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ОглавлениеDie Welten leuchten und rauschen, immer!
Nach vorn in die Zukunft mit Leuchten und Rauschen
Gemessen an der Geburtsstunde der Erde, die vor viereinhalb Milliarden Jahren nach einer gewaltigen Explosion in unserem Sonnensystem entstand, lebte zehn Millionen Jahre vor unserer Zeitrechnung, also eigentlich erst neulich, der älteste wissenschaftlich nachgewiesene, aufrechtgehende menschliche Vorfahre nicht weit von unserem Zuhause im Allgäuer Alpenvorland.
Er musste sich mit Raubkatzen, Elefanten, Nashörnern, Hirschferkeln, Robben, Affen, Hundebären, Ur-Pandas und Riesensalamandern herumschlagen.
Wiederkehrende Klimaänderungen, Meteoriteneinschläge, Sonnenflecken, Erdachsverschiebungen und viele Naturereignisse mehr machten den Lebewesen im Wandel der Zeiten deutlich, dass nichts so konstant ist wie die Veränderung. Und dass, wenn eine Spezies überleben wollte, es für sie gut war, mit den Veränderungen mitzuwachsen.
Die Tragödien für die Lebewesen -auch für die Menschen- in der Urzeit, übers Mittelalter bis in die Neuzeit, mit ihren Krankheiten, Naturkatastrophen und Kriegen hatten zwischendurch auch immer wieder kleine Pausen und durchaus sehr lebenswerte Phasen für uns Menschen.
Glücklicherweise wurde meine Generation in Europa in eine solche Zeit hineingeboren!
Eltern und Großeltern mit Enkel Seppl auf dem Bühl
1953.
Laut der Statistik der Vereinten Nationen leben gerade mal 2,668744 Milliarden Menschen auf der Welt. 1,336433 Milliarden Männer und 1,332311 Milliarden Frauen; also 4,122 Millionen mehr Männer als Frauen.
Warum die Männer in der Überzahl sind, ist unklar. Vermutlich gibt es menschliche Gesellschaften, in denen neugeborene Mädchen traditionell nicht so erwünscht sind, oder aus anderen Gründen etwas geringere Überlebenschancen haben.
Alle zweieinhalb Milliarden Menschen auf dieser Welt haben auch 1953 etwas gemeinsam: Sie wollen ein „gutes Leben“.
In Mitteleuropa kommt es in der DDR 1953 zum Arbeiteraufstand, der von sowjetischen Panzern brutal niedergeschlagen wird.
Ein Waffenstillstand beendet den Koreakrieg.
In der BRD wird die Adenauerregierung bestätigt.
Elisabeth II. wird zur Königin von England gekrönt.
Stalin stirbt auf seiner Datscha Kunzewo außerhalb von Moskau.
Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay besteigen den Mount Everest.
Endlich lassen die Sowjets tausende Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs frei.
In Deutschland erobert das Schwarzweißfernsehen die Republik.
Die damals Großen Drei, nämlich Frankreich, Großbritannien und die USA, nehmen die Einladung der Sowjets zu einer großen Konferenz an, um über die Zukunft Deutschlands zu beraten.
Nichts ändert sich so rasch wie die Gegenwart
Weit weg von diesen Ereignissen kam ich im Oktober in einem Dorf des Allgäuer Alpenvorlandes zur Welt. Meine Familie, die Müllers, freute sich über den Zuwachs, was in den schwierigen Nachkriegsjahren nicht immer selbstverständlich war. Ich sollte dort eine glückliche Kindheit erleben.
Augenblicke der Gegenwart
66 Jahre später, also im Winter 2019/20 -mittlerweile leben mit 7,5 Milliarden dreimal so viele Menschen auf der Erde als zur Zeit meiner Geburt- sitze ich wieder in diesem Dorf in meinem Lieblingssessel und lehne mich weit nach hinten. Leise zischt und knistert die Mischung aus Fichten-, Birken- und Buchenholz im halbgeöffneten Kamin neben mir. Das Holz, das im Kamin brennt, stammt von den inzwischen viel zu hochgewachsenen Bäumen um das Haus. Diese Bäume durfte ich 1958 als Kind mit meinen Eltern und Schwestern gemeinsam pflanzen.
Alles um mich herum fühlt sich gut, richtig und daheim an: die Katze, die im zweckentfremdeten Brotkorb eingerollt auf dem Regal liegt, das bisschen Schnee draußen und meine Frau, Jutta, die in ihre Bücher der Naturheilkunde vertieft am großen Tisch auf der Familieneckbank sitzt und den Inhalt aufsaugt. Sie lernt immer gerne und konzentriert. Wie ein trockener Schwamm nimmt sie neues Wissen auf. Sie freut sich, wenn sie wieder ein Stückchen der komplexen Zusammenhänge unserer Körperchemie verstanden hat. Sie ist Politikwissenschaftlerin und hat zuvor für ein Selbsthilfenetzwerk in Berlin, dann in Madagaskar für die Friedrich Ebert Stiftung gearbeitet und war anschließend für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit tätig. Jetzt möchte sie endlich ihren lang gehegten Traum verwirklichen und Naturheilkunde lernen. Unsere Kinder sind inzwischen verstreut. Durch die modernen Medien kann man mittlerweile einen gutdosierten, regelmäßigen Austausch über Skype oder Videotelefonie pflegen. Es ist nicht wirklich erheblich, dass Max in Karthum und Maike in Kiel ist und Verena, die noch zuhause lebt, gerade von einem Besuch bei Freunden zurückkommt und im Zug von Frankfurt gen Heimat unterwegs ist.
