sie entfernte sich aus dem Zimmer, und Lars nutzte die Gelegenheit, um sich erneut zu erheben und das Bild mit dem Engel von der Wand zu nehmen.

»Herr van Loon! Was machen Sie denn da?«

Er hatte Schwester Hanife nicht eintreten hören und zuckte erschrocken zusammen, sodass ihm das Bild aus den Händen fiel und das Glas zerbrach.

»Ich mag keine Engel«, murmelte er und setzte sich trotzig wieder aufs Bett.

»Kommen Sie.« Sie reichte ihm eine Sporthose und einen Schlabberpullover. »Ziehen Sie das an. Der Doktor möchte Sie heute noch sehen.«

»Und wenn ich den Doktor nicht sehen will?« Trotzig verschränkte er die Arme und blickte sie angriffslustig an.

»Herr van Loon!« Ihre langsam aufsteigende Ungeduld war deutlich zu erkennen. »Wir sind doch alle hier, um Ihnen zu helfen. Ich bitte Sie. Sie möchten doch auch wissen, was geschehen ist und wie es weitergehen soll, oder etwa nicht?«

Über seine Zukunft war sich Lars eigentlich völlig im Klaren: Er wollte sofort raus hier und wieder nach Hause zurück. Doch die Neugier überwog tatsächlich, und so ergriff er willig die gereichten Kleidungsstücke.

»Ich warte draußen auf Sie.« Schwester Hanife nickte ihm aufmunternd zu, und ein paar Minuten später folgte er ihr durch einen langen Korridor. Schmale Fenster ganz oben an der rechten Wand sorgten für natürliches Licht, und gegenüber hingen in regelmäßigen Abständen Bilderrahmen, in denen sich rabenschwarze Exponate befanden.

Lars runzelte die Stirn, hielt kurz an und musterte die Kunstwerke. Er erkannte eine feine Struktur, und das Schwarz schien plötzlich Leben eingehaucht zu kriegen.

Schwester Hanife hatte bemerkt, dass er vor einem Bild angehalten hatte und blieb ihrerseits stehen. Nachdem sie ihm ein paar Augenblicke zur genauen Betrachtung gegönnt hatte, erklärte sie:

»Das sind Felle. Wahrscheinlich von schwarzen Rindern. Ziemlich eigenwilliger Künstler. Ein guter Freund des Doktors. Gehen wir weiter?«

Vor einer Tür blieb sie stehen, klopfte kurz an, öffnete sie und lud Lars mit einer einladenden Geste zum Eintreten ein.

»Ich hole Sie wieder ab, wenn der Doktor mit Ihnen fertig ist.« Bevor er etwas darauf erwidern konnte, hatte sie sich bereits umgedreht und eilte mit raschen und energischen Schritten den Korridor entlang.

Lars trat in ein mit hellem Fischgrätparkett ausgelegtes Zimmer, das sehr geschmackvoll eingerichtet war. Dominiert wurde es von einem mächtigen Schreibtisch aus geöltem Nussbaumholz, der sauber poliert im Licht der untergehenden Sonne schimmerte. Akkurat ausgerichtet, verloren sich darauf lediglich eine Schreibunterlage, ein zugeklapptes MacBook und eine Ablage mit ein paar wenigen Akten. Der teure Seidenperser vor dem Tisch wirkte wie ein roter Teppich, der dem Eintretenden die Richtung wies.

An der linken Wand türmte sich vom Boden bis zur Decke eine gewaltige Bibliothek, komplett vollgestopft, und auch hier waren die Bücher sorgfältig geordnet und exakt auf einer Linie ausgerichtet, als wären sie, mit dem Lineal ausgerichtet, in Reih und Glied aufgestellt worden.

Rechts, gegenüber des Bücherregals, stand ein dreistöckiges USM-Aktenmöbel an der Wand, das strahlte, als wäre es soeben angeliefert und zusammengesetzt worden.

Davor befand sich eine Besucherecke mit zwei Sitzgelegenheiten, die vom Rest des Raumes durch eine große Birkenfeige abgetrennt war.

