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Die Jagd auf das Neue und nach der unbegrenzten Freiheit

Durch Europa

nun wollte ich mich mit Peter erstmal um Allgemeinbildung kümmern. Dazu brauchten wir Geld, das wir uns in einem Ferienjob verdienen wollten. Ich arbeitete als Beifahrer im Brauereilastwagen und musste zum Beispiel zur Belieferung von Bierdepots in Oberstdorf, Kressbronn am Bodensee und in Ludwigsburg zusammen mit einem der beiden Sepps unzählige Bierkästen und -Fässer laden und abladen. Aber harte Arbeit machte mir nicht viel aus.

Peter und ich hatten von einem europäischen Projekt „Interrail“ gehört. Das war neu und zielte darauf ab, die Jugend Europas durch Bahnreisen in die europäischen Städte zusammenzubringen. Das Monatsticket war sehr billig und in kürzester Zeit sehr beliebt. Das Rucksackreisen ging in eine neue Dimension. Man übernachtete in der Bahn, auf Bahnhöfen oder in Stadtparks. Schon ein Jahr später reagierten die Behörden und das Übernachten in Bahnhöfen und öffentlichen Parks wurde in vielen Ländern verboten. Das Interrailreisen wurde dadurch teurer.

Peter und ich fuhren innerhalb von vier Wochen zum ersten Mal in unseren Leben über die Schweiz nach Frankreich, Spanien, Marokko, Portugal, wieder Frankreich, Belgien,

Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Wir trafen viele Gleichaltrige. Es war für uns „junge Losgelassene“ eine rauschende Fahrt in die große Freiheit, wenn auch Schlafmangel zum Dauerzustand wurde. Wir trafen in Spanien Maria, eine portugiesische Medizinstudentin. Sie war ein auffallend hübsches Mädel mit „Miss-Titel“. Maria war zusammen mit ihrem Freund am Strand und strahlte mich an; ich strahlte zurück. Maria sollte mich ein Jahr später in Deutschland besuchen, um anschließend eine ausgedehnte Reise nach Skandinavien mit mir zu machen. Es entstand für die Dauer von zwei Jahren eine leichte, unbeschwerte „on and off- Romanze“.

Peter hatte Freunde in Amsterdam. Die besuchten wir und erlebten das „verruchte“ Harlem im Amsterdam der 1970er Jahre. Die Faszination endete jäh an einem späten Abend, als mir vor einer Disco die Geldbörse aus meiner Hosentasche gezogen wurde. Ich bemerkte das im letzten Moment und verfolgte den flüchtenden Dieb. Da ich ja schnell laufen konnte, stellte ich ihn nach einigen hundert Metern. Der junge Mann griff mich in seiner Verzweiflung plötzlich an.

Ich war außer mir vor Wut und schlug auf den Jungen ein, bis der regungslos auf dem Parkplatz liegen blieb. Dann nahm ich mir meine Geldbörse zurück und verschwand. Ich war sehr erschrocken über mich.

Diese unbändige Wut kannte ich bisher nicht von mir. In einem nahen Gebüsch übergab ich mich. Jetzt merkte ich, dass die Geldbörse leer war. In den Zelten der Hippies in Harlem bekam ich keinen Platz zum Übernachten und so lief ich die ganze Nacht viele Kilometer zu Fuß durch die Stadt, fuhr ein Stück per Anhalter nach Den Haag, bis ich das Haus der holländischen Freunde wiederfand. Dort hatte ich meine Papiere aus Sicherheitsgründen hinterlegt.

Wir legten einen Zwischenstopp bei meinem Opa, dem Onkel und den Tanten ein. Bei ihnen lieh ich mir etwas Geld für die weitere Reise. Die Weiterreise in Richtung Skandinavien war im Vergleich zur Reise durch den europäischen Süden erholsam. Man wurde an den Schlafplätzen in Ruhe gelassen und die Züge waren komfortabel. Ein weiterer Vorzug von Interrail war auch, dass Linienschiffsfahrten stark vergünstigt waren und so fuhren wir mit dem legendären Postschiff im nördlichen Norwegen von Narvik aus durch die Lofoten. Bequemer als auf den Sesseln in der Lounge war es, in den Rettungsbooten auf dem Oberdeck ausgestreckt zu liegen und zu schlafen. Außerdem wurde man auf diese Weise nicht so leicht seekrank.

Es war traumhaft schön dort im nördlichen Norwegen auf den Lofoten; ein Licht, das ich in solcher Schönheit noch nie gesehen hatte. In meinem Kopf spielten wie so oft Orgelwerke von J. S. Bach. Zwischendurch ging ich zum Aufwärmen hinab in die Lounge und setzte mich auf einen der vielen Plastiksessel. Dabei nahm ich plötzlich die aufgeregte Stimme eines britischen Fernsehmoderators wahr.

Es war ja 1972 und gerade liefen die Olympischen Spiele in München. Auf dem Bildschirm sah man Hubschrauber und rennende Menschen. Die Fernsehbilder der BBC schockierten mich. Israelische Sportler waren von arabischen Kämpfern angegriffen und getötet worden. Ich war inmitten meiner großen, schönen Freiheit völlig irritiert und fragte mich, woher dieser Hass kam, der Menschen unschuldige Sportler töten ließ.