Nach so langer Abwesenheit vom Allgäu sind meine Familie und ich im Dorf wieder gut angekommen und aufgenommen worden. Was mir allerdings ein bisschen fehlt, sind die früher regelmäßigen Restaurantbesuche mit „Schnitzel Italiano“ bei Linda und Norick im Weilerle Inn. Die beiden sind mittlerweile in den wohlverdienten Ruhestand gegangen. Ich freue mich über Fahrrad-, Berg- und Skitouren mit Freunden. Auch darüber, dass der langjährige Freund meines Vaters, Herrmann, mir trotz seiner inzwischen 80 Jahre noch hilfreiche Tennisstunden erteilt. Ich freue mich ebenfalls über das abendliche Faust- und Volleyballspielen mit alten Bekannten sowie die winterliche Skigymnastik in der Sporthalle, die beiden Chöre, bei denen ich die Bassstimme verstärken darf und die wöchentliche Hausmusik bei einem Glas Wein mit Gotthard.
Es hat nicht immer so entspannt ausgesehen in meinem Leben; aber jetzt fühlt sich gerade alles gut an. Was künftig noch kommt ist mein LebenPlus! Während ich den letzten Satz aufschreibe, kommt mir kurz der Gedanke, ob ich das wirklich schon jetzt mit meinen 66 Jahren beurteilen könne und lösche ihn wieder. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Tatsächlich ändert sich jetzt, ein paar Wochen später, die gewohnte Gegenwart sogar bei uns im beschaulichen Oberallgäu. Es bleibt nichts wie es war, mit der beginnenden weltweiten Covid 19-Pandemie. Sie stellt unser bisheriges Leben auf den Kopf. Bisher durften meine Familie und ich, wie auch viele andere Mitteleuropäer, unser Leben als Privilegierte verbringen. Wenn es darauf ankam, konnten wir doch bisher alle Probleme immer schnell in den Griff bekommen. Die schlimmen Ereignisse trafen in unserem zurückliegenden Leben immer nur die anderen. Das würde diesmal vielleicht anders sein. Jetzt sind plötzlich alle Gesellschaftsgruppen gefährdet, egal ob arm oder reich. Das Virus scheint keine Ausnahmen zu machen. Aber wird es wirklich so sein? Was wird der Zusammenbruch der Lieferketten zum Beispiel für Textilarbeiter_innen in Bangladesch bedeuten? Sind Ausgangssperren und Abstandsempfehlungen für Arbeitsmigrant_innen und Tagelöhner in Megastädten überhaupt sinnvoll und machbar? Es fühlt sich jedenfalls gut an, dass unsere Familie, bis auf unseren Sohn Max, diese Krise zusammen und zuhause verbringen darf. Er muss als Krisen- und Sicherheitsmanager der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Karthum die Stellung halten. Viele Kolleg_innen mit unterschiedlichen Nationalitäten warten in Karthum auf eine Möglichkeit, aus dem armen Sudan mit seiner schlechten Versorgung und seinem maroden Gesundheitssystem in Richtung Heimat ausreisen zu können. Max wird das Land vermutlich als Letzter GIZler -hoffentlich gesund- verlassen, oder doch vor Ort durchhalten bis die Arbeit irgendwie weitergeht?
Bei der Dauerpräsenz der „Corona-Krise“, in der sich das Leben so „gedämpft“ anfühlt, müssen wir uns -wie auch der Rest der Welt- jeden Tag ernsthaft bemühen, uns gegenseitig von diesem wenig erbaulichen Thema abzulenken. Wir sind natürlich in Sorge um Max und um die Älteren und Kranken in unseren erweiterten Familien sowie Freunde und Nachbarn. Auch die Weltwirtschaft wird nicht ohne beträchtliche Einbrüche davonkommen. Steigende Arbeitslosigkeit und Armut wird in vielen Regionen die Folge sein. Wir versuchen, mit Gesellschaftsspielen und ausgedehnten Spaziergängen auf andere Gedanken zu kommen. Für mich funktioniert das am besten, wenn ich mich zwischendurch mit Schreiben ablenke. Und so vertiefe ich mich immer wieder in das, was man Erinnerung nennt und sich in meinem Kopf wie ein wirres Labyrinth an Gedankenfetzen anfühlt. Es ist wie mit den alten, unbeleuchteten Tunnels. Zuerst sieht man an der Einfahrt noch ein bisschen, dann kommt das Dunkel und man ist froh, sich überhaupt noch mitten auf der Straße halten zu können und hofft schließlich auf Licht am Ende des Tunnels.
Meine Kindheit im Allgäuer Alpenvorland
Ich war nun sechs Jahre alt und liebte es, meine Kindheitstage draußen zu verbringen. Die Eltern waren meist nachsichtig mit mir, wenn ich zu spät nachhause kam. Sie waren voller Sorge, aber froh, dass ich mich dem normalen Bubenleben stellte und mich in dieser nicht zimperlichen Oberallgäuer Gemeinschaft behaupten konnte.
Vor unserem Gartenhäuschen
Die Sorgen meiner Eltern hatten einen guten Grund. Ich war schon lange krank mit Keuchhusten, spuckte mein Essen immer gleich wieder aus und war dadurch dünn wie ein „Biafra-Kind“, wie man damals sagte. Diese Bezeichnung war wegen der schrecklichen Bilder verhungernder Kinder in den damaligen Medien in aller Munde. In meinen ersten Lebensjahren war nicht klar, ob ich mit dieser schon zulange andauernden Schwächung würde überleben können.