Alles war blitzblank poliert, so als hätte vor wenigen Augenblicken die Putzfrau ihre Arbeit abgeschlossen. Dadurch wirkte der gesamte Raum aber auch etwas steril und unbewohnt. Lars fühlte sich beinahe wie in einem Museum, und trotz seiner Bewunderung für die Sauberkeit und Ordnung fühlte er sich etwas unwohl und wagte fast nicht, einen weiteren Schritt in diese Meister-Proper-Oase hinein zu machen.

Erst als er hinter der Pflanze eine Bewegung wahrnahm, realisierte er, dass er nicht alleine im Raum war. Ein Mann von mächtiger Körpergröße, Lars schätzte ihn auf mindestens zwei Meter, trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Seine elegante Kleidung passte zur stilvollen Einrichtung des Raumes. Zu teuren Markenjeans trug er ein frisch gestärktes Hemd und ein maßangefertigtes Sakko, das zweifellos das Etikett eines bekannten Modedesigners auf der Innenseite tragen musste. Die Schuhe wirkten schlicht, hatten aber bestimmt eine Stange Geld gekostet.

Das dunkle Haar war etwa auf die gleiche Länge geschnitten wie der sorgfältig getrimmte Dreitagebart, und hinter einer randlosen Brille (Lars war sich sicher, dass auch hier auf dem Bügel der Schriftzug eines bekannten Labels zu finden war) leuchtete ihm ein Ruhe ausstrahlendes Augenpaar entgegen.

»Herr van Loon, ich begrüße Sie herzlich hier bei uns in der Klinik Langenegg. Gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Bengt Fleischhauer.«

Zögerlich ergriff Lars die entgegengestreckte Hand und verzog für einen kurzen Moment das Gesicht wegen des starken Händedrucks des Arztes.

»Merkwürdiger Name«, stellte er fest und musterte den Hünen von Kopf bis Fuß. »Nomen est omen, nehme ich mal an.« Er konnte sich den imposanten Fleischhauer bildhaft vorstellen, an einem gedeckten Tisch sitzend und ein Steak um das andere lustvoll verzehrend.

»Ich bin Vegetarier«, entgegnete der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen. Die imaginäre Szene löste sich in Lars’ Vorstellung mit einem lauten Knall auf, und anstelle der Fleischstücke erschien ein Teller, vollgefüllt mit Rohkost.

»Sie sind Vegetarier!«, prustete Lars los und konnte sich kaum mehr zurückhalten. »Mein Gott, wie passend! Das ist ja wohl ein Witz.«

»Das ist es in der Tat«, meinte Fleischhauer, ohne auch nur das geringste Anzeichen eines Lächelns im Gesicht. »Aber Sie müssen zugeben: Seine Wirkung ist beeindruckend und lockert jegliche Anspannung im Nu auf.«

Lars blieb der Mund offenstehen, und er folgte mit den Augen seinem Gesprächspartner, der sich umgedreht hatte und um den mächtigen Schreibtisch herum zu seinem Bürosessel zu schritt. Er setzte sich geräuschlos hin, faltete seine Hände und stützte die Ellbogen auf die Schreibtischoberfläche.

Nachdem man sich gegenseitig ausführlich gemustert hatte, nahm Lars die gewaltige Bücherwand ins Visier und beäugte interessiert die Buchrücken. Die meisten Publikationen waren in englischer Sprache verfasst, die Autoren ihm gänzlich unbekannt. Am Ende eines Regals erkannte er ein paar Titel von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung und fragte in den Raum hinein, ohne sich von der Bibliothek umzudrehen:

»Sind Sie Freudianer?«

Als die Antwort ausblieb, wandte er den Kopf dem Arzt zu und nahm dessen anerkennendes Nicken wahr.

