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ОглавлениеDas zähe Ringen zwischen Werden und Sein
Die Bundeswehr hatte sich gemeldet und mich für tauglich befunden. Ich sollte also für 15 Monate meine Freiheit aufgeben und dienen. Das konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen und stellte einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung. Den Hinweis von Bekannten, dass der Erfolg erheblich mit der Unterstützung eines Anwalts steigen würde, nahm ich nicht ernst.
Ich hatte mich erstmal mit meinem Freund Wolfgang zu einer Alpenüberquerung verabredet.
Mit Gerald und Wolfgang in den Lechtaler Bergen
Über Wolfgang hatte ich auch Erich und dann seine Frau Karin zunehmend kennengelernt. Sie waren dabei das zu tun, wofür ich mich noch viel zu unreif fühlte. Sie hatten einen klaren Plan für ihr Leben und waren dabei, diesen Plan umzusetzen: den alten Berghof herrichten und ein Leben mit vielen Tieren leben. Sie waren im Begriff, sich mit ihrem abgeschiedenen Bauernhaus ein kleines Paradies aufzubauen. Daneben hatten sie beide noch einen Beruf, dem sie nachgingen, bis die Kinder kamen. Dann blieb Karin erst einmal eine Zeit lang zuhause.
Wenn ich bei Karin und Erich war, traf ich auch ab und zu Gotthard, meinen Skifreund aus der Grundschule wieder. Auch der hatte inzwischen geheiratet und mit seiner Frau Sylvia bald zwei Kinder. Die beiden gingen ihren Berufen nach und betrieben noch zusammen mit Gotthards Eltern für einige Zeit eine Nebenerwerbslandwirtschaft.
Nicht, dass ich so ein Leben nicht gewollt hätte, ich fand das sogar bewundernswert aber ich hätte es damals nicht gekonnt. Trotzdem schafften wir es, Freunde zu bleiben.
Karin und Erich sowie Sylvia und Gotthard
Ich war noch nicht bereit für ein „gesetteltes“ Leben und hatte zu viele andere Pläne und wenn ich gerade keine hatte, ließ ich mich „vom Leben treiben“.
Der Bergwanderweg E5 war gerade entstanden und so ein Weg, von Oberstdorf im Allgäu nach Meran im italienischen Südtirol, reizte uns. Wolfgang und ich waren beide fit und liefen zum Spaß die ersten Tage um die Wette. Es war eine tolle Bergwelt. Im Schnitt stiegen wir 1.500 Höhenmeter auf und dieselbe Menge wieder hinunter. Wir übernachteten auf Hütten oder in billigen Pensionen im Tal. Überall wurden wir freudig aufgenommen. Wir waren, ohne es zu ahnen, noch zu wollen, an der Speerspitze eines neuen Bergtourismus-Booms. Abgelegene, arme Bergdörfer, wie zum Beispiel Rabenstein auf der italienischen Südwestseite des Timmelsjochs erlebten in den folgenden 10 bis 20 Jahren einen sagenhaften Aufschwung; insbesondere die Gasthäuser. Wolfgang und ich hatten großartige Begegnungen mit Gämsen, Steinböcken und anderem Bergwild.
Gämse und Steinböcke
Der Blick hinab auf den Wildspitzgletscher blieb uns noch lange in besonderer Erinnerung. In meinem Kopf spielten Lieder von Hannes Wader. „Heute hier morgen dort“ und „Trotz alledem“.
Es war immer spannend, dem Bergler- und Jägerlatein in den Hütten zu lauschen. 1974 waren die Einheimischen noch froh über jeden Bergsteiger und -wanderer, der bei ihnen übernachtete und ein bisschen verzehrte, selbst wenn es nur eine Suppe und ein Glas Rotwein waren. Auch ein paar Jahre später fühlte man sich trotz der steigenden Zahl an Bergwanderern in den Berggasthäusern und Hütten der Alpen immer noch willkommen. Es gab immer genug Platz. Man musste nicht wie heute reservieren; in der Regel wäre das technisch auch gar nicht möglich gewesen. Ich habe es in diesen Jahren jedes Mal genossen, abends bei einem Glas Rotwein die Geschichten der Bergführer über besondere Klettertouren oder komplizierte Bergungen Abgestürzter zu hören.
-Während einer späteren Bergtour, es muss 1979 gewesen sein, traf ich in einem Berggasthaus unterhalb der Wildspitze den Habeler Peter, der uns seine Geschichte der historischen Erstbesteigung des Everest ohne Sauerstoffflaschen mit Reinhold Messner im Jahr 1978 erzählte. Peter machte keinen Hehl daraus, wie gespalten sein Verhältnis zu Reinhold Messner war. Er hatte bei Weitem nicht so viel Kapital aus dieser Everest-Besteigung ziehen können wie Messner. Er warf ihm indirekt auch immer noch vor, Messner habe durch seinen übertriebenen Ehrgeiz bei der Besteigung des Nanga Parbat im Jahr 1970 das Leben seines Bruders Günter auf dem Gewissen. Wie die beiden, Messner und Habeler, dann 8 Jahre später die historische Everest-Besteigung trotz ihrer emotionalen Spannungen gemeinsam bewältigen konnten war mir damals in der Berghütte ein Rätsel und das ist es immer noch.-
Nachdem Wolfgang und ich nach einer herrlichen Bergwanderung unser Ziel bei Meran erreicht hatten, fuhren wir mit der Bahn zurück ins Allgäu und waren sehr zufrieden mit unseren Erlebnissen während dieser Alpenüberquerung.