Meine Mutter fuhr ganz gerne einmal im Monat nach Kempten zum Einkaufen und mein Vater spielte derweil eine Runde Schach im Café Weitnauer. Sie zog mir dann immer zwei Paar Kniestrümpfe an, damit ich mit meinen Lederhosen in der Stadt nicht ganz so dünn und erbarmungswürdig aussah. „Nicht, dass die Leute meinen, unsere Kinder bekämen nicht ausreichend zu essen“, sagte sie immer wieder voller Sorge und ein bisschen Scham. Dabei bekam ich doch immer gutes und ausreichendes Essen. Meine Eltern taten alles, damit ihr zweiter Sohn die Krankheit überstehen und ich mich gut entwickeln konnte. Die beiden älteren Schwestern Ursel und Lisa mussten wahrscheinlich manchmal zurückstecken, wenn das „Büble“ wieder mal verwöhnt wurde. Mein sieben Jahre älterer Bruder Willi war im Alter von fünf Jahren tragisch verunglückt. Er war von einem Lastwagen an der naheliegenden Brauerei überfahren worden. Das war ein schrecklicher Schlag für die Eltern, von dem sie sich nie ganz erholten. Ich hatte vier Jahre zuvor noch eine dritte Schwester bekommen. Sie war jetzt zwei Jahre alt und tat der Familie gut, da sie immer wieder ein Lächeln in das oft so ernste Gesicht der Eltern zaubern konnte. Das gefiel uns älteren Geschwistern. Wir hatten Glück, dass die Mutter, eine gelernte Krankenschwester aus dem Ruhrgebiet, immer für uns da war und ein sehr liebevolles Zuhause bot. Sie war für uns immer der sichere Hafen. Am Rande des Ruhrgebiets war sie in Holzwickede, einem bescheidenen, aber liebevollen Haushalt aufgewachsen und hatte während ihrer Sommerferien auf dem Hof ihres Großvaters in Schoningen meinen Vater kennengelernt. Er war dort mit der Pionier-Einheit des „Hunderttausendmann-Heeres“ zu einem Manöver an der Weser. Meine Eltern heirateten ein paar Jahre später und meine Mutter zog auf den Berghof ihres Schwiegervaters.
Meine Eltern vor der alten Bühler Kapelle
Meine Mutter hatte es sehr schwer als „Zugereiste“ auf dem Bühl, wie der kleine Bergweiler hieß.
Einige ihrer Schwägerinnen, die zu Kriegszeiten dort auch noch lebten, machten ihr das Leben nicht leicht. Sie hatte in Köln eine höhere Schulbildung und sogar einen Beruf erlernt, den sie als Beratungsschwester in der Region auch ausüben konnte. Der Neid war ihr gewiss. Aber sie biss sich in dieser für sie fremden Welt durch, bis unser Vater endlich am Ende des Krieges mit einer Granatsplitterverletzung am Kopf zurückkehrte.
Mein Vater hatte viele Jahre früher angefangen, seinen Jugendtraum zu verwirklichen. Er kehrte dem elterlichen Bauernhof den Rücken und machte unter härtesten Bedingungen seine Lehrzeit als Maler. Zuvor war er in seiner Kindheit immer wieder als Hirtenbub an andere Bauern abgegeben worden, um einen Esser weniger am Tisch zu haben. An ein Studium war in den Zeiten zwischen den großen Weltkriegen für einen Bauernbuben nicht zu denken. Da half es auch nicht, dass sein Vater Bürgermeister war. Mein Vater träumte in seiner Kindheit davon, Kunstmaler zu werden. Nach seiner harten Malerlehre suchte er immer wieder nach Möglichkeiten, seine Malerei zu verbessern. Dafür -und vor allem auch, um Geld zu verdienen- ging er sogar ins Ausland, nämlich nach Rom; ein mutiger Schritt zu jener Zeit. Mit Malerei im Allgäu in der Nachkriegszeit Geld zu verdienen, war nahezu unmöglich. Die Leute hatten kein Geld für seine Aquarelle, kunstvolle Beschriftungen oder Bauernmöbel-Malerei. Mein Vater musste versuchen, den Unterhalt für seine Familie mit einem „normalen“ Malerbetrieb zu verdienen. Also machte er die Meisterprüfung und gründete seine kleine Firma. Er bildete Lehrlinge aus, und war bald ein geachteter Prüfer bei den Meisterprüfungen der Augsburger Handwerkerinnung. Aber er konnte das Bildermalen immer nur in kleinen Nischen des Arbeitslebens unterbringen.
Mein Vater war trotz dieser beruflichen Einschränkung dankbar für sein Leben. Er hatte den Krieg knapp überlebt und konnte endlich ein „normales Familienleben“ leben. Das war für beide Eltern der höchste Wert. Er war wegen seiner Korrektheit und Zuverlässigkeit ein sehr respektierter Mann im Dorf. So manche Mitbürger kamen zu uns, den Müllers, ins Haus und holten sich Rat bei ihm. Seine politischen Ambitionen waren jedoch sehr begrenzt. Zu sehr hatte ihn die Zeit gekränkt, als sein Vater von den Nazis mit wüsten Verleumdungen aus dem Amt gemobbt wurde. Erst nach dem Krieg wurde mein Opa wieder als Bürgermeister eingesetzt. Er war auch für uns Kinder eine Autoritätsperson, aber eine gutherzige.
Meine fast zehn Jahre ältere Schwester Ursula hatte das Sagen unter den Kindern, soweit Lisa und ich das zuließen.
Lisa war nur zwei Jahre älter als ich und somit im Alltag oft Weggefährtin, wobei sie immer mal plötzlich anderweitig beschäftigt war, wenn es darum ging, auf unsere kleine Schwester Marianne aufzupassen.
