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ОглавлениеSehnsucht nach dem Anderen
In den Jahren der frühen Jugend verbrachte ich immer wieder Zeit bei der Familie meines ein paar Jahre älteren Freundes Wolfgang. Mit ihm war ich oft auf Skiern unterwegs oder wir spielten auch ab und zu Tischtennis. Wolfgang arbeitete auf dem Hof seiner Eltern. Er arbeitete immer hart und mit dem Anspruch, alles mit Überzeugung, hoher Qualität und so wenig Maschineneinsatz wie möglich zu erledigen. Im Sommer half ich öfter bei der Heuernte mit, was ich auch gerne tat. Wolfgang lebte ein völlig anderes Leben als meines. Alles war klar strukturiert und die Handlungen festgelegt. Für den gesamten Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Ich saß häufig um halb vier nachmittags mit am Kaffeetisch und war dort über lange Zeit wie ein zusätzlicher Sohn der Familie. Auch Wolfgangs Eltern konnten mich gut leiden.
Auf Wolfgangs Heuladewagen
Ich war in den ersten Klassen auf dem Gymnasium immer etwas schüchtern, schlüpfte aber langsam in die Rolle eines Wortführers und wurde irgendwann sogar zum Schulsprecher gewählt. Die „68er-Generation“ hatte den Muff der Nachkriegszeit aus der deutschen Gesellschaft vertrieben und für eine kulturelle Revolution gesorgt. Die Anführer der „68er“ waren um die zehn Jahre älter als wir und hatten uns vorgemacht, gegen „das System“ zu sein. Also waren meine Mitschüler und ich auch dagegen. Auf die Frage „wogegen?“ hatten wir keine differenzierte Antwort. Wir waren gegen alles und hatten keinen großen Plan.
Einige Bürger der Kleinstadt waren wegen der nun schon seit ein paar Jahren andauernden Unruhe auf dem Gymnasium beunruhigt.
Und die Welt war weiter in Bewegung:
1970.
Politische Krisen, Bürgerkriege und Naturkatastrophen bewegen die Welt. Der Vietnamkrieg dehnt sich auf Laos und Kambodscha aus, während Studenten in den USA mehr innere und äußere Sicherheit einfordern; es gibt dabei zahlreiche Tote.
Die Umweltverschmutzung nimmt weltweit in erschreckendem Maße zu. Als Verursacher und nicht „Löser“ des Problems wird nun der technische Fortschritt gesehen.
Die Konflikte in Nordirland dauern an.
Der französische Präsident De Gaulle stirbt; ebenfalls der ägyptische Staatspräsident Nasser sowie Portugals Ministerpräsident Salazar, der einen archaischen Staat hinterlässt.
British-Guyana wird unabhängig und nennt sich jetzt Guayana.
In Polen steigen unter anderem die Preise für Grundnahrungsmittel um bis zu 30 %. Die Folge sind Unruhen mit Toten.
Die Regierung in Peking feiert pompös ihren 21. Partei-Geburtstag.
Die Ostpolitik Willi Brandts wird in Deutschland kontrovers diskutiert.
Auf der Grundlage des „Weißbuchs“ beschäftigt sich der Bundestag mit der Zukunft der Bundeswehr.
Die Vereinten Nationen feiern ihren 25. Geburtstag. Durch endlose Debatten zwischen den Vertretern der Mitgliedsstaaten droht die UNO, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Nichts ist so beständig wie der Wandel.
Es passierte viel auf der Welt. Zuhause wurden die politischen Ereignisse zur Kenntnis genommen, aber nicht besprochen. Nach dem Krieg gab es für die Eltern wenig Verlangen nach schlechten Nachrichten oder anstrengenden Themen. Unter den Schülern wurde über Sport, das „böse Establishment“ und die „ruchlosen Multis“, wie damals die internationalen Großkonzerne genannt wurden, gesprochen. Es handelte sich meist um Floskeln, die wir von manchen der „68ern“ aufgeschnappt hatten.
Ich wusste wenig über Hintergründe, spürte aber, dass die heile Welt, in der ich zuhause lebte, nicht die ganze Wahrheit sein konnte. Die Musikszene dieser Zeit spielte eine wichtige Rolle in unseren Schülergesprächen. „In the summertime“ von Mungo Jerry war im Radio dauerpräsent, aber auch „El Condor Pasa“ von Simon and Garfunkel und Reinhard Mey´s Ballade vom Pfeiffer.
Ein Jahr später kam es, wie es kommen musste; der Schuldirektor musste durchgreifen. Ich flog von der Schule. Schlechte Leistungen und Aufmüpfigkeit waren die Ursache. Jetzt war klar: Ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung war ich in meinem Leben als Jugendlicher erstmal völlig auf Grund gelaufen. Wochenlang war ich niedergeschlagen und verließ das Haus nur selten. Meine Eltern waren tief beunruhigt und ratlos.