Als Wehrdienstverweigerer bei der Bundeswehr
Ich wusste, dass meine Wehrdienstzeit bevorstand und verdrängte diesen Gedanken im Alltag soweit es ging. Entgegen aller Hinweise hatte ich die Verhandlung als Wehrdienstverweigerer ohne Anwalt bestritten und man ließ mich über dieselben Argumentationshürden wie viele andere Verweigerer vor mir stolpern. Zuhause erhielt ich moralische Unterstützung für meine Verweigerungshaltung. Mein Vater, ein Soldat des Zweiten Weltkriegs, hatte nach den langen und elenden Kriegsjahren genug vom Militär und konnte meine Verweigerungshaltung verstehen und akzeptieren. Er betrachtete mich nicht wie viele andere Männer seines Alters als „Drückeberger“. Meine Mutter sowieso nicht. Das tat mir gut. Mit Nachdruck stellte die Bundeswehr sicher, dass ich mich rechtzeitig zum 01. Oktober 1974 zur Grundausbildung in der Kaserne in Stetten am kalten Markt einfand. Die Kaserne war wegen ihres harten Regiments und der meist schlammigen Panzerstraße, vor allem in der Herbst- und Winterzeit, berüchtigt. Ich hatte von der ersten Minute an eine große Abneigung gegen das Militär. In dieser Zeit waren Nazisprüche in einigen Kasernen noch Alltag. Der Ton war rau und wer irgendwie auffiel, war sofort ein „Kameradenschwein“. Ich hielt das, weder im zivilen Leben noch beim Militär für angemessen. Aber das interessierte hier niemanden. Ich wurde einem Sanitätsbataillon zugeordnet und wollte wenigstens versuchen, aus dem Medizinisch-Fachlichen etwas mitzunehmen. Das Exerzieren und lächerliche Herumgebrülle der Unteroffiziere mit ihren gelegentlichen Nazisprüchen ging mir gehörig auf den Senkel. Die merkten das natürlich und ließen mich regelmäßig die ein oder andere Stunde allein auf dem großen Platz „gerade aus“, „links um“ oder „stillgestanden“ und so weiter exerzieren und dabei den „Roboter spielen“.
Stetten a. k. M., meine Stubenkameraden und ich während der Grundausbildung nach einem Nachtmarsch
Irgendwann war der zuständige Unteroffizier dann auch müde und das Unternehmen „Willenbrechen“ hatte wieder Pause.
Dass ich das Gelöbnis zum unbedingten Gehorsam sowie das Schießen verweigerte, machte die Sache noch schlimmer und ich verbrachte zunehmend meine Wochenenden als „Kameradenschwein“ in der Kaserne mit „Sonderdiensten“. Das fiel mir nicht leicht. Ich hielt ja alles aus; aber Freiheitsentzug auf Dauer? Helen sah ich auch immer seltener. Ich spürte, dass der Freiheitsentzug meine Schwachstelle war. Mein Dagegensein, meine Sturheit -ich war mir nicht sicher, ob es wirklich aus pazifistischer Überzeugung war– hatte einen hohen Preis.
Warum machte ich das? Es war einfach so, ich hatte keine Erklärung. Aber dem Druck von „solchen Leuten“ wollte ich niemals weichen.
Als sich bei den Ausbildern herumsprach, dass ich in zweiter Instanz verweigern wollte, kam die „Druckmaschine“ erst richtig in Fahrt und nahm ihren Höhepunkt, als die Entscheidung über das Verhandlungsergebnis bekannt wurde. Ich hatte ohne Anwalt wieder hoch gepokert und auch in zweiter Instanz verloren. Ab jetzt robbte ich die Panzerstraße beinahe täglich rauf und runter. Bei Regen im Schlamm und bei Kälte im Schnee und Eis; stundenlang, bis es den Ausbildern zu kalt oder nass wurde. Manchmal war ich nicht der einzige Robbende auf der Panzerstraße, dann durfte ich, das Kameradenschwein, in einem „Kameradenschwein-Rettungsszenario“ noch ein weiteres Kameradenschwein robbend durch den Schlamm schleppen. Dabei lag man auf der Seite, oder auf dem Rücken, hatte den Arm des „verletzten“ Kameraden über der Schulter und wog zusammen 150 Kilogramm. Die mussten nun im Schlamm, mit den Füßen sich wegstemmend, bewegt werden. Natürlich rutschten die Füße im Morast weg. Da die Hände sicherzustellen hatten, dass die Waffen nicht durch den Schlamm gezogen wurden und dementsprechend hochgehalten werden mussten, waren auch sie keine Hilfe beim Weiterkommen. Der „Verletzte“ durfte nicht helfen. Fünf Meter dauerten so eine Ewigkeit. Es war wie in der Sisyphos-Sage. Und mindestens so anstrengend. Die Quälerei hörte auf, wenn der Unteroffizier keine Lust mehr hatte, in der Kälte zu stehen.
Innerhalb der Kaserne gab es auch eine französische Ausbildungseinheit. Abendliche Schmerzensschreie waren normal. Manche französischen Soldaten wurden offenbar hart geschlagen und dabei flogen häufig Ausrüstungsgegenstände aus den Zimmerfenstern. Anschließend huschten erbarmungswürdige Gestalten in Unterhose ins Freie, sammelten alle Gegenstände wieder ein und rannten in das Gebäude zurück. Danach gingen die Schreie weiter. So gesehen, hatten wir es gut erwischt bei der Bundeswehr. Gegen Ende der Grundausbildung gab es noch einen Orientierungsmarsch durch die Höhen der schwäbischen Alb. Es war nicht nur für die Ausbilder das Jahrgangs-Highlight. Das war es auch für mich. Denn für mich war ein zwölfstündiger Nachtmarsch fast Urlaub im Vergleich zu den anderen „Beschäftigungen“, die man sich sonst täglich für mich ausdachte. Auf Befehl des Zugführers marschierten wir am frühen Abend los. Dabei mussten wir sein Lieblingslied „großer Häuptling Schwarzer Adler“ -von Heino- laut singen. Er schritt dabei jeden ab, ob er stimmlich dabei auch sein Bestes gab.