Das übernahm dann ich, der Gutmütigere. Das Aufpassen war nicht immer so einfach, denn Marianne hatte sehr klare Vorstellungen von den Dingen, die sie wollte und nicht wollte und es gab keine Medizin, um sie davon abzubringen.
Es war Geduld gefragt und die besaß ich. Ich war stolz, dass ich das gut konnte. Und Lisa war froh.
Meine Kinderzeit bestand hauptsächlich aus Abenteuern im Freien: Hüttenbauen und -verteidigen, Flöße bauen und bei hohem Wasserstand den Dorfbach bis zum Wehr hinabfahren. Skifahren war besonders wichtig. Das Skifahren war ja das Tolle am oft sechs bis sieben Monate andauernden Winter; erst ohne Lift mit selbst festgetretener Bahn, dann auf der Piste des Dorflifts, den ich mit einigen anderen Buben nutzen durfte, wenn wir vorher immer wieder stundenweise den zahlenden Skifahrern die Schleppbügel gereicht hatten. Skispringen auf selbst gebauten „Böcken“, wie die Schanzentische damals genannt wurden, war auch ein häufiger Zeitvertreib vom Hauber Willi, Kammerlander Gotthard und mir. Entweder hatten wir die am Lift oder oberhalb des Bauernhofs vom Hauber Willi gebaut. Die dorfeigene Sprungschanze war noch eine Nummer zu groß für uns. Über diese sprangen ein paar von uns Buben erst ein paar Jahre später.
Meine Sprungversuche bei der Nordischen Kombination in Weitnau auf der alten Dorf-Schanze
Zunehmend gab es auch längere Ski- und Bergtouren mit unserem Vater, was immer ein besonderes Ereignis war. Während des Wanderns wurde immer viel gesungen. Wir hatten ein großes Repertoire an Volksliedern. Es war unsere Mutter, die uns die Lieder mit allen Strophen beigebracht hatte. Viele Autofahrten und Wanderungen wurden verkürzt mit Dauersingen.
Lisa und ich auf Skitour mit unserem Vater
Die schönste Zeit aber war für uns Kinder die Adventszeit. Dann wurde unter der Leitung meiner Mutter beinahe täglich bei Kerzenschein gesungen. Ursula, als älteste Tochter, war ihr dabei eine wichtige Stütze. Der Höhepunkt war Weihnachten. Geschenke gab es nicht viele, aber einen schönen Christbaum mit Krippe und viel selbstgemachter Musik. Unser Vater war kein großer Sänger, aber er spielte etwas Akkordeon. Meine Mutter und wir Kinder hatten alle Block- oder Altflöte gelernt. Beim Singen sang unsere Mutter selbst immer voller Inbrunst und das ließ uns mit unseren hellen Kinderstimmen andächtig mitsingen.
Weihnachtssingen mit Mutter und Schwestern
Es gab aber auch das tägliche Malen daheim auf der Eckbank am Esstisch und immer wieder die Besuche von Orgelkonzerten. Ich war schon als Kind besonders berührt von Johann Sebastian Bachs Werken. Diese Musik konnte die DNA meiner Seele entschlüsseln. Das blieb mir mein Leben lang erhalten. Musik war eine zweite Form eines Miteinanders in unserer Familie.
Wir hatten noch keinen Fernseher. Beim Schad Albert durfte ich aber ab und zu mal schwarzweißfernsehen. Meistens schauten wir uns Fury oder Lassie an. Wann immer wir uns unbeobachtet fühlten, war es für uns das Größte, einen Wild-West Film zu sehen. Wir spielten dann tagelang die Szenen nach.
Meine Mutter animierte meine Freunde und mich wie auch meine Geschwister oft, Kasperletheater zu spielen und uns dabei eigene Geschichten auszudenken. Am schönsten war es aber, wenn sie selbst ihr Temperament mit den Figuren voll auslebte. Sie hatte ein großes Talent darin, uns Kinder in eine fesselnde Märchenwelt zu entführen.
Kasperle-Theater am Fasching mit Marianne, Lisa und Nachbarskindern
Sonntags wurde mein „Draußen-Leben“ immer durch den Pflicht-Kirchgang gestört. Das war unumgänglich, denn vor allem meine Mutter war sehr gläubig und „erzkatholisch“, was ein bisschen nervte. Ich sollte unbedingt Ministrant werden, allerdings war meine Karriere als Ministrant sehr kurz. Nach der ersten Messe im Ministranten-Gewand, meinem Debut, schickte mich der Pfarrer wieder heim, weil ich mein lateinisches Sprüchlein immer noch nicht auswendig gelernt hatte. Ich war froh darüber. Ich hatte es zwar meiner Mutter zu Gefallen angefangen, aber wenn der Pfarrer mich nicht wollte, war es ja nicht meine Schuld. Mir sollte es recht sein.
Wann immer möglich, ging ich zur Frühmesse, damit ich während des „Hochamts“ um neun Uhr, wenn alle anderen in der Kirche waren, mit anderen Buben Forellen von Hand aus dem Bach fangen konnte. Das war zwar nicht leicht und schon gar nicht erlaubt, aber meine Mutter, die im Gegensatz zu meinem Vater Fisch liebte, nahm die Friedensgabe immer gerne an.