»Die Theorien von Freud sind eine wichtige Grundlage unserer Wissenschaft. Haben Sie etwas von ihm gelesen, Herr van Loon?«

Lars zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Ich kann mir nicht alles merken.«

»Dann werden seine Theorien Sie nicht besonders beeindruckt haben.« Doktor Fleischhauer saß immer noch in unveränderter Pose hinter seinem Schreibtisch. »Sonst würden Sie sich gewiss daran erinnern.«

»Wahrscheinlich«, brummte Lars und kratzte sich im Haar.

»Wollen wir uns nicht gemeinsam hinsetzen, Herr van Loon?« Der Arzt war aufgestanden und wies in die Besucherecke, wo zwei Freischwinger mit verchromtem Gestell und schwarzem Lederbezug in einer Distanz von etwa zwei Metern einander gegenüber aufgestellt waren. Er griff nach einem Klemmbrett aus Aluminium und begab sich an die vorgeschlagene Stelle. Vor seinem Stuhl blieb er stehen und wartete, bis Lars schließlich der Aufforderung Folge leistete und sich in penetrant langsamem Schlendergang der Sitzgelegenheit näherte. Er blieb allerdings vor dem Stuhl stehen, nachdem Fleischhauer sich mit lässig übereinander geschlagenen Beinen bereits hingesetzt hatte und schielte aufs Papier, das unter der Klammer befestigt war. Es war ein blankes, leeres Blatt, das ihm jungfräulich entgegenstrahlte.

Der Arzt deutete ihm mit einer Handbewegung an, doch auch Platz zu nehmen, und so ließ sich Lars seufzend auf das Leder sinken. Mit weit gespreizten Beinen testete er den Stuhl, indem er leicht hin und zurück wippte. Plötzlich verharrte er in seiner Bewegung und starrte Doktor Fleischhauer mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich gebe diese Woche ein Konzert. Ich sollte schon lange in der Probe sein.«

Aufgeregt schoss er aus dem Sessel hoch und eilte zur Tür. Draußen auf dem Korridor blickte er nach links und nach rechts und senkte resigniert seinen Kopf. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er fliehen sollte.

»Herr van Loon«, hörte er die ruhige, sonore Stimme Doktor Fleischhauers in seinem Rücken. »Bitte beruhigen Sie sich doch und setzen Sie sich wieder hin. Ich verspreche Ihnen: Sie werden bestimmt nichts verpassen.«

Lars stützte sich am Türrahmen ab und ließ den Kopf hängen. Er empfand völlige Leere, kam sich vor, wie in einem gewaltigen Vakuum, in dem er kopfüber und komplett orientierungslos schwebte. Dieses Nichts schien sich langsam aber bestimmt in seinem Kopf breit zu machen und sein Gehirn kontinuierlich in Luft aufzulösen.

»Herr van Loon.« Hatte die Stimme des Arztes eine leicht bedrohliche Nuance angenommen oder bildete sich Lars das bloß ein? Noch immer hatte er das Gefühl, dass er sich Schritt für Schritt aus dieser Welt entfernte und an einem Ort eingetroffen war, an dem keine Entscheidungen getroffen werden mussten und keine Gedanken zu fließen brauchten. Es war einfach nur noch ein Dahingleiten ohne einengende Konventionen und Ansprüche. Fühlte sich so das Sterben an?

Als er eine schwere Hand auf seiner Schulter fühlte, schrie er laut auf und glaubte zunächst, in das Gesicht von Gevatter Tod zu blicken. Doch dann konnte er die randlose Brille und den gepflegten Dreitagebart einwandfrei Doktor Fleischhauer zuordnen und entspannte sich ein wenig.

»Bitte, Herr van Loon.« Der Arzt deutete mit eindringlicher Geste in die Richtung der Besucherecke. »Wir wollen doch endlich unser Gespräch aufnehmen.«

Lars ließ sich widerstandlos wieder auf den Stuhl setzen und beugte sich vornüber, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt.

Wie war er nur hierhergekommen? Wenn er sich doch bloß erinnern könnte!