Nach der Hälfte der Nachtmarschzeit hatte ich einen körperlich völlig überforderten San-Soldaten über die eine Schulter gehängt und über die andere unsere beiden G-3 Gewehre. Das machte mir nicht viel aus; Hauptsache nicht exerzieren oder durch den nassen und eiskalten Dreck robben. Nachts um zwei Uhr fuhr ein Wolf -ein Bundeswehr-Geländewagen-, der Wagen des Hauptmanns der Kompanie, neben uns her. Der sah uns eine Zeit lang zu, und verschwand dann wieder. Nach insgesamt zwölf Stunden erreichten wir unser Ziel, die Kaserne, und durften endlich ruhen. Obwohl ich es nie zugegeben hätte, war ich auch erschöpft. Tage später wurden die Rekruten in das Verwaltungsgebäude gerufen und erfuhren, wohin sie für die restliche Wehrdienstzeit versetzt werden sollten. Außer mir; ich wurde mit harschem Befehlston des fünfundzwanzigjährigen Unteroffiziers mit dem „Nazigetue“ zum Hauptmann befohlen. Ich erwartete nichts Gutes, aber egal, wohin man mich versetzen würde, viel schlimmer konnte es ja nicht werden; hoffte ich. Nach dem „Stillgestanden“ im Büro des Hauptmanns durfte ich „rühren“ und mich sogar setzen. Der Hauptmann musterte mich längere Zeit, und sagte: „San-Soldat Müller, aus Ihnen wird nie ein Soldat“. Ich erwiderte ungefragt, dass ich das auch so sähe und wartete, welche Art von Strafversetzung mir nun mitgeteilt werden würde. Der Hauptmann fuhr fort mit seiner Beobachtung, dass der San-Soldat Müller jedoch sportlich sehr fit und ein „harter Hund“ sei und er mir einen Gefallen tun wolle. Der Monolog nahm nun eine Wendung, mit der ich nicht gerechnet hatte. Die Bundeswehr würde mich als San-Soldaten zu den Feldjägern nach Sonthofen versetzen. Die Feldjäger waren verantwortlich für eine Fortbildungseinheit der Bundeswehr für höhere Dienstgrade sowie die Verwaltung der dortigen Bundeswehrsportschule. Das Letztere war gut. Nach der Versetzung auf die „Burg“ nach Sonthofen musste ich keine Uniform mehr tragen, war Heimschläfer und arbeitete als Laborant in der Sanitätsstation. Die meiste Zeit aber verbrachte ich als San-Begleitung der Trainingsgruppen der Sportschule. Mein Oberfeldarzt hatte schnell bemerkt, dass mir das -im Gegensatz zu anderen Soldaten- Spaß machte. Ich durfte oft bei den Leistungssportlern mitmachen und war einen Großteil meiner Dienstzeit im Wildwasser oder in den Bergen. Wenn die hohen Dienstgrade während ihrer Aus- beziehungs-weise Fortbildungszeit auf den Schießplatz mussten, machte sich deren Ausbilder jedes Mal einen Spaß daraus, mich, den San-Begleiter, der noch nicht mal einen „Balken“ auf der Schulterklappe trug, als Letzten zum Schießen aufzufordern. Ich, der unter einer Zwangssituation während der Grund-ausbildung die Waffe verweigert hatte, hatte mich mittlerweile als guter Schütze erwiesen und meine Schieß-ergebnisse dienten dem verantwortlichen Ausbilder bei dieser Gelegenheit jedes Mal als Demütigung für die Stabsoffiziere. Mir passte das; mir sollte es Recht sein.
Am Bundeswehrstandort Sonthofen gab es drei Kasernen. Zusammen formierten sie eine Faustballmannschaft, die im Kern aus Soldaten der Sportschule bestand. Zwei der Mannschaftsmitglieder hatten zuvor in der Bundesliga gespielt und machten das Techniktraining. Der Plan war, in diesem Jahr bei den deutschen Meisterschaften auf dem Gelände der Sport-Uni Köln teilzunehmen. Es ging nicht um die deutsche Meisterschaft, um die die Bundesliga-Mannschaften kämpften, sondern um die der Bundeswehr, Polizei, THW und der Berufs-Feuerwehren. Irgendeiner der Sportlehrer -ein höherer Offizier- hatte erfahren, dass ich ein Faustballspieler sei und mich zum Training eingeladen.
So eine Einladung war ein Befehl. Ich ging zum Training und kam gut zurecht. Schließlich wurde ich als einziger einfacher Soldat -ohne Strich auf der Schulterklappe- in die erste Mannschaft berufen. Alle anderen waren Offiziere.
Das war wohl eine Ehre aber es fühlte sich für mich nicht gut an.
Vor dem großen Turnier fuhren wir mit einem NATO-oliven Bus nach Landsberg zur Fliegerstaffel. Von dort flog uns einer der Faustballer mit einer Transall der Luftwaffe nach Köln. Wir saßen zu sechst, längs auf heruntergeklappten Bänken in diesem riesigen Transportflugzeug und staunten beim Start über dessen unglaubliche Beschleunigung. Der Flieger konnte ja Panzer transportieren und mit den sieben Faustballspielern flog er an diesem Tag quasi leer. Was für eine Verschwendung, dachte ich mir.
