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Ein Schwein namens Churchill

August 1975

Die erste Begegnung mit Mozart hatte Lars van Loon mit vier Jahren im Schweinestall seines Großvaters Willy.

Dieser hieß eigentlich Wilhelm Friedrich, benannt nach dem letzten deutschen Kaiser, da Willys Eltern glühende Verehrer des Herrschers und leidenschaftliche Anhänger der Monarchie waren. Durch ihren Fanatismus waren sie dem Kaiser kritiklos zugeneigt und zeigten uneingeschränkt ihre volle Begeisterung.

Opa Willy dagegen konnte diesem Enthusiasmus wenig Positives abgewinnen. Er hatte Laufbahn und Karriere des Monarchen aufmerksam verfolgt. Zunächst hatte die Bewunderung seiner Eltern noch auf ihn abgefärbt, doch mit zunehmendem Alter und einer etwas weniger eingeschränkten Sichtweise wurde seine Kritik dem Kaiser gegenüber immer grösser, bis schließlich nur noch Verachtung übriggeblieben war. Sein Taufname war ihm peinlich, und wenn ihn jemand mit Wilhelm ansprach, so konnte dieser, wenn er den falschen Moment erwischte, sich in Teufels Küche begeben.

»Man nennt mich Willy!«, pflegte er in solchen Situationen grummelnd von sich zu geben. »Einfach Willy! Nicht zu verwechseln mit diesem Pseudonazi Wilhelm II. Meine Eltern hätten mich genauso gut auch Adolf taufen können.«

Er lebte bei seiner Tochter Astrid und deren Mann Claas van Loon auf einem alten, etwas abgelegenen Hof in Eichhausen im Bundesland Bayern. Das Gut war seit Generationen im Besitz seiner Familie, wurde aber schon lange nicht mehr landwirtschaftlich genutzt und war von seinem Schwiegersohn zu einem schmucken Wohnhaus umgebaut worden. Ein großer Teil der Arbeiten hatte Claas mit seinem handwerklichen Geschick, das ihm als Schreiner gegeben war, selber erledigt.

Er war in den Niederlanden aufgewachsen, in eine Handwerkerfamilie hinein geboren. Auf einem Wochenendausflug hatte er in München Astrid kennen gelernt und sich Hals über Kopf in das junge Mädchen verliebt. Bereits beim dritten Treffen hatten sie sich verlobt, und Claas war nach Deutschland gezogen. In Eichhausen gründete er eine eigene Schreinerei, in der er inzwischen zwei Angestellte beschäftigte. Für seine sorgfältige Arbeit war er weit über die Dorfgrenze hinaus bekannt und konnte sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen.

Seine Frau Astrid erledigte derweil den Haushalt, eine nicht zu unterschätzende Arbeit auf dem großen Hof, und verdiente sich als Aushilfe in einer Schneiderei einen kleinen Zustupf.

Bis vor wenigen Jahren hatte Opa Willy Schweine gehalten. Aus dieser Zucht war allerdings bloß noch ein Eber übriggeblieben, und für den hatte er in der Scheune, die bisher von den Sanierungsarbeiten verschont worden war und sich in einem jämmerlichen Zustand befand, eine kleine Bucht eingerichtet, in der sich das Tier im wahrsten Sinne des Wortes sauwohl fühlte.

Churchill, so hieß das Schwein, war Opa Willys Augapfel, wurde von ihm verhätschelt und umsorgt und bildete mit den Katzen Ginger und Pedro sowie der Hündin Sally den tierischen Haushalt der Familie van Loon.

So sehr Opa Willy seinen Taufnamen hasste, so sehr verehrte er Winston Churchill, in dem er den Retter Europas sah.