»Sie sprachen von einem Konzert, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte sich wieder ihm gegenübergesetzt und schrieb eine kurze Notiz. Danach hatte Lars wieder seine volle Aufmerksamkeit. »Erzählen Sie mir mehr darüber. Wo werden Sie auftreten?«

Noch immer schien sich anstelle des Gehirns eine große, leere Blase in Lars’ Kopf eingenistet zu haben. Verwirrt blickte er in Fleischhauers graublaue Augen, die ihn aufmerksam musterten, und suchte verzweifelt nach einer geeigneten Antwort.

»In der Philharmonie«, brachte er schließlich hervor.

»Naja.« Der Arzt kratzte sich am Kinn. »Da gibt es einige davon. Wir sind hier in Bern, Herr van Loon. Sie befinden sich in einer Psychiatrischen Privatklinik und wurden gestern von einer Polizeistreife bei uns eingeliefert. Haben Sie irgendeine Erinnerung daran?«

Polizei. Lars’ Blick ging durch Doktor Fleischhauer hindurch. Verzweifelt kramte er in seinen Erinnerungen. Da war nichts. Es war wie ein leergeräumter und klinisch sauber geputzter Raum, in dem nicht die geringste Kleinigkeit an die Bewohner erinnerte.

»Herr van Loon?« Die Stimme wurde eindringlicher. »Erinnern Sie sich?«

Lars schüttelte langsam den Kopf. Wenn er aus diesem Albtraum nur aufwachen könnte!

Der Arzt erhob sich erneut, trat zu seinem Schreibtisch und nahm eine Akte zur Hand. Er schob seine Brille in die Stirn und vertiefte sich für einen Moment in das Dokument. Dann nickte er wissend und begab sich zu Lars zurück. Erneut notierte er sich etwas, nachdem er sich gesetzt hatte.

»Wie geht es Ihnen denn?«

Lars beugte sich nach vorne.

»Mir geht es hervorragend, Doktor. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin, aber ich fühle mich ausgezeichnet. Wie bereits gesagt, bin ich daran, ein Konzert vorzubereiten. Wann kann ich also nach Hause gehen?«

Fleischhauer ging nicht auf Lars’ Frage ein. Er machte sich weiterhin Notizen und meinte, ohne aufzublicken:

»Ist Ihnen das schon häufiger passiert?«

»Was meinen Sie?«

»Gedächtnisverluste, Erinnerungslücken.« Er hob den Kopf und sah Lars direkt in die Augen. »Wutanfälle. Hat es das schon öfters gegeben?«

Lars hielt dem Blick des Arztes stand, und wie aus dem Nichts sprudelte es aus ihm heraus:

»Wenn man darüber redet, wird auch das Einfachste gleich kompliziert und unverständlich.«

Fleischhauer legte den Stift auf den Schreibblock und zog die Brille von der Nase.

»Was war denn das?«

Lars grinste. »Hesse. Herrmann Hesse. Großartiger Schriftsteller. Sollten Sie auch mal lesen. Da steckt mehr Lebensweisheit drin als in den unsäglichen Theorien Ihres Doktor Freuds.«

Nach wie vor war keine Regung im Gesicht des Arztes festzustellen. Er setzte sich die Brille wieder auf, griff zum Stift und begann zu schreiben, während er sagte:

»Es wird alles immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.«

Lars blieb der Mund offenstehen.

»Ebenfalls Hesse«, fügte der Psychiater hinzu und blickte Lars wieder an. »Lassen wir doch die Spielereien, Herr van Loon, und lassen Sie uns weitermachen. Einer der beiden Beamten, Wachtmeister Gasser, hat zu Protokoll gegeben, dass Sie auf der Fahrt hierher eine lebendige Diskussion mit Beethoven gehabt haben sollen.«

Da war doch irgendwas! Lars schaute auf. Ein Erinnerungsfetzen, ein Gedanke, den er unbedingt festhalten musste, bevor er ihm wieder entglitt. Er spürte Doktor Fleischhauers Blick auf sich ruhen und stellte fest, dass eine Erklärung notwendig war.