Am Samstag spielten wir unsere Spiele gut; auch ich war in dieser „Halbprofi-Mannschaft“ in bester Form, und wir landeten nach der K.O.-Runde souverän im Halbfinale. Deutscher Meister zu werden, war der Traum des Bundeswehr Standorts Sonthofen. Ich hätte auch nichts dagegen gehabt. Am Sonntag erwischte ich jedoch einen rabenschwarzen Faustball-Tag. Ich spielte so schlecht wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte einen mentalen Einbruch und war völlig verunsichert. Der Traum von der Deutschen Meisterschaft schwand dahin und wir wurden am Ende sogar nur noch Vierte. Dass ich der Hauptverursacher war, wurmte mich unsäglich, aber ich stellte erstaunt fest, dass es kein böses Wort aus der Mannschaft gab. Das machte meine persönliche Niederlage etwas erträglicher. Mit so viel Sportlichkeit unter den ehrgeizigen Offizieren hatte ich nicht gerechnet.
An ruhigen Schlechtwettertagen in der „Burg“ in Sonthofen las ich gerne Alexander Solschenizyn´s Bücher, besonders „der erste Kreis der Hölle“ von 1968 und „der Archipel Gulag“ von 1973. Diese Bücher gingen mir sehr nahe und nährten meine Alpträume.
In meiner Freizeit fuhr ich in dieser Zeit häufig mit einem älteren, von den Profis ausgemusterten Zweierkanadier im Wildwasser, meistens im Ober Lech.
Auf einer dieser Fahrten, diesmal in der Breitach, kenterte ich und trieb bewusstlos 300 Meter durch den Bach. Mein Fußgelenk hatte sich irgendwie im Kniebügel verfangen und ich schaffte es nicht mehr aus dem Boot heraus. Ich wurde durch das Bachbett geschleift und blieb an einer Flachstelle hängen.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, merkte ich, dass meine linke Mittelhand gebrochen war. Ich hatte das Gefühl, dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen zu sein. Mein Vordermann hatte sich zuvor beim Kentern ohne Schwierigkeiten aus dem Boot befreien können. Er war wohlauf und fand mich weiter unten, am Ufer sitzend wieder.
Wir fuhren zurück zur Kaserne auf die „Burg“ und gingen in den San-Bereich. Ich fertigte mir meinen Gips selbst an. Mit dem Dauerkneten einer Verbandsrolle wurden nach einigen Wochen die Finger wieder gängig. Alles war wieder gut.
Ich hatte wieder mal sagenhaftes Glück im Unglück gehabt. Künftig wollte ich doch beim Wildwasserfahren viel vorsichtiger sein.
Während meines Urlaubs bei der Bundeswehr fuhr ich über Ostern mit meiner Freundin Helen, mit der ich schon seit meiner Tätigkeit im Kinderheim „on and off“ zusammen war, zu deren Schwester an den Gardasee. Dieser Reise mit Helen wäre ich gerne aus dem Weg gegangen, denn das Verhältnis zwischen ihr und mir hatte sich abgekühlt und die Trennung stand an. Für mich stand ein Wohnortwechsel bevor und ich wusste, dass dies unsere Beziehung nicht aushalten würde, aber ich konnte den richtigen Zeitpunkt für ein Trennungsgespräch nicht finden. So schob ich die Entscheidung feige vor mir her. Eine gute Ausrede, warum ich nicht mitfahren wollte war mir auch nicht eingefallen und so fuhr ich mit an den Gardasee. Helen war zehn Jahre älter als ich und hatte viel klarere, engere und langfristigere Erwartungen an mich, als das umgekehrt der Fall war. Das fühlte sich nicht gut an. So nahm ich mir auf der Hinfahrt fest vor, unsere Beziehung nach dem Urlaub zu beenden.
Auf der Heimfahrt vom Gardasee fuhr ich mit Helens Käfer zurück über den Fernpass und wurde kurz vor Nassereith plötzlich aus einer Haarnadelkurve getragen. Wir rutschten auf einen kleinen Abhang zu und überschlugen uns zweimal, bevor der Käfer auf dem Dach liegen blieb. In dieser Kurve auf dem Fernpass hatte sich die einzige Eisplatte der gesamten Strecke befunden. Zudem waren die Reifen des Käfers abgefahren. Ich verspürte einen Schmerz an der Schulter. Helen war bewusstlos und wimmerte leise. Ziemlich schnell kam ein von anderen Verkehrsteilnehmern alarmierter Krankenwagen und brachte uns beide in die Unfallklinik nach Zams im Inntal. Helen`s Genick war gebrochen. Bei mir war nur der Rabenschnabel auf der linken Schulter angeknackst aber ich stand unter Schock und wollte nicht wahrhaben, was mit Helen passiert war. Wie durch ein Wunder hatte sie überlebt, wenn sie die ersten 4 Wochen auch schlimme Schmerzen aushalten musste. Nach Einschätzung der Ärzte sollte sie aber wieder vollständig genesen. Lisa kam nach Nassereith und brachte die Kaution mit, die ich bezahlen musste, um die Polizeistation in Nassereith nach der Vernehmung verlassen zu dürfen und brachte mich anschließend nach Sonthofen zurück. Ich war dankbar für Helens Wiedergenesungs-Prognose und unsäglich erleichtert. Eine Trennung erschien mir nun erst mal gar nicht angebracht, denn ich fühlte mich schuldig. Ich besuchte sie, wann immer dies die Bundeswehr zuließ, aber das Beziehungs-Dilemma blieb und ich fühlte mich schlecht.