»Ich möchte nicht wissen, wie unsere Welt heute aussehen würde, wenn nicht der clevere Sir Winston sich mit aller Kraft gegen die Nazis gestemmt hätte. Mit seiner taktischen Klugheit und strategischem Fingerspitzengefühl hat er den Weg für die Alliierten geebnet und uns für immer von dieser Brut befreit. Und deshalb«, und damit kratzte er Churchill hinter seinen Öhrchen, »ist dies genau der richtige Name für meinen kleinen Freund hier.«r Musik für einen Moment verlor. hinter den idenschaft seinen Lieblingsballie in die Scheune und präsentierte ihnen voller Stol

Nun, klein war Churchill allerdings mitnichten; das Schwein wurde im gleichen Jahr geboren, als die Familie van Loon mit Zwillingen beschenkt worden war. Lars und Gregor vergötterten ihren Opa und verfolgten schon von klein auf die sorgfältige Pflege, welche dieser seinem Liebling zukommen ließ.

»Er ist hochintelligent«, dozierte der Alte jeweils mit ernster Miene, wenn die Rede auf das Hausschwein kam, »wie die meisten Schweine übrigens. Churchill ist klüger als unsere Katzen und der Hund zusammen und ist zudem ein unverbesserlicher Optimist!«

Und wenn er in die zweifelnden Gesichter der Zuhörer blickte, so befahl er sie in die Scheune, wo er ihnen voller Stolz seinen Liebling präsentierte und ihn ein paar Kunststücke vorführen ließ. Zum Beispiel apportierte der Eber mit großer Leidenschaft seinen Lieblingsball oder setzte sich auf Kommando hin.

Churchill war Willys Lebensinhalt – neben seinen beiden Enkeln natürlich, und wenn er sich nicht gerade um das Schwein kümmerte oder mit den Jungs spielte, so verfolgte er aufmerksam das Weltgeschehen. Stundenlang konnte er am Küchentisch sitzen, eine Schale mit Kaffee vor sich, den er jedoch erst zu trinken begann, wenn sich auf der Oberfläche eine Milchhaut gebildet hatte. Dies rief bei den Zwillingen jeweils so mächtigen Ekel hervor, dass sie laut schreiend aus der Küche stürmten. Dazu las er die Tageszeitung Wort für Wort und unterließ es dabei nicht, zu jedem Artikel seinen Kommentar abzugeben (egal, ob sich jemand in der Küche befand oder ob er ganz alleine war).

»Das ist doch unglaublich! Unser Bundeskanzler trifft den Honecker in Helsinki. Was er diesem Verbrecher wohl zu sagen hat? Er wird sich doch nicht etwa gar mit ihm verbrüdern wollen?«

Auch beim Fußball hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Zaun:

»Es wird endlich Zeit, dass unsere Buben« (damit meinte er natürlich den FC Bayern) »den Drecksborussen wieder mal den Rang ablaufen. Na, der Gerd und der Franzl werden’s schon richten!« Zu seinem großen Ärger sollte die Borussia aus Mönchengladbach allerdings auch die nächsten beiden Meisterschaften gewinnen, da konnten auch Willys Lieblingsspieler Müller und Beckenbauer nichts dagegen ausrichten.

Zusätzlich zum Zeitungsstudium spazierte er fast jeden Abend zu seinen Nachbarn, den Richters, um gemeinsam mit ihnen die Tagesschau zu verfolgen. Tochter Astrid und Schwiegersohn Claas weigerten sich standhaft, ein Fernsehgerät anzuschaffen, was beinahe täglich zu hitzigen Diskussionen im Hause van Loon führte. Der knapp viertelstündige Spaziergang, den Willy unter die Füße nehmen musste, wurde von den Richters jeweils mit einem erstklassigen Sofaplatz und einem gscheiten Weizen belohnt. Der Besuch war nach der Tagesschau natürlich noch nicht beendet, da die Nachrichten reichlich Stoff für Diskussionen lieferten (und da das Bier noch in aller Ruhe ausgetrunken werden musste).