Diese Fernsehbilder beschäftigten mich sehr in meiner heilen Entdecker-Welt. Sie ließen mich während der gesamten Reise nicht mehr los.

Neben meiner heilen gab es offenbar noch eine ganz andere, hässliche Welt.

Jahre später verstand ich Motiv und Hergang dieser Tat viel besser. Ich hatte sogar Gelegenheit, den damaligen Hubschrauberpiloten der GSG-9 zu sprechen, dessen Maschine bei dem Attentat abstürzte. Er war seit dieser Zeit nicht mehr GSG-9 tauglich und wurde „nur“ noch bei bestimmten Flügen als Sicherheitsbeamter in Lufthansamaschinen eingesetzt.

Ein paar Tage später in Nordschweden war ich wieder begeistert von der traumhaften Landschaft.

Das schwedische Lappland war dünn besiedelt; die Menschen freundlich.

Am Bahnhof in Kiruna, erzählten mir deutsche und französische Rucksackreisende, wie begeistert sie seien von diesem Land. Die Leute seien ehrlich und so gutgläubig und überall stünden Fahrräder herum, die man einfach nutzen und irgendwo wieder abstellen konnte. Wieder war ich irritiert.

Die Menge andersdenkender Menschen war viel größer als ich dachte. In den kommenden Jahren wurden die Fahrräder abgeschlossen und die Einheimischen waren nicht mehr so freundlich. Nach vier Wochen hatte ich viele Erfahrungen gesammelt. Ich hatte viele andere Neugierige getroffen, sowie auch die „Ideologie-Imperialisten“, die mit ihrem unstillbaren Sendungsbewusstsein ihre Weltvorstellungen nicht für sich behalten konnten und wollten.

Vor uns konnte keine Generation so frei durch Europa reisen. Davon wollte ich mehr. Die Welt hatte mich neugierig gemacht.

Wir mussten nach unserer Interrailtour erstmal viel schlafen, bevor wir unser neues Schülerleben beginnen konnten. Die neue Fachoberschule war noch nicht ganz sortiert, aber mit Lehrern bestückt, die einen 68er Hintergrund hatten und den, an bayrischen Schulen noch strengen „Paukerstil“, durch etwas Freieres und Moderneres ersetzen wollten.

Das gefiel uns neuen Fachoberschülern und das Interesse, am Unterricht teilzunehmen und sich zu beteiligen, wuchs an. Die Klassengemeinschaft war gut und wir Schüler verbrachten häufig auch unsere Freizeit miteinander.

Im Winter wie auch im Sommer waren wir oft auf den Allgäuer Berghütten unterwegs. Die Zweiliterflaschen Lambrusco -der billigste Rotwein seinerzeit- gehörten dazu, genauso wie meine Gitarre, zu der wir sangen und abwechselnd spontan unsere eigenen Strophen zu bekannten Liedern dichteten. Bob Dylan, Leonhard Cohen, Joan Baez, genauso wie Deep Purple, Uriah Heep und die Stones waren unsere musikalische Inspiration. Ich verbrachte viel Zeit mit Schnurzi, einem Mädel aus Sonthofen, das die Berge, Freiheit und Natur genauso liebte wie ich. Sie war „ein echter Charakter“. Wir konnten streiten, manchmal stundenlang, ohne hinterher verletzt zu sein. Unser Verhältnis würde man heute mit „Beste Freunde“ bezeichnen. Damals wussten wir das noch nicht so genau.


Mit Schnurzi in den Lechtalern

Im Spätsommer verabredete ich mich mit meinem Freund Gerald und „Miss Portugal“ zur zweiten Interrail-Reise nach Skandinavien. Wir verbrachten erst ein paar Tage im Allgäu und ich war erstaunt, wie gut sich Maria auf mein etwas anderes Leben einstellen konnte. Wir hatten ein enges, aber völlig unkompliziertes Verhältnis.


Mit Maria in Kopenhagen


Ausflug mit Maria auf meiner alten NSU-Lux

Als wir dann auf lange Fahrt gingen und Gerald dazu stieß, wurde es noch interessanter, da er auch sehr an Maria interessiert war. Ich redete grundsätzlich nie mit anderen über meine Beziehungen zu Frauen, auch nicht mit Freunden, und so brauchte es eine Weile, bis sich alles „eingerüttelt“ hatte.

Zu Fuß durch Lappland


Maria und Gerald an der russischen Grenze beim Geschirrwaschen. Im Hintergrund ein sowjetischer Wachturm

Maria, Gerald und ich erlebten, wie schon zuvor im Allgäu, auch auf unserer Interrailreise ein paar schöne gemeinsame Wochen. Die langen Bahnfahrten durch Seenlandschaften, Wälder und Tundra, sowie die herrlichen Strecken mit dem Postschiff in Norwegen hielten alles, was wir uns an landschaftlichen „Highlights“ erhofft hatten.


Abendessen auf dem ostfinnischen Bahnhof in Joensuu

Maria musste uns nach drei Wochen Fahrt aus terminlichen Gründen verlassen. Es war eine gute gemeinsame Zeit, alles fühlte sich leicht und entspannt an. Wir konnten uns einfach nehmen, wie wir waren.

Gerald und ich waren nun nur noch ein Jungs-Team. Wir waren jetzt nach unserer Überzeugung „abenteuerfähig“.