Die restliche Zeit bei der Bundeswehr war in Ordnung. Ich hatte wegen des anstehenden Wintersemesters beantragt, zwei Monate früher aus dem Wehrdienst entlassen zu werden. Mein zuständiger und mit mir zufriedener Oberfeldarzt setzte sich sehr für mich ein und so kam noch rechtzeitig das grüne Licht vom Kreiswehr-Ersatzamt. Zu dieser Zeit hatte ich mich, optimistisch wie ich war, bereits an der Fachhochschule in Weihenstephan mit Standort in Landshut beworben. Ich hatte kaum Ahnung vom Landwirtschaftsstudium und den damit verbundenen Berufsaussichten, aber erstens wollte ich nicht im bürokratischen Sozialwesen der Republik als studierter Aktenkofferträger tätig sein, zweitens nicht der hunderttausendste Lehrer werden und drittens gaben ehrlicherweise die Zulassungsvoraussetzungen auch nicht viel mehr her.
In dieser Zeit konnte ich in einem Zeitungsartikel lesen, dass es in meinem Jahrgang am Standort Sonthofen einen Fall gab, in dem ein Soldat seinen Wehrdienst beendete, ohne die übliche Beförderung zum Gefreiten und Obergefreiten erhalten zu haben.
Mein erster Versuch als Student
Mein Vater war stolz, dass aus seinem komplizierten Sohn nun doch noch ein Student werden würde und gab mir tausend Mark, damit ich mir einen alten, gebrauchten Käfer kaufen konnte. Das kam mir nach der geldknappen Bundeswehrzeit sehr gelegen.
Ich suchte mir einen Job und eine Wohngemeinschaft im niederbayrischen Landshut und ging neugierig zu den Vorlesungen der Fachhochschule.
Es war wie in einem alten „Pauker-Film“.
Die meisten Dozenten kamen wie Halbgötter in die Vorlesungssäle und hielten straffen Frontalunterricht, in einer Tonlage, die ich -abgesehen vom Militär- als ausgestorben gewähnt hatte. Das wurde nur getoppt, wenn zu besonderen Anlässen „Gott“ kam. Dann stand alles auf und das Sklavenvolk der Studenten, wissenschaftlichen Mitarbeiter und Dozenten bildete eine breite Gasse und huldigte dem Dekan.
Zu dieser Zeit ahnte ich noch nicht, dass ich später noch Chef zahlreicher Promovierter und Professoren werden sollte. Das war zu Landshuter Zeiten einfach unvorstellbar. Ein Gedanke aus entferntesten Galaxien!
Schnell war mir klar, dass die 68er hier in Niederbayern keine „nachhaltigen Wirkungen“ hinterlassen hatten. Ich wollte nicht Teil dieses Films sein und zog mich weitgehend auf mein Privatleben mit Mockele, wie ich meine neue Gefährtin nannte, und eine gute Zeit mit den Mitbewohnern der WG in die einzigartigen Landshuter Biergärten zurück. Die Abende verbrachten wir im Roten Hahn. Dort wurde aus riesigen Boxen „Smoke On The Water“ von „Deep Purple“, „Stairway To Heaven“, Black Magic Woman“ von „Carlos Santana“ und „Highway Star“ von „Led Zeppelin“ sowie „In A Gadda Da Vida“, von den Iron Butterfly -ein monumentales Musik Stück aus den 68ern- im Wechsel „rauf und runter“ gespielt. Zu den harten Rockklängen warfen wir breitbeinig stehend unsere langbehaarten Köpfe in mit „Schwarzem Afghan“ geschwängerter Luft, ein Glas Bier in der Hand haltend, wild hin und her und vor und zurück. Zu den langsamen Stücken saßen wir am Boden und starrten verloren vor uns hin. Es war die Hochzeit der Rockmusik auf dem Weg zu „Heavy Metal“. Wir hatten eine gute Zeit!
Und die Welt war weiter in Bewegung:
1975.
Der Vietnamkrieg geht zu Ende.
Der Suezkanal wird wiedereröffnet.
Die USA, Kanada und die meisten europäischen Staaten verpflichten sich mit dem KSZE-Abkommen zu Frieden, Gewaltlosigkeit und freiem Meinungsaustausch.
Mit General Franco´s Tod beginnt mit der konstitutionellen Monarchie eine neue Ära in Spanien.
Die RAF entführt den CDU-Politiker Lorenz und überfällt die Botschaft in Stockholm.
In Stuttgart beginnt der Prozess gegen Andreas Baader- und Ulrike Meinhof.
Kanzler Schmitt sucht mit anderen Industriestaaten nach Auswegen aus der Weltwirtschaftskrise und besucht als erster deutscher Kanzler Peking.
Nichts bleibt wie es war.
Es wäre ein tolles Jahr in Landshut gewesen, wenn es nicht Helen gegeben hätte. Zwar hatte ich mich nach ihrer weitgehenden Genesung und nachdem ich mitbekam, dass sie nicht mehr verhütete und offensichtlich gegen meinen Willen ein Kind von mir bekommen wollte, rasch von ihr getrennt, aber sie fing an, mich zu stalken. Das war Dauerstress.
Da halfen auch „The Who mit „Won`t Get Fooled again“ nicht mehr.