Manchmal wurde auch noch ein zweites oder gar drittes Bier vertilgt. Opa Willys Zustand am darauffolgenden Tag war folglich meistens verkatert und seine Laune dementsprechend – das musste sogar Churchill leidvoll erfahren – dann nämlich, wenn die Fütterung nicht termingerecht vonstatten ging und der Geruch im Stall etwas streng wurde.

Als nun im August 1975 der kleine Lars vier Jahre alt war und seinen Großvater und Churchill im Stall besuchte, blieb er plötzlich mitten im Raum stehen und lauschte aufmerksam den Klängen, mit welchen der Schuppen ständig beschallt wurde, die er aber bisher gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Opa Willy hatte seine Musikanlage in der alten Scheune aufgebaut und den Lautsprecher gegen Churchills Wohnzimmer ausgerichtet. So nannte er die Ecke, die er für das Schwein mit Stroh eingerichtet hatte. Aufopfernd hatte er aus seiner riesigen Schallplattensammlung mit klassischer Musik ausgewählte Werke auf Kassetten überspielt (»Ich kann meinen Platten die Kälte und Feuchtigkeit im Stall nicht zumuten!«) und spielte die Tonträger tagsüber ohne Unterbruch rauf und runter.

Wenn sich dabei jemand über Willys außergewöhnlichen Musikgeschmack wunderte, der so gar nicht zur volkstümlichen und skurrilen Erscheinung des Alten passen wollte, so zuckte dieser mit provozierender Gleichgültigkeit mit den Schultern und holte anschließend zu einem gewaltigen Loblied auf die klassische Musik aus.

»Und außerdem« präzisierte er dabei, auf Churchill deutend, »muss ich auch Rücksicht auf meinen kleinen Freund hier nehmen. Er ist ein riesiger Musikliebhaber. Vor allem Mozart und Beethoven gehören zu seinen Favoriten. Brahms findet er grenzwertig, und Wagner ist ihm zu pompös und schwülstig.«

Nun stand also sein Enkel Lars vor ihm und lauschte aufmerksam der musikalischen Untermalung im Saustall. Es war, als hätte sich bei Lars eine Tür geöffnet, von deren Existenz er bisher gar nichts gewusst hatte. Die Klänge ließen seinen Körper erzittern und breiteten sich in ihm mit einem wohligen Schaudern bis in die Fingerspitzen aus.

»Was hast du denn, mein Kleiner«, fragte der Alte, der nicht begriff, weshalb der Bub bewegungslos und mit offenem Mund stehengeblieben war.

Mit großen Augen blickte Lars seinen Großvater an, der sich zu ihm herunter bückte und ihn aufmerksam musterte. Der Geruch von Zwiebeln, Knoblauch und Tabak schlug ihm entgegen, die unverkennbare Duftmarke von Opa Willy. Äußerlichkeiten waren dem Alten unwichtig, seine Standardkleidung bestand aus einem Paar verfilzter Cordhosen, die unter seinem mächtigen Bauch bloß dank den Hosenträgern nicht die dünnen Beine runterrutschten. Im Sommer trug er dazu nur ein geripptes Unterhemd, dessen Verfärbung Rückschlüsse auf das Alter des Kleidungsstückes zuließen. Wenn es kälter wurde, zog er sich ein dickes, kariertes Baumwollhemd über, und wenn die Temperaturen ins Bodenlose sanken, griff er nach seinem alten Militärmantel, ein Relikt aus seiner aktiven Dienstzeit, ebenso wie die schweren Schuhe, das einzige Paar, das er besaß. Er zog es aber nur dann an, wenn seine Zehen kurz vor dem Erfrieren waren, was relativ selten vorkam, sodass man ihn meistens barfuß antreffen konnte, selbst dann, wenn er sich für wichtige Besorgungen ins nahe gelegene Dorf begab.

»Musik«, brachte der kleine Lars hervor und verfiel augenblicklich wieder den Klängen, die das alte Gemäuer in eine verträumte Stimmung tauchten und die Zeit aufzuheben schienen.

