Читать книгу Dilgas Versprechen - Martin J. Christians - Страница 7
4.Kapitel
ОглавлениеDer Winter versprach angenehm zu werden. Die Holzfäller stellten keine großen Ansprüche an ihn. Sie waren zufrieden, wenn es alle paar Tage frisches Fleisch gab. Langsam fingen sie sogar an, ihm zu vertrauen. Selbst Arndt und Sägg gingen nicht länger einen halben Schritt hinter ihm, wenn sie ihn auf seinen Jagdausflügen begleiteten.
Dilga stellte den Beutel auf der Bank ab und beobachtete Bela, der das Feuer im Kamin schürte. Der Alte war ein angenehmer Begleiter, der mehr über Wildkräuter und ihre Wirkungen wusste als er. Außerdem war er schlau und gewitzt. Es hatte nicht lange gedauert, bis er herausgefunden hatte, dass Dilga sich auch mit den giftigen Pflanzen auskannte.
Der Alte drehte sich um und grinste ihn an. »Bist du jetzt sauer auf mich«, fragte er heiter.
»Nein«, seufzte Dilga. »Aber ich wäre dir dankbar, wenn du das für dich behältst.«
»Keine Sorge«, versprach er. Bela stellte zwei Tontöpfe mit Stößeln auf den Tisch. Gemeinsam sortierten und verarbeiteten sie die Kräuter. »Ist ganz schön lästig, wenn Sägg und Arndt nachts abwechselnd wach bleiben«, schmunzelte Bela.
»Sie haben Wache gehalten?«
Bela nickte. »Aber nur die Beiden. Wir anderen haben geschlafen.«
Dilga legte ein paar Beeren in einen der Mörser und zerdrückte sie. Die rot leuchtenden Früchte hatten zwar keine Heilkraft, aber sie gaben gebratenem Wild eine angenehme Würze. Hinter ihm hängte Bela einige Kräuterbündel zum Trocknen an die Decke, dann setzte der Alte sich ihm gegenüber auf die Bank. Er sortierte weitere Kräuter aus, die er zu Büscheln zusammenband.
»Mich würde es freuen, wenn du den ganzen Winter bleibst«, meinte Bela beiläufig.
»Das werde ich, wenn ich euch nicht länger um den Schlaf bringe.«
Bela lachte leise, dann fragte er: »Wo wirst du hingehen, wenn du uns im Sommer verlässt?«
»Nach Askalon, denke ich. In Tyralon ging das Gerücht um, dass es einen Krieg mit Askalon gibt.«
»Das stimmt.« Bela seufzte. »Es ist wegen der Marodeure. Sie kommen aus Tyralon und überfallen die abgelegenen Höfe.« Das war keine neue Taktik um einem ungeliebten Nachbarn zu schaden. »Selbst wir kriegen das hier oben zu spüren«, fuhr der Alte fort. »Einige von denen, die durch die Marodeure alles verloren haben, werden selbst zu Räubern. Im letzten Winter haben solche eine andere Holzfällergruppe überfallen. Weiter den Berg runter.« Er deutete mit der Hand auf die Tür. »Unser Glück, dass wir so hoch in den Bergen leben.«
»Tut der König nichts dagegen?«
»Oh doch.« Bela unterbrach seine Arbeit kurz, um ihn anzusehen. »Camlach, der erste Heerführer unseres Königs, hat sich persönlich darum gekümmert. Er hat an den Männern ein Exempel statuiert.« Bei der Erinnerung daran, schüttelte Bela sich. »Vor dem musst du dich in Acht nehmen, wenn du wirklich nach Askalon gehst.«
»Warum?«
»Camlach mag keine Söldner.« Bela nahm den anderen Mörser und zerkleinerte weitere Beeren. »Also, keine, die nicht in Sold stehen.«
Unvermittelt unterbrach ein Schrei ihr Gespräch. Morts Stimme. Er schrie um Hilfe! Mort war am frühen Morgen mit den Anderen aufgebrochen, um die Stämme zu markieren, die sie noch vor dem Frühjahr schlagen wollten.
Dilga ließ den Stößel fallen und rannte zur Tür. Bela folgte ihm. Mort stand noch ein gutes Stück den Berg runter und winkte hektisch. Dilga nahm den Bogen, der neben der Tür an der Wand lehnte, und rannte den Pfad hinunter. Mort wartete nicht bis er und Bela bei ihm waren. Er drehte sich um und lief in den Wald zurück.
Dilga folgte ihm schnell zwischen den Bäumen hindurch. Es war nicht weit. Die Bäume lichteten sich und der Boden endete abrupt vor einem Abgrund. Dort standen die drei Anderen. Sie hielten einen respektvollen Abstand zur Felskante und starrten hinunter. Dilga blieb stehen und atmete durch. Niemand schien verletzt zu sein. Sägg winkte ihm nervös zu und deutete dann nach unten.