Mit meinem Vater auf dem Grünten
Mit fast sieben Jahren durfte ich für drei Wochen mit unserem Vater auf den Grünten. Dieser Allgäuer Berg war geeignet für Familien-Wandertouren und entsprechend beliebt. Dort oben stand seit Jahrzehnten ein Berggasthaus, das dem Brauereibesitzer aus dem Dorf gehörte. Mein Vater hatte den Auftrag, das Gebäude mit seinen Malerarbeiten wieder ansehnlich zu machen. Diese drei Wochen, in denen ich zweimal täglich sieben hundert Höhenmeter hinunter- und wieder hochrannte, um für den Wirt Besorgungen zu machen, machten mir Spaß und ich merkte, dass ich viel zäher und schneller war als alle anderen. Außerdem spürte ich die Bewunderung der keuchenden Bergwanderer, an denen ich, der kleine, dürre Bub, vorbeirannte. Das gefiel mir. Mindestens einmal am Tag lief ich ganz hinauf zum Gipfel, stellte mich neben das Denkmal und sah sehnsüchtig den Segelfliegern zu, die sich bei gutem Wetter von der Seilwinde hochziehen ließen, um dann nach tragenden Thermikblasen zu suchen. Wenn sie es bis zum Grüntenhang geschafft hatten, trug der Hangwind sie bei nördlicher oder westlicher Windanströmung weit über die Gipfelhöhe hinaus; ganz ohne Motor. Ich war überwältigt von der Erhabenheit der Fliegerei. Mein Traum vom Fliegen mit der Energie der Winde war geboren.
Manchmal stand ich aber nur oben und blickte auf die Wolkendecke hinab. Es gab nur den Himmel, den Berg und diese wunderbaren weißen Wolken, wie Wattebäusche, da unten. Die Versuchung, dort hineinzuspringen, war riesengroß. Ich war immer wieder überwältigt von diesem Reiz, sprang aber dann doch nicht.
Mein Vater war ein bisschen stolz auf seinen Sohn, der hier oben so viel Begeisterung entwickeln konnte. Auch den anderen Menschen fielen meine strahlenden Augen auf.
Getrübt wurden diese Erlebnisse durch einen großen Schrecken, als einmal zwischen dem Sendeturm und dem Denkmal am Gipfel direkt hinter mir eine ungeübte Bergwanderin aus dem Norden mit ihren glatten Schuhen ausrutschte, mit einem Aufschrei den Hang hinabglitt, sich mehrfach überschlug und schließlich über einen Felsvorsprung stürzte und aus meinem Blick verschwand. Die Bergwacht konnte sie nur noch tot bergen.
Eine andere Touristin, die abends noch am Hüttenleben teilgenommen hatte, entschied sich eine Woche danach, trotz Warnungen des Hüttenwirts, noch spät im Dunkeln nach Burgberg abzusteigen. Mein Vater, der das als ausgebildeter Gebirgsjäger für grobfahrlässig hielt, bestand darauf, sie wenigstens die fünfzehn Minuten bis zur wichtigsten Wegabzweigung zu begleiten. Eigentlich ist der Weg, wenn man auf dem Hauptweg blieb, sehr einfach zu begehen. Ansonsten konnte es schon auch gefährlich werden. Nach einer halben Stunde kam mein Vater zurück. Ich musste ins Bett im Matratzenlager und die Männer spielten in der Gaststube weiter Schafkopf. In dieser Stunde musste sich die Frau verlaufen haben und stürzte ab. Das sollten die Kartenspieler aber erst später erfahren. Nach ein paar Tagen war das Grüntenabenteuer vorbei und wir fuhren im BMW-Janus über den Zaumberg wieder heim. Es war wieder ein Erlebnis, von der umgekehrten Rückbank aus den Grünten wieder kleiner werden zu sehen. Einige Wochen später, als ich gerade vom Fußballspielen nachhause kam, spürte ich eine angespannte Stimmung in der Wohnküche. Um die Eckbank saßen zwei ernst dreinschauende Männer, die meinem Vater über zwei Stunden nur Fragen stellten. Sie waren von der Kriminalpolizei aus Kempten. Mein Vater war anscheinend die letzte Person, die die Frau lebend gesehen hatte. Ihre Überreste waren kürzlich unter einer Felswand am Grünten gefunden worden. Außer ihrer Kleidungsstücke war von der Leiche nicht mehr viel übrig, die Füchse hatten mittlerweile ganze Arbeit geleistet. Die Arbeit der Kommissare war schwierig, denn aufgrund des Zustands der Leiche konnte auch ein Gewaltverbrechen nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Zum Glück war die Fundstelle der Leiche weiter entfernt als mein Vater in einer halben Stunde hin- und zurücklegen konnte und da auch die anderen Gäste des Abends im Grüntengasthaus das Alibi bestätigten, wurde unser Vater von der Liste der Verdächtigen gestrichen. Bis dies geklärt war, war die Familie voller Sorge um den Vater.
Die meiste Zeit verbrachte ich draußen, war nun sieben Jahre alt und steckte weit oben im Wipfel der höchsten Fichte des Wäldchens fest. Das war im Wul, ein enges, naturbelassenes Tal, durch das sich der Dorfbach seinen Weg gebahnt hatte.
Ich hatte Angst und spürte einen „kalten Krampf im Nacken“. Jetzt war mir klar, dass es Ernst war. „Warum mache ich sowas“? Das war eine Frage, die ich mir im Laufe meines Lebens immer wieder stellen sollte. Mit meinem Freund, dem Hieble Gottfried, hatte ich gerade mit „Schwertlingen“ auf ungefähr zwanzig Metern Höhe die Bodenplatte für ein Baumhaus gebaut. Da Gottfried an diesem Tag früher nachhause musste, war ich noch geblieben und ganz allein nach „ganz oben“ geklettert, auf den „Ausguck“, um nach eventuellen Feinden – wie zum Beispiel der „Leko-Bande“ – Ausschau zu halten. In meiner Fantasie war die Welt der Indianer voller Feinde. Um die Übersicht über die Feindeslage zu bekommen, war ich irgendwie nach ganz oben in den äußersten Baumwipfel geklettert. Das Dumme war, dass der Kletterweg hinab zum Baumhaus plötzlich nicht mehr sichtbar war. Diese „kalte Angst im Nacken“ war massiv, aber es war mir klar, dass ich irgendwie wieder runter musste.