»Ach so.« Opa Willy nickte zufrieden und schenkte seinem Enkel ein zahnloses Lächeln. Ächzend erhob er sich wieder und lauschte selber ein paar Augenblicke den Klängen. »Das ist Mozart. Churchill schwört darauf und ist ganz verrückt danach.«

Als ob er die Worte verstanden hätte, ließ der Eber ein zustimmendes Grunzen ertönen und furzte anschließend genüsslich. Opa Willy klagte häufig über Verdauungsprobleme seines Lieblings und fachsimpelte leidenschaftlich mit seinem Freund Doktor Jansen, dem Tierarzt von Eichhausen, über die möglichen Ursachen der Blähungen und den damit verbundenen Konsequenzen auf die ideale Futtermischung.

»Ozat«, echote der kleine Lars und strahlte über das ganze Gesicht.

»Mmmoooozaaarrrrrrrt«, korrigierte ihn der Alte. »Wolfgang Amadeus. Das größte Genie, das diese Welt jemals gesehen hat!«

»Mozahr«, flüsterte Lars und lauschte weiterhin dem langsamen Satz des Klarinettenkonzerts, der gerade in seiner ganzen Schönheit aus dem Lautsprecher strömte und dessen Wirkung auch von Churchills Gefurze nicht beeinträchtigt werden konnte.

»Jaja, von mir aus«, lenkte Opa Willy ein. Er wusste, dass Lars verhältnismäßig spät mit Sprechen begonnen hatte, ganz anders als sein Zwillingsbruder Gregor, und noch häufig Mühe mit der korrekten Aussprache bekundete. »Gefällt es dir?«

Der Kleine nickte eifrig und horchte weiterhin mit gespitzten Ohren den Melodien und Harmonien, die er soeben zum ersten Mal so richtig wahrgenommen hatte und die ihn in einen Zustand völliger Glückseligkeit versetzten.

Opa Willy strich ihm durchs dunkle, gelockte Haar und tätschelte dann liebevoll Churchills Flanke, worauf das Schwein ein langgezogenes Quieken erschallen ließ. Lars zuckte zusammen und verlor die Fokussierung auf die Musik für einen Moment.

»Hat Schwein Schmerzen?«, fragte er ängstlich, doch sein Großvater konnte ihn mit einer abwinkenden Geste beruhigen.

»Nein, mein Kleiner. Er zeigt damit bloß seine Begeisterung für Mozart.«

»Ozat«, wiederholte Lars und klatschte entzückt in die Hände.

Opa Willy seufzte, holte seine Pfeife hervor und stopfte sie mit Tabak, dessen Geruch die beiden Zwillinge so sehr mochten, solange er nicht von der penetranten Knoblauchfahne ihres Großvaters übertüncht wurde. Als er sie angezündet hatte, verbreitete sich der aromatische Duft so rasch, dass es nicht lange dauerte, bis sich die Holztür öffnete und Gregor in die Scheune trat.

»Da seid ihr ja«, stellte er fest, streckte die Nase in die Luft und beobachtete anschließend mit gerunzelter Stirn seinen Bruder, der Gregors Erscheinen noch gar nicht bemerkt hatte, so sehr hatten ihn Mozarts Klänge bereits wieder eingenommen.

Die Zwillinge konnte man nicht voneinander unterscheiden, waren in ihrem Wesen allerdings komplett verschieden. Während Lars eher der Zurückhaltende und Stille der beiden Brüder war, so zeichnete sich Gregor durch Tatendrang und Wildheit aus. Die markante Hakennase und das mächtige Kinn hatten sie von Claas erhalten. Meistens trugen sie auch die gleiche Kleidung, so wie heute.