Dilga näherte sich dem Rand und sah hinunter. Der Berg fiel nicht sofort steil ab. Keine zwei Meter unter ihm gab es ein schmales Sims, das wie ein Band um die Bergflanke herumführte. An dieser Stelle war der Vorsprung fast drei Schritt breit und mit Schneewehen bedeckt, aus denen vereinzelt die Kronen kleiner, verkrüppelter Bäume traurig herausragten. Dicht an der Felswand plätscherte Wasser in eine kleine Quelle. Trotz der Kälte war sie nicht gefroren. Dampf hing über dem Wasser in der Luft und zeugte davon, dass es warm war. Dilga kannte das von einer anderen Stelle im Wald. Sie gehörte zu seinen bevorzugten Jagdplätzen, weil die Wildtiere sie im Winter als Tränke nutzten. Neben der Quelle lag ein Satyr. Eine kleinere Ausgabe von dem, mit dem er gekämpft hatte. Sein Fuß steckte in einer Schlinge. Der Schnee rund herum war von Blut verfärbt.
»So weit sind sie noch nie den Berg heruntergekommen«, keuchte Mort. In seinen Augen stand Angst.
Dilga blickte sich um, dabei richtete er seine Aufmerksamkeit vor allem auf den Himmel. Aber er konnte keine weiteren Satyr entdecken. Er schaute wieder zu dem Kleinen hinunter. Von hier aus konnte er unmöglich erkennen, ob er noch lebte. Er hockte sich hin und tastete den Rand nach etwas ab, an dem er sich festhalten konnte.
»Was hast du vor?«, fragte Sägg erschrocken.
Dilga legte den Bogen zur Seite und packte eine Wurzel, die aus dem Fels herausragte.
»Du willst doch da nicht runter?« Mort hielt ihn an der Schulter fest. »Die Bestie zerreißt dich!«
»Wenn er überhaupt noch lebt.« Dilga schüttelte Morts Hand ab. »Aber das kann ich von hier aus nicht feststellen.«
»Dann schieß einen Pfeil in das Biest.« Mort griff erneut nach seinem Arm.
Dilga, der seine Beine schon über den Rand geschwungen hatte, sah zu ihm auf. Der Ausdruck in Morts Gesicht erschreckte ihn. Er passte überhaupt nicht zu dem sonst so besonnenen Mann. Die dunklen Augen funkelten fast irr. »Ich werde da runter gehen Mort!«, sagte er bestimmt und vertraute sein Gewicht der Wurzel an.
»Gut!« Mort ließ ihn los. »Wie du es tötest, ist mir egal.«
Einen Augenblick hingen Dilgas Beine frei in der Luft, dann ließ er sich los. Weich landete er im Schnee, nicht weit weg von dem Satyr.
Er war kaum größer als Dilga, aber zierlicher gebaut. Sein Fell war rotbraun, in einem matteren Ton als bei dem Großen. Vorsichtig trat Dilga einen Schritt näher. Einer der Knöchel des Kleinen steckte in der Falle fest. Die Schlinge hatte sich fest zugezogen und schnitt tief in sein Fleisch ein. Kleinere Tiere verbluteten in diesen Fallen schnell. Geriet ein Größeres hinein, stand ihm ein elender Tod durch Verdursten oder Erfrieren bevor. Selbst Menschen waren schon in diesen Fallen umgekommen. Der Kleine wimmerte plötzlich. Er hob seinen Kopf und sah Dilga aus furchtsam geweiteten Augen an.
»Töte es!« Morts Stimme vibrierte vor Hass.
Dilga ignorierte ihn. Er zog das Jagdmesser aus dem Gürtel und hockte sich hin. Der Blick des Wesens folgte jeder seiner Bewegungen. Seine Flanken hoben und senkten sich heftig.
Schließlich versuchte der Satyr vor ihm wegzukriechen. Seine Krallen hinterließen tiefe Spuren im Schnee. Sie wühlten ihn auf, bis das braune Moos darunter zum Vorschein kam. Das Bein, mit dem er in der Schlinge hing, konnte er nur hinter sich herziehen. Es war in einem unnatürlichen Winkel gebogen. Wahrscheinlich war es gebrochen. Er musste Schmerzen haben.
»Hab keine Angst.« Dilga sprach leise.
