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Die Hauptfiguren: Dr. B. und Czentovic als Gegenspieler

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Dr. B. Niemand weiß Genaueres über ihn, als er das erste Mal auftritt – Dr. B., der Retter aus dem Nichts, der die versammelten Schachamateure vor dem drohenden Untergang bewahrt. Zunächst lernt man nur sein Erscheinungsbild Äußeres kennen: ein Mittvierziger mit auffällig schmalem, scharfem Gesicht, dessen »fast kreidige Blässe« (S. 26) der Erzähler besonders hervorhebt. Diese wie auch weitere Äußerlichkeiten werden später mit seiner zermürbenden Einzelhaft erklärt: die Verwirrung, die sich nach Ende der Partie seiner bemächtigt (S. 30), das »nervöse[ ] Zucken um seinen […] Mundwinkel« (S. 37), das weiße Haar, insgesamt auch die Tatsache, dass er den Eindruck eines plötzlich Gealterten hinterlässt (S. 32).

Sein Schicksal, über das er dem Erzähler berichtet, steht stellvertretend für die Geschichte vieler Opfer der NS-Willkür Opfer der NS-Herrschaft, die noch viel Schlimmeres erdulden mussten: Dr. B. wird von heute auf morgen aus dem Berufsleben gerissen, inhaftiert und brutaler Gehirnwäsche ausgesetzt. Seine Kontakte zur Umwelt sind gekappt, sinnvolle Tätigkeit wird unterbunden – er wird ein »Sklave des Nichts« (S. 51), losgelöst von allem, was menschliches Leben lebenswert macht.

Auch die Zeit nach seiner Haft steht für Dr. B. im Zeichen von Verlust und Trennung. Er repräsentiert den Typus des Exil als Leidensstation Exilanten, der sich dem Zugriff Hitlers durch die Flucht ins Ausland entzieht: Dabei verliert er nicht nur seine Heimat und seine gesellschaftlichen Bindungen, sondern auch einen Teil seines Ich. Deutlich wird dies im Verlauf der beiden Partien mit Czentovic, als Dr. B. zusehends die Kontrolle über sich verliert und er in unbeherrschte Erregung verfällt. Sukzessive nimmt etwas Wahnhaftes von ihm Besitz – etwas anderes, das nicht er selbst ist.

Dr. B. verkörpert die Tradition des alten Treue zu Österreich Österreich und damit vieles, was schon vor dem »Anschluss« ans Deutsche Reich im März 1938 der Vergangenheit angehörte. Dr. B.s Vorfahren pflegten Umgang mit dem Komponisten Franz Schubert und dem Kaiser, und als Anwalt steht er auch in der Zeit der Ersten Republik (1918–1938) jenen Kreisen nahe, die die alte Monarchie gestützt haben, also dem Adel und der Kirche. Dr. B. ist noch so stark in seiner als positiv empfundenen Welt von gestern verwurzelt, dass er an den radikal neuen Verhältnissen der Gegenwart – der Diktatur des Hitlerstaats – zerbrechen muss. Als Vermögensverwalter von Klöstern und Mitgliedern der kaiserlichen Familie vertritt er klerikal-monarchistische Interessen und ist dadurch den neuen Machthabern ein Dorn im Auge. Seine Opposition gegen den Nationalsozialismus ist nicht politischer Natur, sondern Konsequenz eines pflichtbewussten und loyalen Charakters. Das Motiv des politischen Widerstands bleibt aus der Schachnovelle daher ausgespart.

Umgänglich, kommunikativ, bescheiden Herkunft und Umgang von Dr. B. sind vom Großbürgertum geprägt; anders als Czentovic weiß er demnach, wie er sich in der Gesellschaft zu bewegen und zu verhalten hat. Dank seiner verbalen Wendigkeit bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, die Konversation mühelos zu meistern und Situationen sprachlich exakt zu analysieren. Trotz dieser Qualitäten ist er um eine unauffällige Erscheinung bemüht und frei von Arroganz – ebenfalls ein Unterschied zu Czentovic.

Mirko Czentovic. Wie Dr. B. ist auch der Schachwunderkind Weltmeister eine ungewöhnliche Erscheinung, nur sind die ausgefallenen Wesenszüge seiner Figur anders gelagert. Czentovic tritt gleich zu Beginn der Novelle auf: Zusammen mit einem Bekannten verfolgt der Erzähler, wie er an Bord geht. Für beide ist der Schachprofi kein unbeschriebenes Blatt – in einer Rückblende wird der sensationelle Aufstieg des Waisenknaben zur internationalen Schachkoryphäe nachvollzogen. Die außerordentliche Begabung des Wunderkindes ist dabei gleichermaßen Gegenstand der Anekdote wie die Tatsache, dass er ein »völliger Outsider der geistigen Welt« (S. 11) bleibt. Deutlich erinnert die Episode, in der der 15-jährige den lokalen Schachgrößen im Dorfcafé eine Lektion erteilt (S. 9), an die Geschichte des kleinen Jesus unter den Schriftgelehrten, der diesen trotz seiner Jugend in Verständnis und Glauben voraus zu sein scheint. Inwieweit solche Informationen über Czentovic, die sich aus zusammengelesenen Pressemeldungen ergeben (S. 5 f.), von Wert sind, ist zu bezweifeln, zumal an anderer Stelle erwähnt wird, dass sich Czentovic gegenüber Reportern als wenig auskunftsfreudig erweist (S. 12).