So entschieden wir uns zwischen Narvik und Kiruna spontan, am Abisko-Nationalpark aus dem Zug zu steigen und für die Zeitdauer einer Woche über einen Teil des „Kungsleden“ nach Süden zu wandern. Der „Kungsleden“ ist ein 1500 Kilometer langer Wanderweg -Königsweg- durch Lappland. Die Einheimischen zogen damals auf diesem Pfad alljährlich mit Ihren Rentierherden im Herbst nach Süden und dann im Frühjahr zurück bis nördlich des Polarkreises.

In Abisko trafen wir zwei interrailbegeisterte Mädels aus Passau, die ich bereits im Jahr zuvor in Spanien kennengelernt hatte. Die beiden begleiteten uns bis mittags auf dem Weg nach Süden und kehrten dann aber zu meiner großen Erleichterung nach Abisko um. Ich fühlte mich auf Touren ja immer für alle verantwortlich.


Mit zwei Passauer Mädels im Abisko Nationalpark

Für eine längere Wanderung durch das wilde Lappland weit nördlich des Polarkreises waren wir eigentlich nicht ausgerüstet, und die Mädels mit ihren Turnschuhen schon gar nicht. Jetzt, wo wir nun schon mal hier waren, war unsere Entdeckerlust groß. Es gab in dieser Gegend zwar vereinzelt auch Wölfe und Bären, das Risiko, was damit verbunden war, konnten wir aber nicht leicht einschätzen. Gerald und ich gingen weiter durch die Tundra, an fast schwarzen, eisenhaltigen Bergen entlang, über Bäche und unzählige, mit Flechten bedeckte Steine. Millionen von Steinen gab es hier mit Millionen von verschiedenen Flechten auf ihrer Oberseite. Das war schon erstaunlich; keine der Flechten glich in Form und Struktur der anderen. Den Rentieren war das vermutlich egal. Die Flechten waren ihre Hauptnahrung. Unsere ständigen Begleiter auf dem Kungsleden waren gefühlt Millionen von Mücken. Als wir abends das erste Biwak aufschlugen, uns hinsetzten, mit dem Campingkocher eine Dose Ravioli kochten, und mein weißer Strickpullover sich mit Mücken schwarzgefärbt hatte, waren wir uns nicht mehr sicher, ob diese Tour eine gute Entscheidung war. Außerdem hatten wir den ganzen Nachmittag und Abend niemanden mehr getroffen. Die folgende Nacht war trocken, aber wir schliefen trotzdem schlecht. Nach einem Becher Tee am Morgen liefen wir schweigend los, weiter Richtung Süden. Immer weiter gingen wir. Vereinzelt war auch mal ein Weg zu erkennen und manchmal lagen sogar ein oder zwei Holzbalken über einem Bach, was uns zumindest das Aus- und Wiederanziehen der Schuhe ersparte. Das Tal, und dann die Hochebene, die wir entlangwanderten, waren weit und erschienen uns endlos. Morgens konnten wir meist einen markanten Felsberg, teilweise schneebedeckt, am Horizont ausmachen und erahnen, wo ungefähr das nächste Nachtlager sein würde. Es rächte sich, dass wir zwar feste Schuhe, aber keine richtigen Bergschuhe dabeihatten. Unsere Füße waren immer nass und kalt.


Der lange Marsch auf dem lappländischen Kungsleden, nördlich des Polarkreises

Am dritten Tag fing es an, zu regnen. Nicht stark aber kontinuierlich. Wir trugen unsere gelben „Friesennerze“ über Kopf, Schultern und Rucksack und marschierten schweigsam vor uns hin. Auf einem Höhenzug entdeckte ich eine wilde Rentierherde und war begeistert, denn dies war 1973 schon eine Seltenheit. Ich schlich mich über zwei Kilometer bis auf hundert Meter an sie heran und konnte endlich ein paar der erhofften Fotos machen. Keine Menschenseele, soweit das Auge von dort oben reichte. Welch ein überwältigendes Erlebnis!


Wilde Rentierherde in den Bergen Lapplands


Steinmanderl als einzige Wegkennzeichnung

Der Weg führte wieder bergab in ein weiteres Tal. Wir wussten laut Karte, dass wir einen breiten Fluss queren mussten, fanden aber keine Brücke, sondern nur ein paar „Steinmanderl“ zu beiden Seiten, die offensichtlich die flachste Stelle markieren sollten. Das gefiel uns gar nicht.


Eiskaltes Flusswasser

Die flachsten Stellen sind bei Flüssen auch immer die breitesten. Wir hatten sicher hundert Meter vor uns, die wir im schnellfließenden Schmelzwasser zu durchwaten hatten. Gerald war schnellentschlossen und ging voran. Ich brauchte sicher zehn Minuten länger und litt qualvolle Schmerzen an den Füssen. Solche Schmerzen kannte ich bisher noch nicht. Die Flusssteine waren zwar rundgewaschen, aber dafür glitschig und ich rutschte immer wieder mit den eisgekühlten Knöcheln über deren Ränder. Mit der Ausrüstung auf dem Rücken ins Eiswasser zu fallen, war aber keine Option.