Lange überlegte ich, wie ich nun weitermachen sollte. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und trampte nach Kempten.
Dort wollte ich versuchen, auf dem Allgäu-Gymnasium weiterzumachen. Ich bekam einen Termin beim Schuldirektor, der mich aber kurz und bündig und sehr bayrisch „abblitzen“ ließ. Der Direktor war vorgewarnt worden. Meine Vorgehensweise war offensichtlich sehr vorhersehbar. Ich war das Letzte, was eine gute, bayrische Schule gebrauchen konnte. Zu tief saß die „Revolution“ der 68er-Generation den konservativen bayrischen Lehrern noch im Nacken. Da half auch meine Zusicherung nicht, störende Aktivitäten an der Schule künftig unterlassen zu wollen. Jetzt war ich aus dem Schulsystem gefallen. Ich war nun siebzehn Jahre alt und hatte noch keinen Führerschein. Meine Mobilität hing von Mitfahrgelegenheiten bei Freunden oder vom Trampen ab. Geld war immer Mangelware. So war meine Bewegungsfreiheit ärgerlicherweise sehr eingeschränkt.
Mein Vater hatte das Schul-Dilemma seines Sohnes mit einem Lehrer der dörflichen Schule besprochen. Der konnte über einen ihm bekannten Schuldirektor des Gymnasiums einer Ostallgäuer Stadt erwirken, dass ich noch eine Chance bekommen sollte.
Ich musste am ersten Schultag beim dortigen Schuldirektor als „Büßer“ erscheinen und nahm die absehbare Moralpredigt entgegen.
Sinnigerweise wohnte ich ab jetzt im Schülerwohnheim Sankt Martin. Es war eigentlich alles ganz passabel dort, außer dass meine Familie die hohen Wohnheimkosten tragen musste und ein Wechsel von Baden-Württemberg nach Bayern in der Regel eine Verschlechterung von mindestens 1,5 im Notenbild bedeutete. Bei meinem schlechten Notenstand am Isnyer Gymnasium bedeutete das eine echte schulische Herausforderung oder, ehrlicher gesagt, eine „mission impossible“.
Ich sah meine ersten Eishockey Bundesligaspiele und verstand mich gut mit der Tochter eines großen süddeutschen Bauunternehmers. Sie hatte sehr viel Verständnis für meine ungemütliche Lage und war recht lustig. Ihr Humor tat mir gut. Evi und ich verbrachten viel Zeit miteinander. Wir spielten viele Partien Schach, von denen ich die meisten verlor. Aber ich wurde immer besser. Mir wurde zunehmend klar, dass das mit dem Schulwechsel nach Bayern nicht gutgehen würde und so trampte ich ein paar Monate später –an einem Winterabend– in die kleine Stadt nach Württemberg. Meine sozialen Verbindungen funktionierten noch; besonders mit den Mädels. Es gab keine Mobiltelefone und kein Internet. Die „Botschaften“ wurden entweder über Dritte weitergetragen oder per Haustelefon. Auch Briefeschreiben war noch üblich. Auf jeden Fall funk-tionierte es irgendwie und ich konnte an diesem Abend bei Christine bleiben und übernachten. Wir kannten uns aus meiner Isny-Zeit und hatten ein unkompliziertes „on and off“-Verhältnis. Sie erzählte mir ihre Sorgen um die Ehe ihrer Eltern im zweiten Frühling und ihre Freude über ihre Fortschritte beim Studieren. Wir verbrachten einen unterhaltsamen Abend miteinander. Aber so richtig entspannt war die Nacht nicht vor dem Tag der Tage, nämlich dem nächsten Tag. Christine war schon früh morgens in Richtung natur-wissenschaftlicher Akademie aus dem Haus, als ich ihre Studentenbude verließ. Ich ging meinen „Gang nach Canossa“, um das Unmögliche zu versuchen. Ich verspürte schon etwas Angst auf dem alten Weg zu meinem alten Gymnasium, aus dem ich rausgeflogen war, und ging direkt ins Sekretariat. Bisher war ich dort immer nur erschienen, wenn es über den Schullautsprecher geheißen hatte: „Martin Müller, bitte sofort ins Sekretariat!“ und das immer drei Mal hintereinander im deutlichsten Kommandoton, den die Sekretärin zu bieten hatte. Doch diesmal war das nicht so. Keiner hatte mich gerufen. Ich grüßte freundlich, setzte mich auf einen Wartestuhl und merkte, wie mich die Sekretärin beobachtete. Als sich länger nichts tat, stand ich auf und bat sie höflichst um einen Termin mit dem Direktor. Als die erwartete Antwort – der Direktor habe heute keine Zeit – zurückkam, sagte ich freundlich, aber klar, dass ich so lange bleiben würde, bis der Direktor Zeit für mich hätte. 