Читать книгу Wilhelm Tell von Friedrich Schiller: Reclam Lektüreschlüssel XL - Martin Neubauer - Страница 16

Die Frauen

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Ein Blick auf die Liste der handelnden Figuren zeigt: Wilhelm Tell ist ein Männer als HandlungsträgerMännerstück. Bei der politischen Kernszene, dem Rütlischwur, sind über dreißig Männer anwesend, aber keine einzige Frau. In keinem anderen Schiller-Drama spielen Frauen eine derart periphere Rolle. Selbst die Liebesgeschichte ist in einen Nebenstrang der Handlung ausgelagert.

Schillers Dichtungen haben einen wichtigen Beitrag zur Ausprägung des bürgerlichen Nachwirkungen von Schillers FrauenbildFrauenbildes im 19. Jahrhunderts geleistet. Die Geschlechterrollendifferenz – wie beispielsweise in den Gedichten »Würde der Frauen« (1795) oder »Das Lied von der Glocke« (1799) – ist klar ausgeprägt: »Der Mann muss hinaus / Ins feindliche Leben« heißt es in Letzterem, die Frau als Hausfrau und Mutter hingegen »herrschet weise / In häuslichem Kreise«10.

Solche Verhältnisse finden sich auch in Tells Familie. Hedwig, ein HedwigAngstwesen, sieht die Heldentaten ihres Mannes – etwa die Rettung Baumgartens (S. 60) – nicht gerne. Die Zwangssituation, in der Tell die Armbrust auf das eigene Kind hat richten müssen, kann sie nicht nachempfinden (S. 89). Ihre Sorge gilt ausschließlich den Ihren. Auch dass der Gatte ihre Stimme der Vorsicht ignoriert und es ihn trotz aller Warnungen nach Altdorf zieht, gehorcht der Dialektik von weiblicher Empfindung und männlicher Stärke.

Mehr als Hedwig schwanken die anderen Frauengestalten – Stauffachers Gattin Gertrud, Bertha und die Bäuerin Armgart – zwischen Aktivität und Passivität. Doch folgen auch sie letztlich dem weiblichen Rollentypus.

Gertrud übernimmt in ihrem einzigen Auftritt (I,2) die GertrudRolle eines Handlungskatalysators, indem sie ihren Mann zum Widerstand anstachelt: »Frau, welchen Sturm gefährlicher Gedanken / Weckst du mir in der stillen Brust!« (S. 16). Allerdings wird erwartet, dass die geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster auch im Tod eingehalten werden: »[T]apfer fechtend sterben« (S. 17) ist ausschließlich Männersache, für die Frau bleibt hingegen als letzter Ausweg nur der Selbstmord (S. 17). Ebenso wie Hedwig sind Gertrud als Revier bloß Haus, Hof und Herd bestimmt; politisiert wird bestenfalls hinterm Spinnrad (S. 14).

Auch Bertha Berthakann ihren Rudenz zum Kampf gegen Habsburg begeistern. Sie weckt in dem jungen Mann fast schon biedermeierlich anmutende Sehnsüchte nach stillem Familienglück (S. 65). Der Schluss des Dramas folgt abermals der antithetisch angelegten Psychologie der Geschlechter, wenn Bertha sich als Wehrlose von ihrem Geliebten aus den Flammen retten lässt: Damit wird wiederum dem Mann die Führungsrolle zugesprochen.

Die ArmgartBäuerin Armgart, die sich dem Landvogt in den Weg wirft und ihn am Weiterreiten hindert, zeigt zweifellos Kühnheit und Entschlossenheit, doch ist ihr selbst dies zu wenig: »O ich bin nur ein Weib! Wär ich ein Mann, / Ich wüsste wohl was besseres, als hier / Im Staub zu liegen« (S. 106). In ihrer Klage wird Armgart die Differenz zum männlichen Handeln schmerzlich bewusst: Widerstand ist für sie nur in passiver Form möglich.

Die Bedeutung der Frauenrollen in Wilhelm Tell ist je nach Standpunkt Konträre Deutungsmöglichkeitenunterschiedlich auszulegen. Zweifellos setzen die Frauen wichtige Handlungsimpulse: Der Demokratisierungsprozess soll das Anliegen aller sein, und so haben auch sie auf indirekte Weise Anteil daran – eine Situation, die aus feministischer Sicht jedoch unbefriedigend bleiben muss, denn die Frau argumentiert aus einer untergeordneten Stellung heraus. Sie ist aus der Verantwortung genommen, da die Ausführung letzten Endes den Männern überlassen bleibt.

Entschluss zum Aufstand bedeutet auch gleichzeitig Entschluss zur Weiblichkeitsideal: Harmonie, keine GewaltGewalt – und die entsprach überhaupt nicht dem Weiblichkeitsideal Schillers, dem die häusliche Glückseligkeit auch im privaten Leben ein fundamentaler Wert war. Frauen sollten die Kräfte des Ausgleichs und der Harmonie repräsentieren, der Bescheidenheit, des Gefühls und des Sinns für das Schöne. Im Modellfall einer Revolution, wie ihn Wilhelm Tell vorführt, wären »Weiber«, die zu »Hyänen« werden,11 fehl am Platze.

Wilhelm Tell von Friedrich Schiller: Reclam Lektüreschlüssel XL

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