Wir mussten immer wieder Flüsse und Bäche ohne Brücke durchqueren

Nach einer kurzen Aufwärmpause ging es weiter, dem nächsten Biwak entgegen. Obwohl wir wirklich tief in der Tundra waren und immer Ausschau hielten, konnten wir keine Wölfe oder Bären entdecken. Manchmal bildeten wir uns in der Dämmerung Schatten ein, aber das konnte auch ein Fuchs gewesen sein. An diesem Abend sah ich aber etwas anderes. Im Bächlein neben dem Zelt huschte ein Schatten vorbei. Ich erinnerte mich blitzartig an meine Kindheit. Es war eine Forelle. Gut, dass ich als Kind gelernt hatte, wie man Fische von Hand fängt. Es gab die köstlichste Mahlzeit unserer gesamten Wanderung.

Am nächsten Tag passierten wir einen rund zwei Kilometer entfernten, kleinen Rundbau aus Lehm, aus dem Rauch aufstieg. In dieser Hütte lebte in völliger Einsamkeit eine Lappenfamilie. Was für ein Leben! Wovon diese Menschen dort lebten, war nicht so einfach ersichtlich, aber sie lebten dort irgendwie und lebten, so schien es uns, auf jeden Fall frei und unabhängig. Ob sie das auch so sahen? Die Steinmanderl wiesen uns weiter den Weg und so erreichten wir nach fünf Tagen, in der Dämmerung ein altes Berghotel, die Fjäll Station, am Fuße des 2007 Meter hohen Kebnekaise. Heute ist das Hotel sehr groß und komfortabel und beherbergt ein Vielfaches an Touristen. Das Hotel war voller Amerikaner mit kompletter Bergsteigerausrüstung, die mit dem Hubschrauber eingeflogen worden waren. Wir gönnten uns ein Bier und schlugen danach in ausreichendem Abstand vom Lärm des Berghotels unser Zelt auf. Vor dem Einschlafen entschieden wir, einen Aufstieg auf Schwedens höchsten Berg zu versuchen; wo wir doch in dieser Tundra immerhin schon einmal hier auf 690 Metern Höhe waren.

Der Kebnekaise war erst 1883 zum ersten Mal bestiegen worden. Ein Zweitausendmeter-Berg würde für zwei Allgäuer nicht wirklich eine große Herausforderung sein, dachten wir.


Biwak mit Gerald

Wir brachen noch in der Dunkelheit auf. Vom Hotel her war es nun ganz still. Wir kamen zügig voran, denn schließlich waren wir inzwischen gut in Übung. Es ging immer steiler durch einen Bergeinschnitt bergauf, bis wir auf einen Sattel kamen. Allmählich nahm der Wind zu und die Steine, auf denen wir gingen, waren zunehmend vereist. Unsere Schuhe waren dafür nicht gebaut, aber wir hatten ja keine anderen. Außerdem hatten wir alle unsere bisherigen Bergtouren auch ohne gute Ausrüstung sicher hinter uns gebracht. Gute Ausrüstung war teuer und Geld hatten wir immer zu wenig. Nach weiteren anstrengenden Stunden im Eis sahen wir uns erschöpft und fragend an. Doch das Wetter ließ uns keine Zeit für nachdenkliche Pausen; und so setzten wir unseren einsamen Weg fort.


Blick vom vereisten Kebnekaise-Sattel in die Tiefe

Was machen wir hier eigentlich?

Der Wind war mittlerweile ein Sturm und wurde immer stärker, je höher wir kamen. Der Sturm blies uns feine Eiskörner waagerecht entgegen. Auf unseren „Friesennerzen“ machte das einen Höllenlärm. Wir hatten zwischen Schulter und Kapuze einen Schal gewickelt, der nur kleine Teile des Gesichts frei ließ. Trotzdem blieben unsere Wangen und Augen dieser Tortur in den folgenden Stunden ausgesetzt. Es war, als würden wir „sandgestrahlt“.

Als dann die Wolken ganz dicht machten und wir den Weg kaum noch erkennen konnten, entschieden wir uns, ungefähr 30 Höhenmeter unter dem Gipfel, umzukehren.


Kurz vor dem Gipfel im Eiskristall-Sturm

Es war einfach viel zu gefährlich geworden und unsere inneren Stimmen waren eindeutig. Die Gewissheit, richtig entschieden zu haben, beflügelte uns zu einem raschen Abstieg aus der Sturm- und Eiszone. Trotz der eisglatten Steinplatten kamen wir zwar rutschend, aber immer das Gleichgewicht wahrend, zügig voran.


Das letzte Stück des Abstiegs vom Kebnekaise

Den Rest der Strecke, als das Eis und unser Adrenalin im Blut weniger wurden, mussten wir Tempo herausnehmen und uns eingestehen, dass wir völlig erschöpft waren. Es war schon wieder „sommerdunkel“ -also dauerdämmrig- als wir endlich unser Zelt erreichten.

Einige der Hotelgäste hatten uns kommen sehen und starrten uns an wie die Geister. Auf die Frage, warum wir so fertig aussähen und wo wir überhaupt herkämen, antworteten wir nur: vom Kebnekaise. Die Bergsteiger reagierten ungläubig. Sie hatten mit einer organisierten Tour und Profiausrüstung seit Tagen auf das grüne Licht des Bergführers für den Aufstieg auf den Kebnekaise gewartet. Spätestens jetzt dämmerte es uns, wie leichtsinnig wir auf diesem Berg unterwegs gewesen waren. Aber wir hatten eine große körperliche und mentale Leistung gezeigt, auch wenn die letzten Meter zum Gipfel fehlten. Und wir hatten die richtige Entscheidung getroffen und das aller-letzte Stück des Aufstieg abgebrochen. Darauf waren wir stolz!

