Читать книгу Schachnovelle von Stefan Zweig: Reclam Lektüreschlüssel XL - Martin Neubauer - Страница 4
1. Schnelleinstieg
Оглавление1941 schrieb Stefan Zweig seine Schachnovelle, 1942 wurde sie veröffentlicht. Die Pläne dazu reichen freilich länger zurück. In einem Brief, wahrscheinlich vom Sommer 1938, berichtet Stefan Zweig seinem Schriftstellerkollegen Joseph Roth, dass er Material zu einer »Art symbolischer Novelle«1 gesammelt und daran schon zu arbeiten begonnen habe. Wie dieses Symbol beschaffen sein soll, verrät schon der Titel Titel des Werks, auf das sich diese Briefstelle aller Wahrscheinlichkeit nach bezieht: Es geht um das Schachspiel. Im zweiten Teil des Titels versteckt sich die Gattungsbezeichnung: »Novelle«, ein Wort romanischen Ursprungs, bezeichnet eine Neuigkeit, weist auf den Umstand hin, dass von etwas Besonderem, etwas Ausgefallenem die Rede sein soll.
Schachnovelle: In seiner Zusammensetzung aus zwei Nomen haftet dem Titel etwas Beispielhaftes an. In der Tat handelt es sich nicht um eine Novelle zum Thema Schach, sondern – wie auch die internationale Wirkungsgeschichte gezeigt hat – um die Novelle, um das Schach-Kultbuch Kultbuch für die Freunde des königlichen Spiels. Und dies, obwohl das Schachspiel darin nicht nur gefeiert, die ihm innewohnende Logik nicht nur bewundert wird – vielmehr wird auch seine ›dunkle‹, dämonische Seite darin zur Sprache gebracht. Oder ist gerade diese Sichtweise, die die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeiten des Schachspiels akzentuiert, vielleicht der eigentliche Grund für die lang anhaltende Popularität der Erzählung?
Schach, das intellektuellste aller Spiele, bewahrt in Zweigs Erzählung einen Menschen vor dem psychischen Zusammenbruch – und zerstört im weiteren Verlauf der Novelle dessen Geist. Es bewirkt Ambivalenz des Schachspiels sowohl Rettung als auch Verderben. Wie so etwas Außergewöhnliches, ja Sinnwidriges geschehen kann, wird anhand einer psychologischen Fallstudie gezeigt, in deren Mittelpunkt ein Mensch steht, der die Schrecken der Isolationsfolter erdulden muss, den ein Buch über das Schachspiel vor der geistigen Austrocknung bewahrt, von dem aber in der Folge das Spiel als fixe Idee Besitz ergreift. Diesem Menschen wird ein Charakter als Kontrahent gegenübergestellt, wie er gegensätzlicher nicht sein kann – einzig die Besessenheit, mit der jeder auf seine Weise das Schachspiel ausübt, verbindet die beiden.
Man braucht vom Schachspiel nicht unbedingt eine Ahnung zu haben, aber um sich ganz in die Schachnovelle hineindenken zu können, sollte man die Umstände der Werksentstehung Umstände kennen, unter denen sie entstanden ist – denn sie ist nicht nur eine psychologische Erzählung, sondern auch ein Spiegel ihrer Zeit. Im März 1938 war Hitlers Wehrmacht in Österreich einmarschiert und hatte somit erstmals die Grenzen eines souveränen Staates überschritten. Viele Österreicher begrüßten die Tatsache, dass ihr Land ein Teil des Deutschen Reichs wurde; für viele Österreicher bedeutete dies jedoch Bespitzelung, Verfolgung, Folter und gewaltsamen Tod. Stefan Zweig, jüdischer Herkunft, war zu diesem Zeitpunkt bereits ins Ausland übersiedelt. Für ihn war klar, dass er mit Hitlers Einmarsch seine Heimat endgültig verloren hatte. In diesem Bewusstsein verfasste er die Schachnovelle, verarbeitete darin die Erfahrungen von Verlust und Einsamkeit, von Bedrohung und Niederlage, indem er einen aussichtslosen Kampf mit einem übermächtigen Gegner schilderte.
Die Schachnovelle ist Zweigs letzte Erzählung, gleichsam sein episches Zweigs episches Vermächtnis Vermächtnis, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Wahrscheinlich hätte es den Schriftsteller gewundert, wenn er den Erfolg der Novelle miterlebt hätte – er hielt sie für zu elitär, für zu anspruchsvoll. Diese Skepsis war unangebracht, denn im Laufe der Jahre hat das Buch eine weltumspannende Leserschaft gewonnen: die Grenzen überschreitend, wie sich der Kosmopolit und international angesehene Autor Zweig gefühlt hat, so weltumspannend aber auch wie das Schachspiel selbst.