Der Schachweltmeister ist eine paradoxe, zwiespältige Gestalt. Das Können, dem er seine Karriere verdankt, ist sehr Einseitiges Talent einseitig gelagert, sein Spiel phantasielos und unkreativ, allein auf sturer Logik beruhend. Die Auseinandersetzung mit dem Gegner ist für ihn wie eine Schlacht, in der Zähigkeit mehr gilt als Genialität – nicht ohne Grund wird er mit den Kriegern Kutusow und Fabius Cunctator verglichen, die auf diese Art die größten Feldherren ihrer Zeit, Napoleon und Hannibal, niedergerungen haben (S. 11). Die Welt von Czentovic besteht im Wesentlichen aus den 64 Feldern des Schachbrettes, ist »auf die enge Einbahn zwischen Schwarz und Weiß reduziert« (S. 16). Konsequenterweise wird auch nicht mitgeteilt, ob und was sich der Weltmeister zu den politischen Umbrüchen seiner Zeit denkt – er erscheint als durch und durch Phantasielos, zäh, unpolitisch unpolitischer Mensch.

Zwar bemüht sich Czentovic, den gepflegten Mann von Welt abzugeben, doch das Resultat ist kläglich: Im Grunde bleibt er immer der »beschränkte Bauernjunge« (S. 12) von früher, ein Primitivling, dem etwas Groteskes und Komisches anhaftet. Die Apathie, die Stumpfsinnigkeit und die Kontaktarmut seiner Jugend haben im Erwachsenenalter nur andere Formen angenommen, haben Czentovic zu einer leidenschaftslosen, Unsympathische Charakterzüge unzugänglichen Schachmaschine werden lassen.

Zwei Faktoren prägen das Verhältnis des Schachweltmeisters zum Schachspiel: Geld und Macht Geld und Macht. Nicht die Schönheit und die Eleganz von Kombinationen reizen Czentovic, sondern es reizt ihn die Gelegenheit, mit seinem Können Geld zu machen. Zugleich bietet ihm das Schachspiel die Möglichkeit, dem Rest der Welt seine Überlegenheit zu demonstrieren. Dieser Wille zur Macht lässt bei Czentovic unangenehme Charakterzüge zutage treten. Mit seinem psychologisch kalkulierten Verzögerungsspiel während der letzten Partie agiert er zugleich aggressiv und unsportlich. Er will damit Dr. B. aus der Fassung bringen, übt Druck auf ihn aus – vergleichbar dem Psychoterror, den der Anwalt während seiner Isolation hat erdulden müssen. Für das Seelenleben anderer hat der monomanisch auf das Schachbrett fixierte Czentovic wenig Verständnis: Den Zusammenbruch seines Gegners bei der letzten Partie quittiert er mit Selbstgefälligkeit und mitleidlosem Hohn.

Gewollte Kontraste Angenommen, Czentovic wäre ein sympathischer und leutseliger Herr, so wie Dr. B. gebildet und von guten Manieren, ein Gentleman, der seinen Gegner zwar auf dem Brett besiegt, dennoch aber Menschlichkeit und Sportsgeist ausstrahlt – wo bliebe die Dramatik der Novelle, wo ihr eigentlicher Reiz und wo ihre Kernaussage?

So wie die schwarzen und die weißen Figuren, die schwarzen und die weißen Felder des Schachbretts extreme Konflikt durch Gegensätze Gegensätze repräsentieren, so ist auch der ganze Text um Spannungen gebaut, um unvereinbare Charaktere und um schroffe Gegensätze. Ein Weltmeister von innerem Adel, der seinem Gegner Mut zuspricht, wäre da fehl am Platze. Denn die Novelle bewegt sich nicht auf Harmonie und Ausgleich zu, sondern zeigt einen Kampf bis aufs Messer, bis zu einem Punkt, an dem der eine Kontrahent psychisch aus dem Lot zu geraten droht. So ist es klar, dass sich bei den beiden Gegenspielern alles um Kontraste gruppieren muss:


Schachnovelle von Stefan Zweig: Reclam Lektüreschlüssel XL

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