Langsam streckte er die Hand aus. Vorsichtig berührte er die Schlinge. Sie war aus festem Leder geflochten, deren einzelne Riemen ineinander verdreht waren. So eine Schlinge wieder aufzuziehen war unmöglich. Dazu brauchte man ein Messer. Und solange die Schlinge derart straff gespannt war, konnte er nicht einmal mit dem Messer etwas ausrichten. Seine Hand glitt am Leder hinunter auf das weiche Fell.
Das war zu viel für den Satyr. Er stieß einen schrillen Schrei aus und schlug zu. Vier Krallen gruben sich in Dilgas Oberarm und rissen ihm blutige Furchen in die Haut. Er zog seinen Arm zurück und fluchte. Über ihm schrien die Männer erschrocken und vor ihm wimmerte der Satyr. Er hielt seine Klauen abwehrbereit vor sich. Tränen liefen ihm übers Gesicht und hinterließen dunkle Spuren in seinem Fell.
»Schon gut.« Dilga biss die Zähne zusammen und ignorierte das Blut an seinem Arm. »Ich tu dir nichts.« Vorsichtig legte er seine Finger wieder auf das Seil. »Ich will das Seil durchschneiden. Hab keine Angst.«
Begleitet von einem leisen Wimmern führte er seine Hand langsam am rauen Leder hinunter, bis sie auf dem verletzten Knöchel lag. Der Brustkorb des Satyrs hob und senkte sich, wie ein schnell getriebener Blasebalg. Sein Mund stand offen, so dass Dilga die spitzen Zähne sehen konnte. Ein Biss damit konnte seine Hand zermalmen. Vorsichtig hob er das verletzte Bein ein Stück an. Der Satyr keuchte vor Schmerz, aber er wehrte sich nicht länger. In der Hocke kroch Dilga nah genug heran, damit er das verletzte Bein auf seinem Knie ablegen konnte. Dabei wandte er dem Satyr seinen Rücken zu. Mit gleichmäßigen Bewegungen zog er das Leder über die Schneide des Messers. Langsam zerfaserte die Schnur.
»Was tust du da?« Morts Stimme überschlug sich. »Das Biest wird uns umbringen!«
Die letzte Faser zerriss mit einem Ruck. Dilga steckte das Messer weg und wandte sich um. »Mehr kann ich nicht für dich tun«, sagte er ruhig und deutete auf die drohend murmelnden Männer.
Der Satyr folgte seiner Geste mit den Augen, dann kehrte sein Blick zu ihm zurück. Einen Moment starrte er ihn an, dann richtete er sich mit Hilfe seiner Schwingen auf. Dilga blieb hocken, bis der Satyr sich von der Plattform abstieß und in einem schnellen Gleitflug in die Schlucht hinabtauchte. Dann stand er auf und kletterte wieder zu den Männern hinauf.
Mort packte ihn am Kragen, ehe er sich ganz über die Kante des Felsens gezogen hatte. Aber nicht um ihm zu helfen. Der Holzfäller war außer sich vor Wut. Sein Gesicht war dunkelrot und die Augen funkelten wild. Er schüttelte Dilga brutal. »Was hast du getan?« Morts Fingernägel gruben sich in seinen verletzten Arm.
Mit einer schnellen Bewegung brach er Morts Griff und schubste ihn von sich. Mort brüllte vor Zorn und schlug mit der Faust nach ihm. Dilga tauchte unter dem Schlag durch. Er wollte sich nicht prügeln. Schon gar nicht mit Mort.
Aber der Holzfäller warf sich wieder auf ihn. Er versuchte seine Hände festzuhalten, aber Mort war viel stärker als er. Dilga wich den grapschenden und schlagenden Händen aus. Seine Passivität machte Mort nur wütender. Er war rasend vor Zorn. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt und er drang unkontrolliert auf ihn ein. Morts Angriff war so ungestüm, dass sie gemeinsam zu Boden gingen. Hart landete er auf der Seite. Morts Hände krallten sich in sein Hemd. Mit dem Kopf stieß er nach Dilgas Kinn.
Er wich dem Stoß aus, packte Morts Handgelenke und verdrehte sie mit einem Ruck. Mort schrie vor Schmerz auf und ließ ihn los. Dilga rammte dem schwereren Mann den Ellbogen in den Magen und drehte ihn auf den Rücken. Mit einer schnellen Bewegung hockte er über Mort und schlug zu. Er traf genau die Spitze des Kinns. Sofort erschlaffte Morts Körper unter ihm. Dilga spürte jemanden hinter sich und warf sich zur Seite. Aus dem Augenwinkel sah er Arndts Axt an seinem Kopf vorbeisausen. Er sprang auf und riss das Messer aus dem Gürtel.
»He, he!« Bela stand plötzlich zwischen ihnen, den Rücken Dilga zugewandt.