Am folgenden Tag wanderten wir nach Osten zum nächstgelegenen See und fuhren von dort mit einem Bootstaxi auf die andere Seeseite. Von dort ging es mit einem bereits wartenden Bus zur nächsten Stadt und dann weiter mit der Bahn nach Kiruna. Während wir am Bahnsteig auf den Bahnanschluss Richtung Stockholm warteten, entschied sich Gerald unvermittelt, noch schnell Proviant einzukaufen. So stand ich allein an den Gleisen, als der Zug nach Stockholm einrollte. Ich stieg mit meinem und Geralds Rucksack ein und suchte zwei schöne Fensterplätze für die bevorstehende lange Fahrt. Es waren noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt; die vergingen rasch. Ich wurde langsam nervös. Da fuhr der Zug auch schon an. Das war dumm gelaufen, wenn auch mit Ansage. Mit den zwei Rucksäcken bekam ich bei einer Polizeikontrolle im nächsten Bahnhof Ärger. Ich musste aussteigen und auf der Wache übernachten. Morgens ließ man mich wieder gehen. Ich ging wieder zurück zum Bahnhof, um den nächsten Zug nach Stockholm zu nehmen. Ich hoffte, Gerald dort wartend anzutreffen. In den Zeiten ohne Handy waren Situationen wie diese äußerst misslich. Zum Glück hatten wir für den Fall der Fälle, Datum, Uhrzeit und einen Ort in Stockholm verabredet, an dem wir uns treffen würden. Kurz nach Ablauf dieser Zeit und vor Abfahrt der nächsten Bahn nach Kopenhagen entdeckten wir uns und fuhren gemeinsam weiter in Richtung Süden.

Wie schon zuvor machten wir auch diesmal Halt bei meinen Tanten, Onkel und Opa im Ruhrgebiet. Die lauschten immer gerne den Abenteuern, die ich mit meinen Freunden zu berichten hatte und wir ließen uns dafür kulinarisch verwöhnen.

Das nötige Geld für diese Lapplandreise und weitere Unternehmungen hatte ich beim Auf- und Abbau der Allgäuer Festwoche und als Bierfahrer verdient, denn mittlerweile hatte ich mit insgesamt zehn Fahrstunden den Führerschein für Motorrad und Auto gemacht.

Gerald und ich setzten unsere gemeinsamen Reisen fort, diesmal mit zwei Mädels aus der Schule und einem geliehenen Auto nach Paris.

Wir verstanden uns gut und staunten gemeinsam über den Louvre und seine Kunstwerke, auch wenn ich den Zauber des berühmten Lächelns der Mona Lisa nicht wirklich hatte verzaubernd finden können. Wieder einmal wurde mir das Auto aufgebrochen und diesmal wurden die Koffer der Mädels geklaut. Wir Jungs hatten nicht viel dabei und konnten das bisschen Verlust verschmerzen. Die Mädels waren aber wenig amüsiert und, wieder zuhause, musste ich eine dicke Beschwerde ihrer Eltern über mich ergehen lassen. Jede Reise hat eben ihre schönen und ihre nervigen Seiten. Das hatte ich inzwischen auch gelernt.

Auf die große Freiheit der Ferienzeit folgte dann wieder Schule und mehrere Praktika.

Mit dem ersten Pflichtpraktikum an einer Grundschule, in dessen Rahmen ich auch Unterrichtsstunden vorbereiten und halten durfte, wurde mir bewusst, dass ich auf keinen Fall der hundertste Lehrer aus den Reihen meiner Mitschüler des früheren Gymnasiums werden wollte, auch wenn ich in diesem Beruf nun durchaus die Herausforderungen erkennen konnte.

Ich hatte parallel zur Fachoberschule eine Ausbildung als Pflegehelfer gemacht. Ich wollte mich ja selbst finanzieren und wurde so im Isnyer Krankenhaus immer wieder für Sitzwachen bei Schwerstkranken eingesetzt. Das hat mir Zeit und Gelegenheit gegeben, über Leben und Sterben nachzudenken und war gleichzeitig eine zuverlässige Möglichkeit, mein Leben unabhängig zu finanzieren.

An den Nachmittagen half ich gelegentlich einem Landwirt, Organisten und Chorleiter, dessen Familie mit unserer befreundet war, zwei elektronische Kirchenorgeln zu bauen; eine für dessen Eigengebrauch und eine weitere für meine Schwester Marianne, die eine Ausbildung als Organistin begonnen hatte. Es war ein wohltuendes Erlebnis, stundenlang bei der Familie Rist in der Stube im Eisenbolz zu sitzen und Teile zu löten. Als am Ende beide Orgeln funktionierten, hatte ich selbst Spaß daran, das Spielen auf diesem Instrument zu versuchen. Ich war bei diesem Projekt zwar nur der „Hilfsarbeiter“ gewesen, aber dennoch ziemlich stolz auf dieses gemeinsame Ergebnis.