30 Minuten später durfte ich zu ihm. Der Direktor musterte mich und fragte, erstaunlich freundlich, nach meinem Anliegen. Ich erzählte ihm, dass ich an der Schule in Kaufbeuren gute Fortschritte gemacht hätte, aber nun nicht länger meinen Eltern auf der Tasche liegen wolle, und dass ich deshalb gerne die 10. Klasse an „seiner“ Schule beenden wolle. Meine Fortschritte im Gymnasium hatte mir das Schülerwohnheim großzügigerweise schriftlich bestätigt und das Kosten-argument mit Bezug auf das Wohnheim war ohnehin plausibel. Für mich etwas überraschend kostete der Direktor meinen Gang in die Demut nicht länger aus als nötig. Ich musste ihm „in die Hand versprechen“, dass ich keine Unruhe mehr stiften und meine schulische Leistung nach sechs Monaten zum Abschluss der zehnten Klasse führen würde. Ein weiterer Verbleib in höheren Klassen an seiner Schule sei aber ausgeschlossen. Der Direktor sah mir tief in die Augen und ich gab ihm mein Wort. Das hielt ich auch, und hatte Monate später wenigstens die Mittlere Reife gesichert. Ich verspürte zum ersten Mal Respekt gegenüber meinem ehemaligen und neuen Schulrektor. Soviel Größe hatte ich nicht erwartet. Schließlich war ich ja zurecht von der Schule geflogen. Ich war sehr froh, wenigstens die zehnte Klasse bestanden zu haben.
Die Sommerferien kamen nun sehr gelegen. In diesem Sommer trampte ich zu meiner Freundin Angelika aus Stuttgart, die mit ihren Eltern in den Dolomiten Urlaub machte. Wir hatten uns ein Jahr zuvor beim Skifahren kennengelernt und fühlten uns sehr voneinander angezogen.
Wir waren beide neugierig auf alles, was diese Anziehungskraft bedeutete und genossen sie, wann immer sich Gelegenheit dazu bot.
Die Anziehungskraft muss groß gewesen sein, denn sie drängte mich zu meiner ersten Tour per Anhalter ins italienische Ausland. Angelikas Eltern fanden das nur begrenzt lustig. Aber ihre einzige Tochter setzte sich durch und ich bekam eine „Feigenblattkammer“ im Hotel. Wir sollten über die kommenden Jahre immer mal wieder schöne, wenn auch zu kurze Zeiten miteinander verbringen. Unsere gemeinsame Zeit endete, als Angelika ein paar Jahre später -ich musste damals Anfang zwanzig gewesen sein- die Grundsatzfrage stellte. Sie hatte das Gefühl, sich zwischen zwei Männern entscheiden zu müssen; einem in ihrer Nähe, der gerade dabei war, sich selbstständig zu machen und einen klaren Lebensentwurf hatte und dem anderen, der als Abenteurer unterwegs war und noch nicht wirklich wusste, was er wollte. Sie wollte ihre Entscheidung von einer gemeinsamen längeren Urlaubsreise mit mir abhängig machen. Würde sich das gut anfühlen, fiele ihre Entscheidung auf mich.
Das war mir zu endgültig und zu viel Verantwortung zu diesem Zeitpunkt. So weit war ich noch nicht. Ich hatte das Gefühl, dass sie für sich unbedingt eine Entscheidung suchte. Das war zu viel Druck für mich und so signalisierte ich ihr, dass unter diesen Umständen wohl nur das klarere Lebensmodell für sie in Frage käme. Ich konnte und wollte am Ende eines gemeinsamen Urlaubs keine Zukunfts-Garantien geben. Es fiel uns beiden schwer, uns nun endgültig zu trennen. Ich hatte damals das Gefühl, keine Alternative gehabt zu haben, aber es tat weh.
Irgendwann traf ich Peter aus Isny wieder, bei dessen Familie ich früher ab und zu Mittagessen durfte. Er war auch „aus der Schule gefallen“; ebenso wie Wolfi vom Sonneck aus Weitnau, mit dem ich in unserer Kindheit häufig ausgeritten und mit der Pferdekutsche unterwegs gewesen war. Wir hatten uns in der Kinderzeit in Weitnau wie echte Indianer gefühlt.
Einer von ihnen hatte gehört, dass es einen neuen Schultyp in Bayern gäbe –genannt Fachoberschule– und wir uns doch dort bewerben könnten.
Eine Fachhochschulreife sei besser als keine Hochschulreife dachten wir, bewarben uns und wurden angenommen. Diese Hürde war geschafft. Wir wussten, wie es ab Herbst 1972 weitergehen würde.