»Geh mir aus dem Weg!« Arndts Stimme war kalt, aber die Hand mit der Axt zitterte.
»Erst legst du die Axt weg.«
»Er wollte Mort umbringen!«
»Blödsinn!« Barton trat neben Arndt und entwand ihm mühelos die Axt.
*
Ohne hinzusehen wich Dilga einer vereisten Pfütze aus. Wie gewohnt, hatte er die Hütte früh am Morgen verlassen, um zu einem Streifzug in die Umgebung aufzubrechen. Heute hatte er sich für eine längere Tour, den Berg hinauf, entschieden. Er brauchte Ruhe, um über den Vorfall mit dem kleinen Satyr nachzudenken. Über Morts irrationalen Hass und vor allem Arndts Reaktion. Barton war dabei der ideale Begleiter. Er stapfte schweigend hinter ihm her.
Ihm war es auch zu verdanken, dass die Sache glimpflich abgelaufen war. Er und Bela hatten Arndt zur Räson gebracht und mit ihrem Einschreiten auch verhindert, dass Sägg sich auf Arndts Seite schlug. Dilga war der Blick nicht entgangen, mit dem Sägg ihn über Morts bewusstlosen Körper hinweg angesehen hatte. Mort selbst hatte sich mittlerweile bei ihm entschuldigt, ohne aber seine Reaktion zu erklären. Dilga bog einen Ast zur Seite und ließ ihn gedankenlos zurückschnellen.
»Dilga?«
Er blieb stehen und wandte sich um. Barton stand ein Stück hinter ihm, den Ast quer vor der Brust. Sein ganzer Umhang war vorn mit Schnee besprenkelt. »Tut mir leid.« Er unterdrückte ein Grinsen. Barton bot ein komisches Bild, wie er dort stand.
Der Holzfäller drückte den Ast einfach mit der Brust beiseite, als er sich wieder in Bewegung setzte. »Ich habe den Eindruck, du würdest es nicht einmal merken, wenn du mitten in irgendein Tier hinein rennst.« Barton blieb vor ihm stehen und sah auf ihn herab. »Machst du dir immer noch Gedanken, wegen gestern?«
Dilga nickte.
»Machen wir eine Pause.« Ohne auf seine Zustimmung zu warten, fegte Barton mit der Hand die Schneeschicht von einem Baumstumpf. Er hockte sich darauf und kramte etwas Stockfleisch aus seinem Beutel.
»Weiß Mort das?« Grinsend nahm Dilga das Stück entgegen, das Barton ihm hinhielt. Mort verwaltete die Lebensmittel und mit dem Fleisch war er sehr geizig. Selbst jetzt noch, wo Dilga für Nachschub sorgte.
Barton feixte. »Das nehme ich auf meine Kappe.« Gutgelaunt biss er in das salzige Stück.
Dilga setzte sich neben ihn. »Warum hat Mort so heftig reagiert?«, fragte er unvermittelt. Diese Frage ließ ihn nicht los, seit er dem kleinen Satyr geholfen hatte.
Barton verstand ihn, ohne dass er näher auf den Zwischenfall eingehen musste. »Morts Eltern hüteten für ihr Dorf die Schafe. Sie lebten den ganzen Sommer mit ihren Kindern in den Bergen. Dort sind sie getötet worden«, erklärte er. »Es muss ein richtiges Massaker gewesen sein.« Gedankenverloren starrte er auf seine fellbezogenen Stiefel. »Mort war damals sechzehn und hatte gerade bei den Holzfällern angefangen.«
»Seine Eltern sind von einem Satyr getötet worden?«, fragte Dilga skeptisch.
»Das weiß man nicht«, antwortete Barton ehrlich. »Der Vogt hat das damals untersuchen lassen, aber man hat nicht herausfinden können, was passiert war.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Jedenfalls brauchte Mort jemanden, den er dafür hassen konnte. Da boten die Satyr sich an.«
»Weil man sie für Monster hält«, mutmaßte Dilga. Es war immer und überall dasselbe, wenn etwas schief lief oder Katastrophen passierten, gab man dem Unbekannten die Schuld.
»Du hältst sie nicht für Monster?«, fragte Barton überrascht.
»Nein«, antwortete er einsilbig.
»Wieso nicht?«, wollte Barton wissen.
Kurzentschlossen erzählte er Barton von seiner Begegnung mit einem sprechenden Satyr.