Mit einer plötzlichen Idee wurde ich wieder ganz ruhig und ließ mich schließlich auf einem dünnen Ast, lang ausgestreckt, hinuntergleiten, um mich dann schnell und akrobatisch wieder an einem tieferen Ast festzuhalten. Das fiel nicht so schwer, denn ich war ja federleicht. Gut, dass meine Eltern das nicht gesehen hatten. Die Gabe, bei Gefahr zwar Angst aber keine Panik zu bekommen und mich plötzlich voll konzentrieren zu können, hatte ich zum Glück wohl von meinem Vater geerbt. Der Rest des Baumes war Routine und ich ging, immer noch voller Adrenalin, nach Hause. Dieses anregende Gefühl gefiel mir. Täglich, außer wenn zu viel Schnee lag, spielte ich mit den anderen Buben aus dem Dorf Fußball und das mit viel Körpereinsatz. Dies bedeutete, dass ich, weil ich zwar schnell laufen, aber wenig Körpergewicht einsetzen konnte, regelmäßig ziemlich rustikal „abgeräumt“ wurde. Das tat meist richtig weh, aber ich empfand das als normalen Teil des Spiels. Ich kannte es ja nur so und ein Indianer kennt ja bekanntlich keinen Schmerz. Ich wurde zunehmend härter im Nehmen und war stolz, dass die anderen keine Rücksicht auf meinen dürren Körper nahmen. Dieser Umstand und dass meine Eltern mir, sicherlich trotz stiller, größter Sorgen, alles ermöglichten, damit ich ein normales Leben auf dem Dorf, meistens „an der frischen Luft“, leben durfte, ließen mich glauben, ein ganz normaler, gesunder Junge zu sein.
Gottfried und ich mit Kronenwirts Ponys Hansi und Maron, vor unserem
Haus
Mit meiner Familie auf Kronenwirts Kutsche, gezogen von Liesl
Die Ferien am Rande des Ruhrgebiets, in die ich regelmäßig geschickt wurde, empfand ich auch tatsächlich als Ferien bei Opa, Tanten und Onkel, obwohl das eigentlich eine vom Arzt empfohlene Verzweiflungs-Maßnahme war. Die Ferien sollten durch die „Luftveränderung“ und deren Wirkungen endlich den Keuchhusten beenden.
Die Tanten -selbst kinderlos- opferten sich für mich auf und lasen mir jeden Essenswunsch an den Lippen ab. Schnell fanden sie heraus, dass Kartoffelpüree in meinem Magen blieb und so gab es das täglich. Mir war es recht, denn ich liebte Kartoffelpüree.
Wenn ich mal nicht so „brav“ war, hielt mein Opa die verärgerten Tanten in Schach. Wenn er mit seinem Eisenbahner-Käppie so im Schaukelstuhl saß, seine Pfeife rauchte und dabei verschmitzt, aber gütig lächelte und dabei eine Augenbraue hochzog, war das Autorität.
Mein von allen geliebter Schomburg-Opa
Auch der Onkel ordnete sich da unter und spielte eine wenig sichtbare Rolle. Er hielt sich immer im Hintergrund auf. Im Alltag „herrschten“ die Tanten, außer wenn eine größere Ausgabe anstand. Dann musste der Beamte im Vorruhestand, Onkel Heinz, herhalten; zum Beispiel, wenn der Junge mal wieder ein neues Modellschiff oder -flugzeug bauen wollte. Das Wohnzimmer der Tanten wurde dazu dem Buben als Werkstatt zur Verfügung gestellt. Es ging mir gut bei meinen Verwandten.
Und die Welt war weiter in Bewegung:
1960.
Zahlreiche afrikanische Staaten werden von ihren Kolonialmächten unabhängig.
In Südafrika toben Kämpfe gegen die Rassentrennung.
Die NATO arbeitet eng zusammen und rüstet auf. Frankreich wird zur 4. Atommacht.
In Algerien rebellieren Moslems gegen französisch-stämmige Siedler.
John F. Kennedy wird neuer Präsident der USA.
Fidel Castro wendet sich von den USA ab und nähert sich der Sowjetunion an.
Die Sowjets sichern sich die Vormachtstellung im „Ostblock“.
China konzentriert seine Vormachtstellung auf Asien. Der europäische Wirtschaftsraum wächst weiter zusammen.
Im Kongo kommt es schon bald nach der Unabhängigkeit zu schweren Unruhen.
Chruschtschow blockiert auf der UN-Vollversammlung in New York eine Regelung über die Zukunft Berlins.
Alles ist immer im Fluss
In der Volksschule, wie damals die Schulen der Klassen eins bis acht hießen, gab es vier Lehrer. Jeder von ihnen unterrichtete zwei Klassen parallel.