Als ihre Bemühungen um mich erfolglos blieben, zog sie „ihren letzten Trumpf“ und versuchte, mich mit der Drohung einer Klage auf dauerhafte Arbeitsunfähigkeit zu erpressen. Das war damals nicht ungefährlich, da wegen einer gesetzlichen Versicherungslücke der Autoversicherer nicht zuständig war, wenn eine andere Person das Fahrzeug lenkte und dabei der Halter und Versicherungsnehmer verunglückte. Das wussten die wenigsten Leute; ich auch nicht.
Aber dieser Alptraum war nun plötzlich Wirklichkeit geworden.
Helen musste, bevor sie die Klage einreichen konnte, einen Facharzt finden, der ihr die dauerhafte Arbeitsunfähigkeit bescheinigen würde. Bei dieser Art von Nackenwirbelbrüchen war das nicht chancenlos.
Helen hatte inzwischen über viele Monate erfolglos mehrere Ärzte konsultiert und es dauerte zum Glück lange, bis sie einen Facharzt fand, der ihr das gewünschte Gutachten ausstellte. Da ich zu ihrem Erstaunen trotzdem nicht zu ihr zurückkehren wollte, entschied sie sich, mich in die Hölle zu schicken.
Sie reichte die Klage ein. Ich sollte für ihre angebliche Berufsunfähigkeit mein Leben lang horrende Summen bezahlen müssen.
Ich war fertig mit meinem „Glauben an die Welt“ und suchte mir einen Anwalt. Zu meiner großen Erleichterung wurde ich bald schriftlich informiert, dass Helens Klage um ein paar Wochen zu spät eingegangen und somit verjährt war.
Da hatte ich wieder mal großes Glück gehabt. Ich war froh, dass doch fast alle der von Helen konsultierten Ärzte ehrliche Arbeit geleistet und den versuchten Racheakt erahnt hatten. Somit konnte viel Zeit verstreichen und die Verjährung für Helens Klage wurde effektiv.
Helen gab schließlich auf und das Stalken war endlich beendet. Auch meine Schwester Lisa hatte beratend dazu beigetragen, dass Helen endlich Ruhe gab.
Ich hatte dazugelernt. Ich wusste, dass ich künftig verantwortungsvoller und vorsichtiger agieren musste. Ich wusste aber auch, dass das, was man in Landshut studieren nannte, nicht meine Welt war. Ich meldete mich konsequenterweise an meiner Fachhochschule ordnungsgemäß wieder ab.
Auch von Mockele verabschiedete ich mich. Wir mochten uns auf eine unkomplizierte Art sehr. Es war eine schöne, leichte Zeit, wie wir befanden, aber es sollten noch viel mehr solcher Zeiten kommen. Es gab ja noch viele nette Jungs und Mädels auf dieser Welt! Das machte es uns beiden nicht so schwer.
Meine Eltern sahen den Studienabbruch in Landshut mit Sorge, aber es gab bei ihnen ja den Grundsatz, dass egal was passierte, die Kinder immer zuhause willkommen waren und so war es auch diesmal.
Für eine kurze Zeit wohnte ich erstmal daheim und musste mich wieder um meine Finanzen kümmern. Der Käfer hatte mittlerweile den Geist aufgegeben. Mobilität in diesem Alter im ländlichen Allgäu war aber das Wichtigste!
So erstand ich einen alten VW-Bus, einen T1, mit getrennter Frontscheibe. Der hatte noch drei Monate TÜV, konnte mit erlaubter Überziehung von drei Monaten aber noch ein halbes Jahr gefahren werden.
40 Jahre später war der T1 ein beliebtes Kult-Auto, das sich aber nur noch sehr wenige leisten konnten. Mein T1 war fast schrottreif, fuhr aber noch. Er kostete nur 150 Mark. Ich baute eine feste Holzpritsche als Bett ein und hatte sehr viel Spaß mit meinem VW-Bus.
Es gab viele böse oder gar obszöne Spitznahmen für mein bewohnbares Gefährt. Meinen Eltern war das glaube ich peinlich, aber sie sagten nichts. So ein Gefährt mit bunten Vorhängen, wie die Hippies das vorgemacht hatten, war im Allgäu halt ungewohnt.
Mit der schönen Tanja mit den Po-langen blonden Haaren, die ich seit meiner Kemptener Fachoberschulzeit kannte, und die damals noch anderweitig liiert war, fuhr ich mit dem T1 ein paarmal nach Berlin.
Die Szene dort machte mich neugierig. Das Leben in den Kommunen fand ich faszinierend.
Es waren aber rasch der Drogenkonsum und die Art der Geldbeschaffung – Klauen oder Anschaffen –, die mich abschreckten. Ich war wohl doch zu anders aufgewachsen und merkte schnell, dass mir die Zeit dort in den dunklen Hinterhöfen von Berlins Stadtteil Kreuzberg auf Dauer nicht guttun würde. Es war für mich nur ein kurzes Reinschnuppern aus Neugier und das sollte auch so bleiben.
Gut, dass ich damals immer wieder zu Faustballturnieren ins Allgäu musste. Meine schöne Tanja sah das anders und blieb irgendwann in Berlin zurück.
Leider hatte ich nach fünf Monaten einen unverschuldeten Unfall. Ein Linienbus rutschte mir bei Glatteis kurz vor der Hochgrat-Talstation frontal gegen den Ersatzreifen an der Front meines T1. Die Vorderseite wurde ziemlich eingedrückt, aber machte zum Glück rechtzeitig vor meinen Knien halt. Mit dem Versicherungserlös für den Totalschaden von 1.500 Mark kaufte ich mir einen alten T2 und baute auch den zum Reisebus um. Die Welt lag mir zu Füßen.