Der Holzfäller pfiff leise durch die Zähne. »Meine Oma hat immer gesagt, dass sie es können«, sinnierte er mit weicher Stimme. »Sie war der liebste Mensch, den man sich denken kann. Und wahrscheinlich die einzige im Dorf, die das Verbot des Königs guthieß.«
Auf seinen fragenden Blick hin erklärte Barton, dass auch die Menschen in Askalon den Satyr früher Opfer dargebracht hatten. »Oh, keine Jungfrauen oder so«, beschwichtigte Barton. »Man hat das genutzt um unliebsame Leute los zu werden. Oder Verbrecher.«
»Und die Leute halten sich an das Verbot?« Dilga stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. Es war einfach zu kalt, um lange auf einem Fleck zu sitzen. Zumal die Sonne sich heute nicht sehen ließ.
»Oh ja«, bestätigte Barton nachdrücklich und folgte seinem Beispiel. »Man merkt, dass du nicht von hier bist. Niemand, der bei Verstand ist, missachtet ein Verbot des Königs. Das trauen sich nicht einmal seine Edlen.«
Das überraschte ihn. In Taisin, wo er zuletzt für die Herzogin geritten war, galt Askalons Herrscher als sehr milde. Eine Spur im Schnee lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Er hockte sich hin, um sie zu untersuchen.
Hoffnungsvoll blickte Barton ihm über die Schulter. »Und? Reh? Hase? Hirsch?«
»Bär!« Dilga runzelte die Stirn. »Dem sollten wir mit diesem Bogen besser nicht begegnen.«
»Ich hab doch meine Axt!«
»Du willst gegen einen Bären kämpfen? Im Nahkampf?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Barton grinste. »Ich werfe dir die Axt zu und klettere auf den nächsten Baum. Du rettest uns dann.«
»Ich bin sicher vor dir auf dem Baum!«
Aus Bartons Grinsen wurde ein Lachen. Er bemühte sich, Dilga nicht im Weg zu stehen, als der den Spuren folgte.
»Der Bär ist weg!«
Barton blickte zu den Baumkronen hinauf. »Die Sonne auch fast und ich hab Hunger.«
»Schon gut.« Dilga nickte gespielt ernst. »Ich werde mich konzentrieren.«
»Gut.« Barton rieb seine Hände aneinander. »Das ist wirklich eine lausige Kälte heute.«
»Da drüben ist eine Lichtung.« Er deutete ein Stück den Berg hinunter. »Vielleicht finden wir da ein paar unvorsichtige Wildschweine.« Die Tageszeit war die Richtige für Schweine. Kurz vor Sonnenuntergang verließen sie ihr Versteck um nach Futter zu suchen.
»Lecker!« Barton stapfte los.
Die Lichtung öffnete sich vor ihnen. Ein paar Hasen hoppelten durch den Schnee. Das war besser als gar nichts. Dilga nahm den Bogen von der Schulter. Einer der Hasen richtete sich plötzlich auf. Aber er witterte nicht in ihre Richtung. Er wandte ihm und Barton die Seite zu. Dilga ließ den Bogen wieder sinken. Man tat gut daran, auf solche Zeichen von Wildtieren zu achten. Sie hatten viel feinere Sinne als ein Mensch. Im selben Moment hörte er das Knacken der Äste. Etwas Großes brach dort durch den Wald. Die Hasen wirbelten herum und flohen. Er duckte sich und zog Barton mit zu Boden.
»Sollten wir nicht auf einen Baum?« Ängstlich blickte der Holzfäller in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
Dilga legte warnend einen Finger auf die Lippen. Wenn das der Bär war, würde ihnen ein Baum nicht unbedingt helfen. Bären konnten klettern. Der Wind stand günstig. Was auch immer dort kam, konnte ihre Witterung nicht aufnehmen. Gebannt beobachtete er den Waldrand. Die Äste der Bäume bewegten sich. Dann stand ein ausgewachsener Satyr am Rand der Lichtung. Barton zitterte. Dilga ließ den Arm auf seinem Rücken liegen und drückte ihn tiefer zu Boden. Wurde er paranoid oder war das derselbe Satyr, dem er seinen Sturz in den Berg verdankte?
Der Satyr witterte in die Luft, dann hockte er sich hin und untersuchte etwas auf dem Boden. Dilga konnte sehen, dass er den Schnee vorsichtig beiseite fegte. Dann packten die Klauen etwas und zogen mit einem Ruck daran. Eine Schlinge! Erst jetzt erinnerte er sich, dass dort eine der Stellen war, an denen die Männer ihre Fallen auslegten. Der Satyr schleuderte den Strick beiseite und stand auf. Er entfernte sich bergab.
*
Dilga beugte sich über den Kessel und schöpfte etwas dampfenden Kräutertee in seinen Becher. Dann setzte er sich dicht am Kamin auf das Widderfell. Die Männer saßen um den Tisch herum, und hörten sich Bartons Bericht an. Mit lauter Stimme erzählte er, wie der Satyr auf der Lichtung erschienen war und ihre Falle zerstört hatte. Dilga musste sie nicht ansehen, um ihre Angst zu bemerken.