Dagegen waren die Nächte im Krankenhaus fast immer endlos lang, weil die Sterbenden, bei denen ich wachte, kaum noch kommunizieren konnten, sondern nur noch still auf ihr Ende warteten. Nur die Maschinen neben ihnen gaben Geräusche von sich. Die Nachtwachen waren eine stille und einsame Angelegenheit, hatten aber manchmal auch etwas sehr Friedliches an sich. Keiner hatte mich auf diese Arbeit vorbereitet. Und so drückte ich, wenn mir etwas nicht geheuer vorkam, den Alarmknopf für die Nachtschwester. Ich bemerkte jedoch schnell, wie müde und überarbeitet die Nachtschwestern meistens waren, sodass ich mir angewöhnte, nur noch so selten wie möglich anzuklingeln. Mit diesem Vorsatz hielt ich auch an einem Heiligen Abend Sitzwache bei einem Zwanzigjährigen mit Muskelschwund im Endstadium. Der Sterbende konnte nur noch ganz leicht seine Augen bewegen. Es war zu erwarten, dass er, kaum älter als ich, diese Nacht nicht überleben würde. Ich saß lange Zeit neben ihm, saugte ihm ab und zu den Speichel aus dem Mund- und Rachenraum ab, da er nicht mehr selbst schlucken konnte. Irgendwann passierte mir das, was einem „Sitzwachler“ nicht passieren sollte. Ich schlief ein, nur eine halbe Stunde. Als ich aufwachte, war der Junge tot. Ich rief sofort die Nachtschwester und erzählte ihr, was passiert war. Zu meinem Erstaunen lächelte sie und meinte, dass mich keine Schuld treffe; der Junge sei sicher schon vor meinem Einschlafen gestorben und sie sei froh, dass er „es geschafft“ habe. Sie wollte mich nicht belasten. Ich war schockiert von diesem Erlebnis, dann völlig erschöpft und fühlte mich sehr einsam. Ich sehnte mich nach Liebe und Nähe, so wie immer, wenn ich dem Tod so nahekam. Da ich kein Auto hatte und nicht einfach nach Hause fahren, ins Bett gehen und schlafen konnte, verbrachte ich noch eine halbe Stunde auf der Station und ging dann hinunter in die Bäderabteilung. Dort hatte ich mein erstes Krankenhauspraktikum gemacht und wusste daher, dass man auf den Massageliegen gut liegen und schlafen konnte. Völlig erschöpft legte ich mich hin und schlief sofort ein. Morgens wachte ich mit dem ersten Licht auf und bemerkte, dass hinter einem Plastikvorhang neben mir der tote Junge lag. Erst da wurde mir bewusst, dass die in der Nacht Verstorbenen in die Bäderabteilung kommen, bis sie von der Frühschicht in die Leichenhalle gebracht wurden. Mit erneutem Schrecken, verließ ich rasch das Krankenhaus, um per Anhalter nachhause zu fahren. Für einen „Nichtwirklichmediziner´“ hatte ich erstmal genug Krankenhauserfahrung gesammelt.

Auf die Zeit im Krankenhaus folgte ein weiteres Praktikum, das schließlich eine wichtige Wende in meinem Leben einleitete. Ich fing an, in einem Heim für verhaltensgestörte Kinder in Weilerle zu arbeiten. Schnell wurde ich als volle Arbeitskraft und Hilfserzieher eingesetzt und nach dem offiziellen Ende der Praktikumszeit von zwei Wochen erhielt ich vom Heimleiter das Angebot, für ein kleines Gehalt, ein Zimmer und freies Essen weiterarbeiten zu können, wenn ich wollte. Ich nahm gerne an. Oft arbeitete ich allein mit den dreizehn Kindern, die alle in ihren Familien eine schlechte Kindheit hinter sich hatten. Ich tat, was an Arbeit anfiel und verbrachte viel Zeit mit den Kindern draußen beim Spiel und beim Wandern oder Skifahren in den Bergen. Hier konnte ich sehr selbstbestimmt arbeiten und das funktionierte gut. Dabei hatte ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.

Mit den Kindern kam ich gut klar. Mit dieser Erfahrung kam für mich der Durchbruch zu einem freieren und unabhängigeren Leben.

Meine Eltern hatten meinen Auszug von zuhause zuerst sorgenvoll zur Kenntnis genommen. Da ich sie aber regelmäßig besuchte und von meinen Erfahrungen berichtete, verringerten sich ihre Ängste allmählich und sie hofften stattdessen, dass ich mit einer solch verantwortungsvollen Aufgabe im Heim als Mensch wachsen würde.

Ob diese Arbeit für meinen Fachoberschulabschluss förderlich sein würde, bezweifelten sie aber vermutlich insgeheim sehr.

Ich hatte inzwischen eine alte NSU-Lux und war nun mit dem schwergewichtigen alten Zweitakter-Motorrad endlich mobil. Morgens sorgte ich dafür, dass die Kinder rechtzeitig zum Schulbus kamen. Der hielt direkt vor dem Haus, was natürlich hilfreich war. Gleich danach fuhr ich selbst nach Kempten in die Fachoberschule. Am frühen Nachmittag kam ich rechtzeitig zurück, bevor die Kinder von ihrer Schule aus Weitnau wieder nachhause kamen. Nach einigen Wochen kam Unterstützung durch eine gelernte Erzieherin aus Berlin. Wir verstanden uns gut und konnten uns zeitlich abwechseln, sodass nun auch Wochenendfreizeit möglich wurde. Auch die Tochter des Bauern von nebenan half in Teilzeit beim Kochen und Saubermachen. Der Heimleiter gesellte sich abends mit seiner Familie dazu und entlastete uns, sodass für uns in gewissem Umfang auch ein Nachtleben stattfinden konnte. Tagsüber arbeitete er allerdings als Psychologe in einem großen Jugendheim in der Stadt und wir mussten die Arbeit und die Verantwortung alleine stemmen. Mit viel Improvisation funktionierte das gut, auch wenn ein Vertreter des Jugendamts bei unangekündigten Kontrollen wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte.