Im T2 mit Gitarre, Bluesharp, Gerald und weiteren Freunden, abends nach einer Besteigung des 2700 Meter hohen Monte Cinto auf Korsika
Ich reiste viel nach Süden, Norden und Westen – im Osten war ja die Mauer-, auf der Suche nach etwas, das ich weder bereits kannte und schon gar nicht bisher gefunden hatte. Ich war ein „Getriebener durch Raum und Zeit“.
In dieser Zeit arbeitete ich immer wieder als Bierfahrer. Besonders gerne mochte ich dabei, die abgelegenen Gasthöfe und Vereinshütten auf den Bergen zu beliefern. Nach getaner Arbeit gab es immer jemanden, wie den Postboten, den Kaminkehrer oder einen der Handwerker, der mit mir zu einer vom Wirt gestifteten Brotzeit, einer Halben und einem netten Gespräch bei Ober Krainer Musik eine gute Zeit verbrachte. Ich genoss es sehr, dass mir die Mädels „wohlgesonnen“ waren und hatte eine wunderbare Zeit.
Mir war aber auch klar, dass dieses „Lust- und Laune-Leben“ zeitlich begrenzt war und ich mich schon auch bald wieder um mein Studium kümmern sollte. Dazu musste ich aber ein halbjähriges Praktikum in einem landwirtschaftlichen Betrieb vorweisen und das hatte ich noch nicht zusammen.
Von Verwandten im niedersächsischen Schoningen, die gerade die Eltern besuchten, bekam ich in Sachen Praktikum einen nützlichen Hinweis. Meine Verwandten hatten die Landwirtschaft in Schoningen zwar aufgegeben, aber sie wussten von einem Bauern am Rande des Dorfes, der einen Praktikanten suchte. Aus Schoningen stammte auch mein Großvater. Auch meine Eltern hatten sich dort kennengelernt.
Eine arbeitsreiche Zeit auf dem Bauernhof begann. Es wurde Herbst und ich musste immer morgens um halb fünf aufstehen.
An meinen freien Tagen besuchte ich hin und wieder Verwandte, die auf verschiedenen, meist unbewirtschafteten Höfen lebten und mir, aus der Perspektive meiner Generation, wie aus einer anderen Zeit erschienen. Es lebten fast nur alte Leute dort. Trotzdem mochte ich das irgendwie. Ich war so erzogen worden, dass man älteren Leuten freundlich, hilfsbereit und mit großem Respekt begegnete. Oft sprach ich mit ihnen in der dritten Person, was ihnen gefiel.
Meine jüngere Verwandtschaft war ebenfalls sehr freundlich zu mir.
Sie ließen mich sogar am Training ihrer Handball-mannschaft teilhaben. Diese Sportart war in Schoningen das, was bei mir zuhause der Fußball oder das Skifahren war: wirklich wichtig! Ich war dort als schneller Läufer und sicherer Werfer gerne gesehen und freute mich darüber.
Auf dem Hof ging es derbe zu. Der Bauer in den mittleren Jahren hatte eine Beziehung zu einer jungen Bäuerin, die ungefähr 25 Kilometer entfernt lebte. Sie wollten unbedingt beide Höfe weiter betreiben und halfen sich gegenseitig aus. Für Allgäuer Verhältnisse waren die Höfe mit je 80 und 100 Milchkühen groß. Wie der Lebensplan der beiden auf die Dauer aufgehen sollte, war mir ein Rätsel. Ich machte meine Arbeit. Jeden Morgen brachte ich erstmal die Herde zur Weide.
Es gab trotz der vielen Arbeit oft schöne Minuten. Ich liebte es vor allem, wenn die Herde früh morgens so allmählich aus dem Morgennebel herausstieg. Der Nebel lag unten im Tal. Die obere Hälfte des Hangs war schon sonnig und es herrschte außer dem ruhigen Schnauben der Kühe absolute Stille. Ich mochte es auch, wenn ich beim Pflügen den saftig glänzenden und frisch gewendeten Boden sah. Meine Furchen waren schnurgerade. Da hatte ich meinen Ehrgeiz, egal was es war. Der Bauer zeigte mir jeden Arbeitsvorgang für einige Minuten, übergab mir dann die jeweilige Maschine und fuhr davon. Das war wirklich mutig und eigentlich auch verantwortungslos, aber irgendwie funktionierte es.
Nur das Drillen -das Sähen- machte der Bauer alleine. So waren eben seine Regeln.
Wenn ich alleine auf einem knapp 70-PS Traktor, mit zwei hintereinander gekoppelten Zweiachshängern über die Landstraße zur Zuckerrübenfabrik fuhr, war mir bei den vielen Tonnen, die ich da bewegte, schon manchmal Angst. Auch das war eigentlich unverantwortlich, denn der Traktor war zu klein dafür. Beim Einfahren in das Fabrikgelände und dem Abkippen ging es immer ganz eng zu mit so einem „Langfahrzeug“. Jeder Handgriff musste beim Abkippen sitzen, sonst brüllte ein Fabrikarbeiter auf dem hohen Überwachungsturm zur großen Freude der anderen auf dem Gelände „unflätige Feststellungen“ durch die Lautsprecher.
Es war mir klar, dass ich hier schnell aus Fehlern lernen musste, sonst könnte es teuer werden. Unter Druck lernte ich schnell.
Der Umgang mit Tieren und Maschinen gefiel mir und ich machte, glaube ich, meine Arbeit ganz ordentlich.