»Dilga!« In Morts Augen stand ein Flehen, das seine Frage vorwegnahm. »Was wirst du jetzt tun?«
»Weiter auf die Jagd gehen.« Er wusste, dass Mort das nicht gemeint hatte.
»Wegen des Satyr, meine ich«, hakte Mort nach.
»Es ist deine Schuld, dass er hier ist«, schnappte Sägg.
Überrascht sah er den Holzfäller an. Barton hatte sein Versprechen gehalten und seinen Freunden nicht erzählt, dass er damals mit dem Satyr, wegen dem er in den Berg gestürzt war, geredet hatte. Außerdem wusste Barton nicht, dass es derselbe gewesen war.
»Du hast diese Bestie laufen lassen!« Arndts Stimme bebte in einer Mischung aus Angst und Wut.
Das meinten sie! Sie dachten, dass der Satyr des Jungen wegen hier war, den er befreit hatte. Und vermutlich hatten sie sogar Recht damit. »Was erwartet ihr von mir?« Der Gedanke, dass es tatsächlich seine Schuld war, dass der Satyr hier war, ließ ihn nicht los. Konnte der Kleine seinen Namen verstanden haben? Die Männer hatten ihn ein paar Mal genannt. Wenn er in seiner Höhle oder seinem Nest, wo immer so ein Wesen lebte, davon erzählt hatte? Womöglich war sein Angreifer der Vater des Kleinen. Oder auch die Mutter!
»Beschütze uns vor der Bestie«, fuhr Arndt auf ihn los. »Du bist doch ein Krieger.«
Mort legte Arndt die Hand auf den Arm und unterbrach seine Tirade. »Bitte, Dilga!« Die Augen über dem schwarzen Bartgewirr schauten ihn eindringlich an. »Du hast mir dein Wort gegeben.«
Da hatte Mort Recht. Er konnte nicht zulassen, dass der Satyr die Männer angriff. Andererseits, was konnte er mit einem Jagdbogen schon ausrichten? Im Nahkampf hatte der Satyr ihm seine Überlegenheit schon einmal deutlich bewiesen. Und daran würde sich auch nichts ändern, wenn er ihn nicht überraschte. »Ohne eine Waffe kann ich gegen einen ausgewachsenen Satyr nichts ausrichten.«
»Du hast den Bogen und wir haben Äxte.«
»Ein Jagdbogen und Werkzeug!« Er schüttelte den Kopf. »Das ist vollkommen nutzlos gegen einen solchen Gegner.« Er erinnerte sich gut an den Kampf zwischen dem Satyr und dem Gog, aber das konnte er den Männern kaum erzählen; sie würden ihm nicht glauben.
»Und…« Mort zögerte und schaute seine Kameraden unsicher an. Keiner erwiderte seinen Blick. Alle Vier starrten vor sich zu Boden. »…wenn du ein Schwert hättest?« Augenblicklich wurde es still in der Hütte.
»Ein Schwert?«, hakte Dilga nach. Mort hätte die Frage nicht so gestellt, wenn sie ihm kein Schwert geben könnten. Aber wie kamen sie daran? Das Tragen von Waffen war ihnen nicht erlaubt.
Schwerfällig stand Mort auf. Er nahm eine Fackel aus der Wandhalterung und wandte sich der Tür zu. »Komm mit!«
Dilga stellte seinen Becher ab und folgte Mort. Draußen ging der Holzfäller langsam zum Schuppen hinüber. Die anderen Vier folgten ihnen in einigem Abstand. Sie sahen aus wie das leibhaftig gewordene schlechte Gewissen. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Vor dem Schuppen blieb Mort stehen. Er rammte die Fackel in den Boden und zog einen der Körbe mit den Holzspänen beiseite. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein.
Dilga trat näher heran und betrachtete sie im unruhigen Schein der Fackel. Sie war mit einem massiven Riegel verschlossen, den eine dicke Schicht Rost bedeckte. Das war ungewöhnlich, wo sie doch sonst alles penibel in Schuss hielten. Er hob den Blick, aber Mort vermied es ihn anzusehen. Mit sichtlichem Unbehagen öffnete der Holzfäller die Luke und trat zurück.
Dilga zögerte. Das ungute Gefühl, das ihn seit Morts Frage begleitete, verstärkte sich. Im Licht der Fackel sah er ein einfaches Erdloch, fast wie ein Grab. Was darin lag, wurde von einer Decke verborgen. Langsam zog er sie zur Seite. Darunter lagen ein Kettenhemd, ein Langschwert und ein blutverschmierter Helm. Eine Axt hatte die metallene Halbkugel in zwei ungleichmäßige Hälften gespalten. Der tödliche Hieb musste den Träger hinterrücks getroffen haben.