Trotz der Wärme hatte Mutter Astrid ihnen selbergestrickte Kniesocken und kurze Hosen sowie ein einfarbiges Hemd angezogen. Gregor trug seines, das an der einen Schulter bereits wieder zerrissen war, geöffnet. Er hasste Hemden und brachte nicht die Geduld auf, sie sorgfältig zuzuknöpfen, das überließ er seiner Mutter und maulte jeweils, weshalb er nicht ein Shirt anziehen dürfe.

Lars hingegen hatte schon früh die nötige Feinmotorik entwickelt, knöpfte seine Hemden sorgfältig und war ohnehin bemüht, seine Kleider nicht schmutzig werden zu lassen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn er mit Gregor im Wald herumtobte. Er war viel feinfühliger und sensibler als sein Bruder, was gerade in dieser Situation im Schweinestall wieder deutlich zum Ausdruck kam.

Gregor hatte kein Gespür für den angespannten Zustand des kleinen Lars, merkte nicht, dass in diesem Moment zwischen dem Großvater und dessen Enkel ein zartes Band der Musik geknüpft worden war, das die beiden von nun an ein Leben lang noch fester aneinander binden sollte. Mit erst vier Jahren war dieses fehlende Einfühlungsvermögen bei Gregor durchaus erklärbar. Umso erstaunlicher war die bereits früh erkennbare sensible und feinfühlige Ausprägung bei Lars, die sich später noch in viel stärkerem Ausmaß zeigen sollte.

»Was willst du denn hier drinnen bei diesem schönen Wetter?«, raunzte Gregor seinem Bruder zu und zerstörte mit seiner fehlenden Sensibilität die vorherrschende zauberhafte Stimmung, als ob er in eine Seifenblase gestochen hätte. »Komm mit, wir müssen am Fluss den Staudamm noch fertigbauen!«

Etwas unsanft wieder ins Hier und Jetzt zurückversetzt, erinnerte sich Lars an ihre gemeinsame Baustelle am nahen Bach, die sie heute unbedingt noch hatten vollenden wollen. Mozart trat langsam in den Hintergrund, und trotzdem blieben noch einige Klangfetzen in seinen Ohren hängen, sodass er fragend zu seinem Opa hochblickte, als ob er von ihm eine Erlaubnis bräuchte, um sich aus der Scheune entfernen zu dürfen.

»Natürlich, der Staudamm!«, rief der Alte so laut, dass selbst Churchill erschreckt zusammenzuckte. Die Tabakpfeife war ihm dabei aus dem Mund geglitten und lautlos auf dem mit Stroh übersäten Boden gelandet, ohne dass Opa Willy davon Kenntnis genommen hätte. Seine beiden Enkel hatten ihm am Vortag haarklein von ihrem Bauwerk erzählt, mit dem sie einen schmalen Seitenarm des Flusses in einen kleinen Sandtümpel umlenken wollten, den sie in mühsamer Kleinstarbeit mit ihren Plastikschaufeln ausgehoben hatten. »Mensch, Lars, den hast du wirklich komplett vergessen.« Theatralisch schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und wandte sich an Gregor. »Herr Baumeister, brauchen Sie noch einen fähigen Architekten, der Ihnen gute Tipps geben kann.«

»Opa, was redest du da für einen Blödsinn!« Gregor schüttelte verärgert den Kopf. »So was können wir doch alleine. Aber du wirst unseren See als Erster anschauen dürfen.«

»Natürlich, ich freu mich schon darauf!«, antwortete Willy und setzte eine wichtige Miene auf. »Wir werden euer Meisterwerk gebührend einweihen. Ich werde einen schönen Krug mit eiskalter Limonade mitbringen. Ist das ein Wort?«

»Ja, Opa!«, schrien die Zwillinge wie aus einem Mund. Lars’ Prioritäten hatten sich bereits wieder verschoben, und er konnte es kaum erwarten, seinem Großvater das Ergebnis ihrer Bemühungen zu präsentieren.