Die Schulzeit begann für mich sehr entspannt. Wegen meiner gesundheitlichen Schwächung wurde ich erst mit fast sieben Jahren eingeschult. Ich war anfangs ein guter Schüler. Meine Lehrerin war zwar streng, konnte mich aber motivieren. Schon morgens vor dem Frühstück mit Kaba und Haferflocken malte ich mit Buntstiften oder Wasserfarben Phantasiebilder; und Phantasie hatte ich unerschöpflich. Danach ging es zur Schule. Nach Schulschluss kam ich mit heller Stimme -laut singendheim. Meine Mutter konnte mich die letzten hundert Meter schon heimkommen hören und amüsierte sich jedes Mal. Am Nachmittag ging es dann zum Spielen hinaus an die frische Luft. Wenn das Wetter sehr schlecht war, baute ich zusammen mit Gottfried oder Albert, meinen Freunden aus der Nachbarschaft, komplizierte Maschinen aus Legosteinen, wir spielten mit der Modelleisenbahn, oder ich spielte auch mal eine Runde Schach mit meinem Vater. Im Winter nahm er uns ab und zu zum Orgelkonzert in die Basilika nach Ottobeuren mit.
Schachpartie mit meinem Vater
Die Klassen drei und vier waren für mich sehr bequem. Der Lehrer verbrachte seine Unterrichtszeit oft draußen im Liegestuhl, rauchend oder Zeitung lesend. Ich lernte sofort, diese Zeiträume zum Herumalbern oder Träumen zu nutzen, aber vor allem, wie man sich mit geringstem Aufwand durchmogeln konnte. Ich musste noch von Herbst bis Ostern in der Volksschule bleiben, weil durch den bevorstehenden Schulwechsel ins Gymnasium nach Isny ein sogenanntes Schaltjahr galt.
Ich kannte das kleine Städtchen Isny schon ein bisschen, weil ich dort mit Lisa zusammen schon seit zwei Jahren Flötenunterricht bei Schwester Agnella nahm und seit kurzem bei einem anderen Musiklehrer auch Akkordeon lernte. Es war immer eine gemütliche Zugfahrt dort hin. Anfangs noch mit der Diesellok und den alten Waggons mit den hölzernen Bänken und dann mit dem Schienenbus. Die große Dampflock mit dem riesigen Schneepflug kam nur, wenn es wirklich meterhohe Schneeverwehungen gab. Dann aber warf dieses große Ungetüm weite Schneefontänen zu beiden Seiten. Es war ein Spektakel, das mir in Erinnerung blieb. Im Winter waren die Regeln klar: wenn man sich durch den oft hüfthohen Schnee bis zum Bahnhof durchgearbeitet hatte, musste man eine halbe Stunde warten und kam der Zug nicht, durfte man wieder nach Hause. Leider passierte das nicht so oft, und so hielt man die auftauenden, nassen Kleidungsstücke nach dem Einsteigen vor die Warmluftschächte der Zugwagen zum Trocknen.
Auf der gemächlichen Fahrt spielte ich meistens mit Wolfi, Robert, Ede und Charlie ein paar Runden Auto-, Schiffs- oder Flugzeugquartett.
Und die Welt war weiter in Bewegung:
1965.
Die USA eröffnen den Bombenkrieg in Vietnam, setzen dabei zum ersten Mal Napalm ein und bereiten ihren ersten bemannten Flug zum Mond vor.
Der russische Kosmonaut Leonow schwebt das erste Mal frei im Weltraum.
In Amerika beginnen große Rassenunruhen, worauf Präsident Johnson ein Programm zur Bekämpfung von Armuts- und Massenarbeitslosigkeit initiiert.
In Rom geht das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende, in dem die katholische Kirche ihre Erneuerung in sechzehn Dekreten versucht.
In Deutschland bleibt Erhard Bundeskanzler.
In Berlin wird der Mauerbau weiter vorangetrieben.
Der Konflikt zwischen Indien und Pakistan weitet sich zum Krieg mit bis dahin 5000 Gefallenen aus.
Die jungen afrikanischen Republiken -wie etwa Gambia und Kongo- entstehen.
Rhodesien sagt sich von Großbritannien los.
China umwirbt die jungen Staaten Afrikas intensiv, wenn auch zuerst mit wenig Erfolg.
Nichts ist so beständig wie der Wandel.
Das Gymnasium war anders als das, was ich bisher kannte. Ich war dort fremd. Nicht verwunderlich, denn die Schüler aus Weitnau und Maierhöfen kamen für die Kleinstädter „ausm Boirische“, was zu dieser Zeit etwa gleichbedeutend mit „Hinterwäldler“ war. Nur Mitschüler, die auch von „weit hinterm Wald“ kamen, erschienen mir etwas zugänglicher, wenn sie auch wie ich erst etwas eingeschüchtert waren. Ich fand das seltsam, denn ich fühlte mich nicht geringer als die Schüler der Kleinstadt, war aber irritiert.
Die Schulzeit am Gymnasium veränderte mein bisheriges Leben. Ich konnte nicht mehr einfach so mithalten, ohne aktiv zu lernen. Das war ich nicht gewohnt und ich geriet zunehmend unter schulischen Druck.
Meine Freunde aus Weitnau sah ich kaum noch. In dieser Zeit verschlang ich die Abenteuerbücher von Jack London und plante in meinen Tagträumen meine eigenen künftigen Expeditionen auf der „Sehnsuchtslandkarte“ an meiner Zimmerwand.
Ich verbrachte auch viel Zeit träumend auf dem Schulweg. Das Warten auf den Schienenbus oder als Anhalter an der Straße stehend war anstrengend und es nervte mich zunehmend. Wieviel Lebenszeit ich in meiner Jugendzeit so verbrachte! In meinem Kopf spielten sich dabei die Lieder der Rolling Stones mit “I can get no satisfaction“, „the last time“ oder „Downtown“ von Petula Clarc ab.