»Ich tausche mich häufig mit old fucking Louis aus.« Leicht amüsiert beobachtete er die angehobenen Augenbrauen des Arztes, der tatsächlich ein klein wenig seine Fassung verloren zu haben schien. »Man hat nämlich ein völlig falsches Bild von ihm. Er ist gar nicht so grob und griesgrämig, wie er ständig beschrieben wird. Auf jeden Fall nicht mir gegenüber.«

»Ich verstehe das schon richtig, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte die Lippen geschürzt und tippte mit seinem Schreibutensil nachdenklich dagegen. »Sie führen regelmäßig Gespräche mit Ludwig van Beethoven, dem Komponisten.«

»Unter anderem«, nickte Lars.

»Will heißen?«

»Mit Mozart, Schubert, Mahler, Wagner.« Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wen man eben gerade so trifft, nicht wahr? Aber die Diskussionen mit old Louis sind bei weitem die interessantesten.«

»Worüber sprechen Sie denn mit ihm?« Die Notizen des Arztes wuchsen kontinuierlich.

»Über dies und das. Er ärgert sich häufig, wenn er Interpretationen seiner Werke hört, die mit seinen kompositorischen Absichten überhaupt nichts mehr zu tun haben. Zu große Formationen, falsche Intonationen, selbstverliebte Interpreten, na, Sie wissen schon.«

Fleischhauer nickte langsam und sah von seinem Klemmbrett hoch. »Ich verstehe.«

Lars grinste schelmisch. »Tun Sie das wirklich, Herr Doktor?« Er lehnte sich nach hinten und schlug die Hände zusammen. »Fleischhauer, der Vegetarier. Der war wirklich gut!«

Etwas verärgert verzog der Arzt den Mundwinkel. »Wie ist es denn mit Ihnen, Herr van Loon? Sind Ihre Wiedergaben dem Komponisten genehm?«

»Deshalb sprechen wir ja zusammen. Old fucking Louis ist es sehr wichtig, dass es wenigstens eine Person auf diesem Erdball gibt, auf die er sich verlassen kann, was das Verständnis für seine Werke betrifft. Wir hören uns häufig Aufnahmen der verschiedensten Musiker an. Er kann es manchmal gar nicht glauben. Soll ich das tatsächlich geschrieben haben?, erzürnt er sich dann, und hops geht’s los mit den Diskussionen. Ich kann Ihnen sagen, Herr Doktor, Sie können sich nicht vorstellen, wie wertvoll diese Streitgespräche für meine Arbeit sein können.«

»Und diese ... Begegnungen haben Sie schon lange?« Fleischhauer zögerte einen kurzen Moment, um nach dem treffenden Begriff zu suchen.

Lars blies die Backen auf und tippte mit den Fingerkuppen gegeneinander. Er schien angestrengt nachzudenken. »Kann man so sagen. Mit Mozart spiele ich von Zeit zu Zeit eine Partie Billard, und manchmal gelingt es mir sogar, ihn zu schlagen. Ich sage Ihnen, der Kerl spielt verdammt gut. Und mit Brahms treffe ich mich zu einer gemütlichen Trinkrunde im Gasthaus. Da bleibt es nie bei nur einer Flasche Wein, der Hannes hat einen Zug, das glaubt man nicht. Ein wahrer Schluckspecht!«

»Soso.« Der Arzt musterte seinen Patienten mit ernstem Blick. »Darüber werden wir uns später noch unterhalten. Sehr interessant. Doch vorerst wäre es aufschlussreich, wenn Sie mir etwas mehr von Ihnen erzählen könnten. Über Ihre Eltern beispielsweise. Waren diese auch so musikalisch wie Sie, Herr van Loon?«

»Nun.« Lars rutschte auf seinem Sessel etwas nach vorne, spreizte die Beine und faltete die Hände vor seinem Bauch. Die Müdigkeit war von ihm abgefallen. »Da gibt es schon einiges zu erzählen. Wie viel Zeit haben Sie eingeplant, Herr Doktor?«

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