So verbrachten die beiden Jungs den Rest des Tages am Fluss, dessen Ufer von Bäumen gesäumt war, die ihnen angenehmen Schatten spendeten, und tummelten sich auf der Sandbank, wo sie das Loch für ihren kleinen See noch tiefer gruben und von überallher Steine anschleppten, um den Staudamm auszubauen.

Sie waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie die Zeit verflog. Auch die zahlreichen Mückenstiche, die sie sich dabei zuzogen, ignorierten sie weitgehend. Erst als Mutter Astrid vor ihnen stand und sie mit vorwurfsvoller Miene aufforderte, mitzukommen und das Abendbrot einzunehmen, entfernten sie sich völlig verschmutzt von ihrer Baustelle.

Während Lars sich der dreckigen Kleidung bewusst wurde und eine Schelte von Mama erwartete, kümmerte Gregor sich keinen Deut darum. Nachdem sie der Aufforderung, sich zunächst einmal gründlich zu waschen und neue Kleider anzuziehen, Folge geleistet hatten, stürzten sie sich mit Heißhunger auf das Abendessen. Bei Würstchen und Kartoffelsalat, ihrem gemeinsamen Leibgericht, mussten sie ihren Großvater in Bezug auf ihr Bauwerk nochmals um einen Tag vertrösten.

»Aber morgen werden wir bestimmt fertig, Opa, ganz sicher!«, erklärte Gregor eindringlich, und Lars nickte eifrig.

Und als Vater Claas auch noch in ihr Bauvorhaben eingeweiht werden wollte, überboten sich die Zwillinge mit Erzählungen und Beschreibungen über ihren selbstgebauten See. Es war beinahe unmöglich, sie in ihrem Redefluss zu unterbrechen und zur Nachtruhe zu mahnen. Maulend zogen sie ihr Nachthemd an und schlüpften unter die Decke.

Nach dem Gutenachtkuss der Eltern und einer kurzen, aber haarsträubenden Geschichte von Opa Willy, wurde das Licht gelöscht. Im Dunklen dachten die beiden Jungs aber nicht im Geringsten ans Schlafen. Sie flüsterten sich gegenseitig zu, was es morgen noch alles zu erledigen gab und schmiedeten bereits neue Pläne.

Am nächsten Morgen aß Lars sein Marmeladenbrot auf und machte sich für die anstehenden Arbeiten bereit. Gregor saß immer noch am Frühstückstisch und trödelte herum.

Während er auf seinen Bruder wartete, fiel sein Blick auf das alte Klavier, das völlig unbenutzt im Nähzimmer seiner Mutter stand und bloß wegen Opa Willys beharrlichem Entgegenhalten noch nicht weggeschafft worden war. »Wer weiß schon, vielleicht werden Lars oder Gregor einmal darauf spielen wollen!«, hatte der Alte ständig gemahnt, als es wieder einmal darum ging, das Instrument zu entfernen.

Lars kletterte auf den Stuhl, hob den Deckel und blickte auf die weißen und schwarzen Tasten, die ihn zum Ausprobieren aufforderten. Mit beiden Zeigefingern bearbeitete er unter glucksendem Lachen das Instrument – und erinnerte sich plötzlich wieder an die wundervolle Melodie, von der er am Vortag im Schweinestall so ergriffen gewesen war. Er hatte die Töne noch genau im Ohr und versuchte mit höchster Konzentration, die Tonfolge wiederzugeben, was ihm nach vielen verzweifelten Versuchen ansatzweise und seiner Meinung nach vortrefflich gelang.

»Das Klavier muss unbedingt gestimmt werden. Es ist ja nicht zum Aushalten!«, grummelte Opa Willy aus der Küche, wo er Gregor ermahnt hatte, endlich vorwärts zu machen.