Die Mutter des Bauern lebte mit auf dem Hof. Sie hatte einen schweren Stand. Außer, wenn ihre jüngste Tochter Ruth da war, dann riss sich der Bauer mit seinen Aggressionen gegenüber seiner Mutter immer zusammen. Solche innerfamiliären Grobheiten, die einmal darin gipfelten, dass er leere Melkeimer zehn Meter durch den Stall nach ihr warf, waren mir in meiner bisherigen Welt noch nicht begegnet. Die Mutter musste danach von mir verarztet werden. Ich warnte den Bauern, dass ich, wenn das nochmal vorkommen würde, den Leuten im Dorf über die Zustände auf dem Hof Bescheid sagen und ihn mit seiner Arbeit alleine lassen würde.
Es war für die Bauernfamilie ein Entspannungsfaktor, wenn Ruth ihr Wochenende nun immer zuhause verbrachte. Sie war sehr freundlich und interessiert an mir, dem schwarzhaarigen, jungen Allgäuer. Für mich, der ich gerne unkomplizierte Beziehungen unterhielt, wurde es langsam eng und ich nutzte den nächsten Wutausbruch des Bauern, um mit meinem T2 wieder nach Süden zu fahren.
Die ganze Fahrt lief dieselbe Kassette: „Supertramp“ rauf und runter wie meistens in dieser Zeit. Man konnte sich dabei mit einem Arm am Fensterrahmen aufstützen und mit der rechten Hand am Steuer, so herrlich im Rhythmus des E-Pianos auf dem Sitz mithüpfen.
Meine Eltern machten sich wieder Sorgen.
Ich konnte sie verstehen, aber ich hatte für mich das eindeutige Gefühl, es schon richtig gemacht zu haben.
Ich ging wieder arbeiten -Nachtschicht in einer nahegelegenen Druckerei- und verbrachte einen tollen Skiwinter in den Bergen.
Das war wieder mein Leben.
Im Frühjahr las ich in der Zeitung, dass ein Amerikaner namens Mike Hawker der erste Mensch war, der mit einem Delta-Flugdrachen von den Allgäuer Bergen flog. Schlagartig erinnerte ich mich an meine Kindheitsträume, in denen ich das Fliegen so bewundert hatte. Ich erkundigte mich nach einer Flugschule und lernte das Drachenfliegen.
In den nächsten Monaten war ich, wenn das Wetter mitmachte, nur noch in der Luft und flog erst von kleinen, dann von größeren Bergen. Nach zwei Monaten fühlte ich mich so sicher, dass ich am liebsten in den Südtiroler Felsmassiven der Dolomiten flog. Nicht viele meiner Fliegerfreunde konnten in dieser Zeit so die Aufwinde nutzen, so lange oben bleiben und punktgenau landen wie ich. Mein Bergsteigerdrachen -Bergfex- war für meine Bergtouren das ideale Fluggerät: klein und leicht, auf Skipackgröße zusammenfaltbar, konnte er auf eine Alu-Kraxe fixiert getragen werden.
Start von Vérel in Frankreich
Am spektakulärsten waren meine Klippenstarts. Dabei stand ich oben am Start an einer Felskante, warf etwas Leichtes vor mir in die Luft, um den Wind genau zu erkennen, und ließ mich ohne Anlauf, aber mit einem lauten Urschrei nach vorne kippen. Ich musste dabei die Nase des Drachens entgegen der Intuition stark nach unten ziehen und beschleunigte so mein Fluggerät aus dem Stand. Dabei wurde der Kopf nach vorausgegangener Nervosität in den Minuten davor explosionsartig klar und der ganze Körper bereit zu Höchstleistungen.
Ich war süchtig nach dem Adrenalin, das ich auf diese Art immer wieder neu produzieren musste.
Abendthermik über dem Lac d`Annecy
Meine neue Freundin Angie war oft dabei. Sie war Studentin in Isny und hatte dort auch ein Zimmer. Vor meiner Nachtschicht verbrachten wir meist die Abende in den Kneipen und verstanden uns gut. Beide hatten wir nicht die Erwartung von einer Dauerbeziehung in unseren Köpfen. Dafür waren wir zu jung. Angie war gut drauf. Und ich auch. Sie war zwar nicht immer amüsiert, wenn das Adrenalin, das meine Augen funkelnd strahlen ließ, die Blicke der anderen Mädels auf mich lenkte. Aber sie konnte immer wieder gut darüber hinwegsehen.
Die Mädels waren einfach an mir interessiert und machten keinen Hehl daraus. Das gefiel mir natürlich.
Mein Leben bestand aus Fliegen, Skibergsteigen mit meinen Freunden Gerald und Franzl, nette Mädels treffen und Nachtschichten in der Druckerei.
Mit Gerald und Franzl per Tourenski beim Sonnenbaden vor einer Hütte auf dem Immenstädter Horn
Nach einer Dolomiten-Tour mit Tourenski, Kayaks und Drachen wieder zuhause
Wann immer die Zeit es hergab, war ich in den Dolomiten. Dort in den gewaltigen Felsmassiven um Sella, Marmolata und Langkofel zu fliegen und nach Thermik und Aufwinden zu suchen, war für mich das Größte. Es waren immer wieder außergewöhnliche Erlebnisse, wie zum Beispiel sich im langsamen Vorbeiflug mit den Kletterern in den Felswänden lustige Bemerkungen zuzurufen. Diese spektakulären Bilder und der vom Adrenalin geformte euphorische Klang unserer Stimmen blieben mein Leben lang in meiner Erinnerung.
Start mit einem von meinem Fluglehrer geliehenen Drachen am Langkofel in den Dolomiten
Ich wusste, dass ich auch endlich wieder mal mein Studium aufnehmen sollte, dazu fehlten mir aber noch einige Monate Praktikum im Ausland.