Mehr und mehr machte das Jugendamt wegen der mangelnden Gebäudesicherheit Druck, sodass wir schließlich in ein ehemaliges Schulgebäude nach Masers umzogen.

Dort waren die Bausicherheitsvorschriften besser eingehalten worden als in der alten Sennerei in Weilerle, die den Jugendlichen bislang als Heim gedient hatte. Wir setzten also unseren Betrieb fort – nun auch mit der vorgeschrieben Mindestanzahl an Personal. Auch mir passte Masers als Standort gut, da es etwas näher an Kempten lag. Ich bekam häufig Besuch von meinen neuen und alten Mitschülern und wurde wegen meines freien und selbstständigen Lebens bewundert.

Es wurde viel gefeiert. Mir gefiel es, Anerkennung für meine Arbeit zu bekommen und natürlich auch, dass ich viele Freunde hatte. In dieser Zeit des abendlichen Feierns hatte ich die schlimmsten Wodkaräusche meines Lebens. Danach war ich geheilt, was den Konsum von harten Drinks betrifft.

Es traf sich gut, dass in einem Pflegeheim, oberhalb des Kinderheims in dem ich arbeitete, eine neue Heimleiterin aus München ihre Arbeit aufnahm. Helen war zehn Jahre älter als ich und hübsch. Das konnte eine nette und unkomplizierte Nachbarschaft werden und wurde es dann auch erstmal.

Der meist harmonische Tagesablauf im Kinderheim wurde dann doch einmal von einem unerwarteten Zwischenfall unterbrochen.

In einem plötzlichen Wutanfall schlug mir einer meiner Schützlinge gänzlich unvermittelt mit der Faust ins Gesicht und brach mir die Nase. Das war sehr schmerzhaft und ärgerte mich in dem Moment, als es passierte. Aber dieses Erlebnis ließ mich nicht grundsätzlich an der Sinnhaftigkeit meines Jobs zweifeln. Ich stellte mich kurzerhand vor den Spiegel und richtete unter großen Schmerzen und mit dem Geräusch mahlender Knochen im Kopf meine Nase wieder mittig ein.

Am folgenden Tag wurde mit der Heimleitung beraten, wie mit diesem Fall umgegangen werden soll. Ich entschied mich gegen eine Meldung beim Jugendamt. Dies hätte die Resozialisierung des jungen Schlägers noch weiter verschlechtert und so verpflichtete ich ihn stattdessen dazu, nun täglich für vier Wochen mit mir in hohem Lauftempo den naheliegenden Berg rauf und runter zu rennen. Das funktionierte erstaunlich gut. Fünf Jahre später bekam ich Besuch von diesem inzwischen achtzehnjährigen jungen Mann, der sich nun auf seine Art bedankte, indem er mir seine Freundin vorstellte. Dabei teilte er mir mit stolzer Brust mit, dass er gerade seine Lehre mit der Note „Gut“ abgeschlossen hatte.

Leider war nicht immer alles so erfolgreich. Ich war oft genervt vom rigorosen Umgang der Jugendamtsvertreter mit den Kindern und Jugendlichen. Auch die Entscheidungen zum weiteren Verbleib, Heimwechsel und Wiedereingliederung unserer Schützlinge in deren Familien konnte ich oft nicht nachvollziehen.

Mein vielleicht unerfahrener Eindruck war, dass der Inhalt der Aktenkoffer der Jugendamtsvertreter oft wichtiger war, als der persönliche Eindruck der Erzieher, die sich im Alltag mit den Kindern beschäftigten. Meine Zweifel, ob ich in diesem, für meinen Geschmack überbürokratisierten Sozial-System auf Dauer richtig aufgehoben war, mehrten sich.

Und dennoch: Nach zwei Jahren Fachoberschule hatten dann Peter, Wolfi und ich unser Fachabitur in der Tasche und damit eine weitere Hürde in unserer schulischen Entwicklung geschafft.

Es folgten die nächsten Sommerferien und Gerald und ich starteten in einem klapprigen Käfer wieder Richtung Süden.

Der Plan war, unter anderem, mit meinem alten Kolibri zum Segeln an den Atlantik zu fahren. Dafür wurde die Segeljolle auf dem Dachständer befestigt und wir fuhren Richtung Portugal.

Mit der Jolle auf dem Dach schafften wir selten mehr als 80 Stundenkilometer und die Fahrt zog sich.

Unser Glück war, dass wir in Frankreich einen Tramper mitfahren ließen. So konnten wir kurz vor Biarritz den Kolibri auf dem Hof seiner Eltern bis auf Weiteres abstellen. Nun ging es endlich etwas zügiger nach Spanien. Es gab damals nur wenige deutsche Autos, die über die Landstraßen fuhren. Uns fiel immer wieder ein ungefähr Fünfundzwanzigjähriger auf, der mit seinem Opel-GT -einem Traumsportwagen für damalige Zeiten- unterwegs war. Wir überholten uns gegenseitig immer wieder, da der Düsseldorfer zwar schneller fuhr, aber wir zu zweit weniger Schlafpausen brauchten. An einer Tankstelle sprachen wir ihn an. Er war der Sohn eines Fabrikanten aus Düsseldorf und hatte keinen Bock mehr auf seinen Vater, der ihn zu seinem Nachfolger in der Firma machen wollte.