Neue Freunde gab es wie zum Beispiel den Kimmerle Peter, zu dessen Familie ich öfter zum Mittagessen eingeladen wurde. Für mich war es eine neue Erfahrung, Zeit in einer Familie mit vier Söhnen zu verbringen. Es war eine „einfache Arbeiterfamilie“ mit einer Mutter, die dafür sorgte, dass aus der Bande Buben auch „was werden“ würde und einem Vater, der zur Arbeit ging, das Geld verdiente und danach seine Ruhe brauchte. Die Mutter war eine Frau mit großem Herzen, auch für mich, dem dürren Buben „ausm Boirische“.
Ich war gerne in dieser Familie. Ein anderer Freund war Gerald, der mich und auch mein Pausenbrot mochte. Bei Gerald zuhause gab es keine Leberwurstbrote. Wenn Gerald die Wurst aus meinem Schulranzen roch und den Duft demonstrativ tief einatmete, viel mir das gleich auf und ich gab ihm jedes Mal die Hälfte ab. Zuhause war meine Mutter immer sehr erfreut über das leere, zurückgebrachte Pergamentpapier, worin das Pausenbrot immer eingewickelt war.
Mit Gerald und Peter unterwegs
Gerald kam aus einer Familie, die nach dem Krieg eine private Akademie für Naturwissenschaften „aus dem Nichts“ aufgebaut hatte. Der Vater als Professor und die Mutter als Haus- und Geschäftsfrau. Die wachsende Akademie war ihr Leben. Geralds ältere Schwestern und Gerald selbst wurden nur einem Ziel untergeordnet: sie sollten später einmal auf eine Familienlegende von Naturwissenschaftlern zurückschauen und vielleicht sogar einmal einen Hochschulstatus für die private Institution erreichen können. Ich galt in dieser Familie zwar immer als ein Störenfried, der ihrem großen Ziel nichts beizutragen hatte und nur den Hoffnungsträger Gerald von der Schule ablenkte, aber Gerald setzte es durch, dass ich hin und wieder – vor dem Nachmittagssport – mit ihm in die Mensa zum Mittagstisch durfte. Wir verstanden uns gut, vor allem, wenn es um Freizeitgestaltung wie Skifahren und Segeln ging.
Wir verbrachten immer mehr Freizeit zusammen und saßen auch in der Schule nebeneinander.
im Tiefschnee am Nordhang des Hauchenbergs.
Besonders in Sprachen, ob Deutsch, Englisch oder Französisch, konnte ich Gerald bei den Klassenarbeiten unterstützen. Die Sprachen fielen mir zu dieser Zeit noch leicht, was sich allmählich änderte. Auch hier war klar, dass ich ohne aktives Lernen immer mehr in eine Sackgasse geraten würde. Irgendwann wurde ich über die Schul-Lautsprecher zum ersten Mal ins Sekretariat gerufen. Der Schuldirektor wollte mich sprechen, um mir mitzuteilen, dass man im Gymnasium in meinem Alter keine Lederhosen mehr trage. Ich sei doch kein Kind mehr. Das war mir wahnsinnig unangenehm. Ich hatte doch keine anderen Hosen und erzählte das meiner Mutter. Sie kaufte mir eine Cordhose.
Im Sport war ich immer noch gut. Trotz meiner schmächtigen Erscheinung konnte ich mich in der Leichtathletik gut behaupten und beim Faustballspiel immer wieder mit meinen harten Schlägen überraschen. Ich wurde im Faustballteam rasch bei den Erwachsenen als „Schläger“ eingesetzt, wie man den Angreifer nannte. Auch mein Vater spielte anfangs noch mit und konnte sehen, wie ich Punkt um Punkt machte. Es tat mir gut, auch eine Insel der Bestätigung zu haben, da die Schule zunehmend zur Katastrophe für mich wurde.
Mit dreizehn Jahren hatte ich beschädigte Kunststoffschalen für ein Segelboot gekauft und sie im Garten vor dem Haus repariert und zusammengebaut. Auch die restliche gebrauchte und reparaturbedürftige Ausrüstung erstand ich beim Atlanta-Bootsbau am Dorfrand, bis ich überzeugt war, dass mein Boot nun segelfertig sei.
Am Niedersonthofener See und mit Lisa bei der Bootsreparatur auf unserer Terrasse
Mein Vater, der mir auch das Geld dafür gegeben hatte, fuhr die Jolle auf dem Autodach zu Verwandten auf die „Insel“ am Niedersonthofener See. Ich setzte mich ins Boot und beobachtete genau, was die Jolle und die Segel im Wind machten, wenn ich das Ruder bewegte oder eine Schot lockerte oder anzog. Natürlich schaute ich mir auch einiges bei anderen Seglern ab. Nach Wochen und Monaten des Experimentierens auf dem Wasser bei Flaute, Sturm und selbst beim Kentern, hatte ich das Boot voll im Griff. Das fiel auch anderen Seglern auf und so durfte ich bald bei Regatten das Werksboot des Atlanta Bootsbaus steuern. Sogar bei der großen Interbootregatta segelte ich zweimal erfolgreich mit. Ich verbrachte einen Großteil meiner Freizeit, öfter auch mit Freunden, auf dem See und spielte mit dem Wind.
Irgendwann blieb ich auf dem Gymnasium sitzen und musste die Klasse wiederholen. Die vorsichtige Anfrage meines Vaters, ob ich nicht vielleicht doch eine Malerlehre machen und später den Betrieb übernehmen wolle, lehnte ich höflich, aber erschreckt ab. Ich wusste, ich wollte etwas ganz anderes, aber ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Da war es aus meiner Sicht naheliegend, erstmal die Schule weiterzumachen.
Meine erste große Kinderliebe in dieser Zeit, sie hieß Rosi, scheiterte an unserer Schüchternheit und blieb, wie so viele Kinderlieben, unerfüllt und damit ein geheimer Schatz in meinem Innern.