»Mit dem Essen spielt man nicht, mein Kleiner! Deine Mutter möchte schon lange den Tisch abräumen, und dein Bruder wartet auf dich.«

Nachdem seine Anweisungen endlich von Erfolg gekrönt waren, lauschte er Larsʼ ersten musikalischen Versuchen und meinte danach: »Ich werde jetzt mal bei Siggi vorbeischauen. Seine Frau haut auch mal in die Tasten. Da wird er doch bestimmt wissen, wo man so ’nen Klavierstimmer herbekommen kann.«

Sprach’s und machte sich bereit, um gemeinsam mit Churchill bei der Bäckerei Siegfried vorbeizuschauen.

»Wo hab ich denn nur die verflixte Leine hingetan?«, wetterte er aus der Scheune, während das Schwein aufgeregt in seiner Bucht umhertänzelte. Es liebte Spaziergänge ins Dorf und spürte genau, wann es wieder soweit war.

Lars dagegen war völlig versunken in das Klavierspiel und testete fleißig neue Tastenfolgen aus, woraus neue Melodien entstanden. Mit Erstaunen stellte er fest, welche Klänge durch das Drücken von mehreren Tasten erzeugt wurden und konnte sich gar nicht mehr vom Instrument losreißen.

Erst als Gregor laut schreiend ins Nähzimmer stürmte und ihn an die noch anstehenden Arbeiten am Fluss mahnte, beendete er mit ziemlichem Widerwillen seinen Ausflug in die Welt der Musik und verließ gemeinsam mit seinem Bruder das Haus, um den Staudamm fertigzubauen. Doch er war nicht mit ganzem Herzen bei der Arbeit – die Melodien und Klänge verfolgten ihn den ganzen Tag über, und er freute sich bereits auf den Abend, wenn er sich wieder ans Klavier setzen konnte.

So übte Lars von nun an fleißig auf dem Instrument Mozarts Melodie, entdeckte ständig neue Varianten und Tonfolgen, und nachdem das Klavier endlich gestimmt worden war, wurden seine Versuche auch akustisch einigermaßen erträglich. Allerdings vergaß er meistens, dass auch die schwarzen Tasten mit einbezogen werden müssten.

»Fis!«, schrie Opa Willy aus dem Badzimmer, als sein Enkel wieder einmal einen Halbton danebengehauen hatte und wurde dabei von grunzender Zustimmung unterstützt.

»Vater!« Astrid van Loon stürmte die Treppe herunter. »Du hast das Schwein doch nicht in unser Haus gebracht?«

Nahe an einem Schwächeanfall hielt sie sich am Holzrahmen fest, nachdem sie die Badezimmertür aufgestoßen hatte, die nur leicht angelehnt worden war. In der Badewanne räkelte sich zufrieden Churchill und genoss den Strahl der Duschbrause, mit welchem er von Opa Willy gewissenhaft abgespritzt wurde.

»Ich weiß gar nicht, wo das Problem ist, Tochter«, meinte der Angesprochene, hielt in der anderen Hand eine Flasche Shampoo und überlegte sich, ob er seinen Liebling damit einseifen sollte. »Es ist so heiß draußen, da hat Churchill sich durchaus eine kleine Abkühlung verdient.«

»Vater, du erinnerst dich doch gewiss an den Fluss. Am Fuß der Böschung, keine hundert Meter von hier entfernt. Dort, wo die Zwillinge so gerne spielen.« Astrid verwarf die Hände. »Dort kann sich das Schwein wälzen und austoben, wie es will. Mein Gott, es gehört doch nicht in die Badewanne!«

»Tochter!« Opa Willy schüttelte den Kopf und studierte aufmerksam das Fläschchen. »Wir sind doch keine Landstreicher. Auch ein Schwein hat ein Recht auf gründliche Körperpflege. Verdammt, wo habe ich bloß meine Brille wieder hingelegt?« Genervt schaute er sich um, und als er sein Lesegerät nicht finden konnte, zuckte er die Schultern und schraubte das Shampoo auf. »Egal, die leidgeplagten Borsten können durchaus ein wenig Seife vertragen. Nicht wahr, mein Schatz?« (Damit war nicht etwa seine Tochter gemeint.)