Er dagegen träumte von der großen Freiheit, hatte sein Konto abgeräumt und war nach Süden aufgebrochen. Sein Ziel: Afrika. Ob ihm bewusst war, dass man dort auf den meist löchrigen Asphalt- Erd- oder Sandstraßen keinen tiefergelegten Opel-GT fahren konnte, wussten wir nicht. Er war ein Produkt seiner Zeit, wie wir auch. Hauptsache raus und weg, das andere würde sich dann schon ergeben.

Wir hofften für ihn, dass das so sein würde. Unsere Wege trennten sich ab hier.

Über die geraden Landstraßen fuhren wir oft mit Handgas, stellten uns auf die Sitze und schauten weit aus dem geöffneten Schiebedach ragend, eine Hand nach unten ans Lenkrad gestreckt, auf das lange gerade, graue Straßenband vor uns. Meine Vorfreude auf Maria stieg mit jedem gefahrenen Kilometer und wir erreichten nach einer langen Fahrt am Abend des dritten Tages endlich Lissabon. Pausen hatten wir fast keine gemacht. Wir wohnten bei Maria in einer kleinen Wohnung im berühmten alten Wohnviertel am Hang. Diese schönen, alten, „vergilbten“ Häuser mit den kunstvollen, eisengeschmiedeten Gittern um die kleinen Balkone, teilweise noch mit den typischen, meist blau-weißen Kacheln verziert, strahlten eine einzigartige Baukultur aus.


Eine der vielen wunderschönen portugiesischen Kacheln mit Fado-Motiv

Von hier oben hatte man einen grandiosen Ausblick über die Stadt. Es gab kaum Straßen dort hinauf, aber dafür Fußwege mit endlosen Stufen, auf denen die Bewohner am späten Abend immer ihre Hauptmalzeit einnahmen, denn draußen war es etwas kühler und es war auch mehr geboten. Moderne Stadtplaner hätten das altstädtische, autofreie Sozialleben -es wurde noch hauptsächlich die alte Straßenbahn benutzt- in ihren kühnsten Visionen nicht besser gestalten können. Fado tönte stimmig zur Baukultur überall aus dem Radios. Gerade war die neue Vinyl-Platte „Fado“ von Ada De Castro herausgekommen. Wir konnten diese wunderbare, alte, aber immer noch „lebendig-morbide“ portugiesische Kultur mit all unseren Sinnen wahrnehmen. Abends gingen wir auf das Gelände der Universität. Es gab große Studentendemonstrationen und endlose Diskussionen. Ich „Provinzler aus dem Mittleren Europa“ war von dieser „Vor-Revolutionsstimmung“ angeregt bis in die Haarspitzen. Es lag eine knisternde Spannung in der Luft und wir, Gerald und ich, waren dabei! Der Anfang vom Ende der 40-jährigen Diktatur von Staatspräsident Antonio de Oliveira Salazar und seines archaischen Staates war eingeläutet! Zwei Jahre lang dauerten diese friedlichen Studenten Demonstrationen noch fort; dann war es soweit: Die Sendestation „Radioclub Portugues“ spielte „Grândola, Vila Morena… “-Grândola, du braungebrannte Stadt…-, das Startzeichen für die 1974 endlich erfolgreiche Revolution, in der es am Ende „nur“ 4 Tote zu beklagen gab. Es war der Beginn einer neuen Demokratiebewegung in Südeuropa. Danach stürzten auch die Diktaturen in Griechenland und Spanien.

Maria war ein inzwischen erfolgreicher Fernsehstar In Portugal. Sie nahm uns tagsüber ein paarmal mit zu Dreharbeiten in die Studios, aber nachdem wir, auch der blonde Gerald, plötzlich auch noch kleine Filmgastrollen übernehmen sollten, setzte bei mir ein Fluchtdrang ein. Das war zu viel überdrehtes Medientheater für meinen Geschmack. Die gemeinsame Zeit mit Maria in Lissabon ging zu Ende. Maria und ich wussten beide, dass unsere Welten nicht mehr zusammenpassen würden und lösten unser Verhältnis auf. Mir fiel es sehr schwer, zu akzeptieren, dass sie ihr Studentenleben, dieser seltsamen Medienwelt geopfert hatte. Jahre später erhielt ich einen Brief von ihr, in dem sie mir mitteilte, dass sie ihr Medizinstudium wieder aufgenommen hatte. Ich freute mich riesig darüber und wir blieben noch eine Zeitlang in Kontakt. Maria war tatsächlich Ärztin geworden, hatte bald nach unserer Trennung geheiratet und zwei Kinder bekommen. Sie wurde sehr wohlhabend. Irgendwann reagierte ich nicht mehr auf Marias, zwischen den Zeilen versteckte Hinweise, die immer noch Interesse an mir zum Ausdruck brachten. Unsere Welten hatten inzwischen keine gemeinsamen Schnittflächen mehr.

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