Einen Moment stand er einfach da und schaute auf die Sachen hinunter. Sie hatten einem Söldner gehört, das war eindeutig. Und die Holzfäller hatten diesen Mann getötet. Ihn hinterrücks ermordet! »Was hat euch das eingebracht?«, fragte er bitter. »Ein paar Kupferstücke?«
Morts Gesicht war aschfahl. Sie konnten ihm nicht in die Augen sehen.
Mit Ausnahme von Bela. »So war das nicht.« Der Alte trat ruhig neben ihn. »Es ist letzten Winter gewesen und wir sind nicht stolz darauf. Deswegen haben wir auch nicht versucht, die Waffen zu verkaufen.«
Dilga lachte zynisch. »Wohl eher, weil ihr sonst hättet erklären müssen, vorher ihr sie habt.«
Bela schüttelte den Kopf. »Ich habe es dir erzählt, Dilga. Die Oligarchen schicken Marodeure. Letzten Winter war es besonders schlimm. Und als wir ihn auf dem Rückweg vom Dorf den Berg hinauflaufen sahen…« Bela zuckte mit den Schultern. »Wir hatten Angst«, beendete er den Satz einfach.
Wortlos kniete Dilga sich neben die Grube. Jetzt war er es, der es vermied den Männern den Rücken zuzuwenden. Er nahm das Kettenhemd heraus. Es war intakt, genau wie das Schwert. Er fuhr mit den Fingern über die Schneide. Sie war leicht schartig, aber mit einem Wetzstein und etwas Öl konnte er das wieder hinbekommen. Er stand auf und wog die Waffe in der Hand. Das Griffband war brüchig und musste erneuert werden. Trotzdem fühlte es sich gut an, nach so langer Zeit wieder ein Schwert in der Hand zu halten. Automatisch führte er ein paar Stiche und Schläge ins Leere aus. Im Moment war es ihm egal, dass er sie damit erschreckte.
*
Die Sonne schien und der eisige Wind hatte nachgelassen. Zusammen mit Barton lief Dilga einen der schmalen Wege, der von den Holzfällern bei ihrer Arbeit angelegt worden war, herauf. Er trug das Kettenhemd und, quer über den Rücken gehängt, das Langschwert, das er mit einem neuen Griffband versehen hatte. Zusammen mit Bartons Jagdmesser, war das eine ganz passable Ausrüstung. Nicht vergleichbar mit der, die Oleg ihm abgenommen hatte, aber besser als gar nichts.
Einem plötzlichen Impuls folgend, rannte er los. Die Steigung war nicht steil und der Schnee festgefroren, so dass er gut vorankam. Die Luft war kalt und dünn und er merkte schnell, dass er etwas von seiner alten Zähigkeit eingebüßt hatte. Trotzdem rannte er weiter, bis sein Herz mit schnellen Schlägen gegen die Rippen hämmerte und seine Lunge brannte. Fast eine Viertelstunde hielt er den schnellen Lauf durch, ehe er aufgeben musste. Keuchend wandte er sich um.
Barton schloss nach Luft japsend zu ihm auf. »Was… Was war los?« Er stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und keuchte. »Wieder der Satyr?«
»Nein!« Dilga lachte übermütig. »Ich hatte einfach Lust zu rennen.«
Barton hörte auf zu schnaufen und sah von unten her zu ihm auf. »Das ist jetzt nicht dein Ernst?« Barton sank auf die Knie. »Wir sind einfach so, ohne jeden Grund, wie die Irren den Berg hochgerannt?«
Dilga prustete vor Lachen. Bartons empörtes Gesicht war zu komisch. Mit beiden Händen raffte der Holzfäller Schnee zusammen und schleuderte ihm eine beachtliche Menge davon entgegen. Lachend wich er der Salve aus.
»Warte, du.« Schnell sprang Barton auf und warf noch mehr Schnee nach ihm.
Diesmal traf ihn die Ladung vor die Brust. Immer noch lachend hob er den Riemen des Schwerts über den Kopf und warf es zusammen mit dem Bogen in den Schnee. Keine Minute zu früh. Barton rammte ihn. Zusammen gingen sie zu Boden. Sie rollten ein Stück den Berg hinunter und Barton versuchte ihm Schnee ins Gesicht zu reiben. Er schüttelte den Holzfäller ab und sprang auf. Hastig suchte er Deckung hinter einem Baum und deckte Barton mit einem Hagel von Schneebällen ein. Minutenlang lieferten sie sich eine wilde Schneeballschlacht. Immer wieder unterbrochen durch Ringkämpfe am Boden. Schließlich rollte sich Barton auf den Rücken und blieb mit ausgebreiteten Armen liegen.