Churchill hatte es sich inzwischen in der Badewanne gemütlich gemacht und sich hingelegt. Als sein ganzer Körper eingeschäumt wurde, entledigte er sich allerdings seiner Lethargie, indem er sich quiekend erhob und sich ausgiebig schüttelte.

»Aber Churchill!« Der Alte stemmte die Hände in die Hüfte und setzte, von dem quer durchs Badezimmer fliegenden Schaum keine Notiz nehmend, zu einer Gardinenpredigt an. »Sei doch nicht so bockig. Wir wollen ja alle nur dein Bestes.« Und Richtung Nähzimmer schrie er: »Fis, Lars, Fis! Die schwarze Taste! Churchill und ich sind dir dankbar dafür!«

»Ozat!«, krähte Lars aus der Stube und erwischte unter lautem Glucksen prompt den falschen Ton, während Churchill erneut ein erbärmliches Quieken von sich gab, was allerdings wohl eher mit seiner ungemütlichen Situation als mit der schrägen Melodie zu tun hatte.

»Vater!« Astrids Stimme war eine Oktave höher gerutscht. »Ich bitte dich, hör auf damit! Das Schwein setzt das ganze Bad unter Wasser!«

Verärgert drehte sich Opa Willy um und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seine Tochter. Ein deutliches Zeichen dafür war, dass er sich auf keine Diskussionen einlassen wollte.

»Ich habe hier alles im Griff. Schließ die Tür von außen und lass mich mit Churchill allein. Kümmere dich gescheiter darum, dass Lars die schwarzen Tasten trifft. Sonst wird’s nichts mit Mozart.«

Und als die Angesprochene keine Reaktion auf seine Anweisung zeigte, erhob er sich zu seiner vollen Größe und komplementierte sie mit seinen schaumigen Händen aus dem Badezimmer.

»Die Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen«, hörte sie ihn hinter verschlossener Tür grummeln, bevor er sich wieder mit zärtlicher Stimme dem Eber zuwandte. »Und nun zu dir, mein Lieber! Sag mal, Churchill. Was soll das eigentlich?«

Ja, was soll das eigentlich?, dachte sich Astrid und beschloss, dass es sinnlos wäre, sich mit ihrem Vater zu streiten. Und so setzte sie sich zu Lars ans Klavier, blendete den Lärm aus dem Badezimmer aus, und strich dem Jungen über seine dichten Locken.

Lars genoss die Aufmerksamkeit seiner Mutter und übte beharrlich an Mozarts wundervoller Melodie, bis er sie fließend und korrekt wiedergeben konnte. Als er sie stolz am Abend nach dem Nachtessen der versammelten Familie vorspielte, klopfte ihm Opa Willy anerkennend auf die Schulter und meinte:

»Glaub mir, mein Kleiner. Aus dir wird einmal ein ganz großer Musiker werden, das spüre ich im Urin.«

»Ozat!« Lars strahlte seinen Großvater an, wandte sich wieder dem Klavier zu und probierte neue Tonfolgen aus.

Fasziniert beobachtete die ganze Familie den Jungen, der ganz in die Musik vertieft war und sich von seiner Umwelt abgenabelt hatte.

»Wenn seine Locken blond wären, dann sähe er wie ein Engel aus«, flüsterte Astrid ihrem Mann zu.

Claas lächelte verträumt.

»Ein Engel auf einer Wolke, der anstelle der Harfe auf dem Klavier spielt.«

»Ich bin so stolz auf ihn«, seufzte die Mutter.

Auch Gregor betrachtete aufmerksam seinen Bruder und dessen Fähigkeit, mit der er die Eltern in Glückseligkeit verfallen ließ.

»Ein Engel«, murmelte er und streichelte die Katze, die sich auf seinem Schoss niedergelassen hatte. »Mein Bruder ist ein Engel.«

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