Dilga stand auf und klopfte sich den Schnee ab. »Wollen wir weiter?« Er hielt Barton eine Hand hin und zog ihn vom Boden hoch.
»Ich brauch eine kleine Pause.« Barton sah sich nach seinem Beutel um, den er während der Schlacht verloren hatte. Er fand ihn und förderte einen Honigkuchen zu Tage. »Magst du?«
Dilga schüttelte den Kopf. Er nahm sein Schwert und den Bogen wieder auf und führte langsam und konzentriert ein paar Schwertformen aus. Sie gingen ihm noch nicht wieder so flüssig von der Hand, wie er es gewohnt war.
»Bist du gut im Kämpfen?« Über beide Backen mampfend nahm Barton sich das zweite Stück und biss mit sichtbarem Genuss hinein.
»Mit dem Schwert, ja!« Schwer atmend beendete er die Übung. »Wir sollten jetzt wirklich los.«
Barton nickte. Er verstaute seinen Beutel wieder am Gürtel und zeigte mit einer angedeuteten Verbeugung, dass er bereit war. Sie verließen den Weg und bogen ins dichte Unterholz des Waldes ein. Bei einem seiner früheren Streifzüge hatte Dilga eine Quelle entdeckt, die warm aus dem Berg herausströmte. Bei seinem Austritt hatte das Wasser eine Temperatur als wäre es über einem Feuer erhitzt worden. Es sprudelte schnell einen kleinen Bach hinunter. Das Rinnsal selbst war zugefroren, aber an der Stelle, wo das Wasser aus dem Berg austrat, blieb der Lauf frei und das Wasser hatte eine, für den Winter, angenehme Trinktemperatur. Dorthin kamen Wildtiere um ihren Durst zu stillen.
Heute lag die Quelle verlassen da, aber ein paar frische Spuren verrieten, dass noch kürzlich ein Rudel Rehe hier gewesen war. Er bestimmte die Windrichtung und sah sich suchend um. »Wir verstecken uns dort.« Er deutete auf einen alten, verwitterten Findling.
»Lassen wir die Beute zu uns kommen.« Barton gähnte und streckte sich hinter dem Findling aus. Träge blinzelte er durch die kahlen Äste eines Laubbaumes in die Sonne.
Dilga kniete sich neben Barton und beobachtete die Umgebung der Quelle. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Er überlegte gerade, für heute aufzugeben, als ein großer Laufvogel unter den Bäumen hervorkam.
Er kannte den Namen dieser Tiere nicht, aber sie schmeckten ausgezeichnet. Langsam richtete er sich auf ein Knie auf und wartete, während der Vogel vorsichtig näher tappte. Die großen, dreizehigen Füße hinterließen tiefe Abdrücke im Schnee. Das Tier wog sicher an die zehn Kilo. Das war genug Fleisch für mehrere Tage.
Vorsichtig nahm er den Pfeil vom Boden auf und spannte den Bogen. Der Vogel hatte die Quelle erreicht und tauchte seinen dicken Schnabel ins Wasser. Lautlos folgte der Pfeil der nickenden Bewegung des Kopfes, glitt tiefer und kam an einem Punkt knapp hinter dem linken Flügelansatz zur Ruhe. Schnell und geräuschlos flog der Pfeil auf sein Ziel zu. Im letzten Moment hob das Tier den Kopf. Aber es war bereits zu spät. Die Pfeilspitze drang durch das schillernde rotbraune Gefieder und bohrte sich tief in sein Fleisch. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn auf die Seite. Gequält schrie der Vogel auf. Hilflos zuckten die Beine über den Boden, wie in einem schnellen Lauf.
Barton stöhnte. Der Holzfäller aß für sein Leben gern Fleisch, aber einem lebenden Tier konnte er kein Leid antun. Dilga zog das Messer aus dem Gürtel. Mit wenigen Schritten war er neben dem verwundeten Vogel. Er wich den strampelnden Beinen aus und packte ihn an seinem langen Hals. Mit einem schnellen Schnitt trennte er den Kopf vom Rumpf ab und warf ihn beiseite. Die Beine zappelten noch einen Augenblick weiter.
»Armes Vieh!« Barton blickte auf den toten Körper hinunter. »Aber die Federn sind klasse. Damit kann man ein Kissen stopfen.« Seine Hand strich über den noch warmen Torso, dann nahm er seine Axt und trennte die Beine ab. »Gehen wir zurück.« Er schulterte ihre Beute.
*