Читать книгу Fußball, deine Fans - Martin Thein - Страница 12
ОглавлениеRudolf Oswald
„Von Tschammer und Osten – dein Pokal soll verrosten“
Fankulturen in der Kaiserzeit, im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik
Frühe Fankulturen in Deutschland
Fans gehören zum Fußball wie das runde Leder oder 22 Spieler, sie gehören zum Fußball, seitdem das Spiel als Wettkampf ausgetragen wird – in Deutschland wie in allen dem Rasenspiel verfallenen Ländern. Gleichwohl war deren Auftreten, waren deren Organisationsformen im Laufe der Geschichte starken Veränderungen unterworfen.
In Deutschland wird das „Urbild“ des Fußballanhängers nach wie vor von den „Kutten“ geprägt. Die „Kutten“, deren „Tracht“ sowohl als Erkennungszeichen als auch der Abgrenzung gegenüber rivalisierenden Anhängern dient, hätten in den 1970ern, so die gängige Meinung, erstmals eine Kultur unter den Fans in (West)Deutschland begründet. Aufgrund ihrer Fokussierung auf das äußere Erscheinungsbild unterschlägt diese Deutung jedoch, dass im mitteleuropäischen Fußball bereits Jahrzehnte zuvor Fangruppen existierten.
Mithilfe von drei Hauptmerkmalen lässt sich diese frühe Fankultur, von den Zeitgenossen meist als „Vereinsfanatismus“ bezeichnet, beschreiben und von späteren Gruppen unterscheiden:
Erstens: Die Bindung an einen bestimmten Klub kam ausschließlich über den Wohnort zustande. Ein Fußballinteressierter erkor ein Team deshalb zu dem „seinen“, weil es das im eigenen Viertel oder Stadtteil ansässige war. Für das Selbstverständnis eines Anhängers reichte deshalb die geografische Herkunft des Vereins vollkommen aus.
Zweitens: Die Klubführungen, meist der lokalen Mittel- und Oberschicht entstammend, begriffen sich als Teil der Anhängerschaft. Eine Opposition zwischen Funktionären und Fanbasis gab es nicht.
Drittens schließlich: Die Unterstützung für den Verein – darin den „Ultras“ nicht unähnlich – war bedingungslos. Im Gegensatz zu den „Ultras“ jedoch waren die „Vereinsfanatiker“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts extrem gewalttätig. Ausschreitungen am und auf dem Spielfeld waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Fußball in der Kaiserzeit
Die Anfänge des Fußballsports in Deutschland reichen bis in die Anfangsjahre des wilhelminischen Kaiserreiches zurück. Zu Beginn der 1870er Jahre organisierte der Braunschweiger Turnlehrer August Herrmann zusammen mit dem Pädagogen Konrad Koch eines der ersten Fußballspiele in Deutschland und gründeten britische Staatsbürger einen der frühesten nachweisbaren Klubs, den Dresden English Football Club; gegen Ende jener Dekade erschien ein deutschsprachiges Regelwerk zum Rasensport und fanden erstmals regionale Vergleichswettkämpfe statt. Die weiteren Stationen in der Entwicklung des Spiels in Mitteleuropa sind bekannt: 1893 wurde der älteste heute noch existierende Fußballverein des Landes, der 1. Hanauer FC 1893 ins Leben gerufen, 1900 fand in Leipzig die konstituierende Sitzung des Deutschen Fußballbundes statt, und 1903 schließlich wurde mit dem VfB Leipzig der erste reichsweite Meister ermittelt.
In dieser Frühzeit des Rasenspiels in Deutschland, die mit den Schüssen von Sarajewo im Juni 1914 abrupt endete, kann im Grunde noch nicht von einer Fußball- oder einer Fankultur gesprochen werden. Dies hatte vor allem zwei Ursachen. Zum einen war die Vereinslandschaft – gerade im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – sehr zersplittert. Ein einzelner Klub war kaum in der Lage, über den Kreis seiner Spieler und passiven Mitglieder hinaus eine feste Anhängerschaft zu binden. Fantum und Engagement im Verein waren damals identisch. Erst in den letzten Jahren vor 1914, als durch Auflösungen und Fusionen die Zahl der eingetragenen Klubs etwa um die Hälfte zurückging, konnten Fußballvereine die Zahl ihrer Anhänger wesentlich erhöhen. In der Tat waren jetzt bei den sonntäglich stattfindenden Fußballspielen bereits Zuschauerzahlen im vierstelligen Bereich zu verzeichnen, wobei diese Entwicklung freilich auf frühe Rasensport-Hochburgen wie Nürnberg-Fürth, Frankfurt-Offenbach oder Mannheim beschränkt blieb.
Eine zweite Ursache betrifft die soziale Struktur derjenigen, die sich Woche für Woche am Spielfeldrand einfanden. Fußball war bis in die Kriegsjahre hinein eine bürgerliche Angelegenheit. Die Sportart selbst war von Kaufmannssöhnen und von Absolventen höherer Schulen (oftmals Realgymnasien) in Deutschland verbreitet worden – und lange Zeit blieb diese Gesellschaftsschicht auf den provisorisch aufgeschütteten Rängen unter sich. Fotozeugnisse aus der Frühzeit des Fußballs belegen, wie geschlossen die „Fußballgesellschaft“ des Kaiserreiches war: In der Regel dominiert der bürgerliche Hut. Mützen, die auf die Anwesenheit etwa von Fabrikarbeitern schließen ließen, sind nicht zu sehen. Sind auf den frühen Aufnahmen weibliche Zuschauer zu erkennen, so fallen deren hochherrschaftlich anmutende Gewänder auf.
Die Abwesenheit von Arbeitern unter den am Fußball Interessierten hatte zur Folge, dass sich keine Fankultur im eigentlichen Sinne entwickeln konnte. Bürgerliche Zuschauer bezogen ihr Selbstbewusstsein aus ihrem gesellschaftlichen Status, aus ihrer humanistischen Schulbildung oder aus ihrem beruflichen Erfolg. Die Frage der Identitätsstiftung, die sich aus der Anbindung an einen Stadtteilverein ergeben konnte und die seit den 1920ern wichtig werden würde, spielte in diesen Kreisen nicht die geringste Rolle. Erst als ortsansässige Arbeiter begannen, sich für den Fußballverein im Viertel zu begeistern, begriff sich auch das bürgerliche Publikum – darunter die alten Klubvorstände und -mäzene – als Teil einer „Fangemeinschaft“.
Vor 1914 war Fußball Zeitvertreib pur, er besaß keine Bedeutung über den Sport hinaus. All jene Aspekte, die für die Fankultur späterer Jahrzehnte charakteristisch werden sollten – sie fehlten schlichtweg im Rasenspiel der Kaiserzeit: Es gab keine gemeinsamen Kennzeichen, an welchen die Anhänger eines Vereins zu erkennen gewesen wären, es gab keine Debatten über die Bedeutung eines Matches – vor allem aber gab es keine Aggression und keine Gewalt.
Gewalt im Fußball der 1920er Jahre
In den 1920er Jahren wurde der Fußball in Deutschland erstmals von Gewaltexzessen erschüttert, wofür das Aufbrechen der sozialen Struktur der Fußballanhänger ursächlich war. Ausgestattet mit mehr Freizeit infolge sozialpolitischer Reformen, wandten sich nach Ende des Ersten Weltkrieges viele Arbeiter dem englischen association football zu, einer Sportart, die bis dahin nur in der bürgerlichen Jugend Anklang gefunden hatte. Die „Proletarier“ wiederum, die jetzt in Massen an die Fußballfelder strömten, übertrugen alte Konflikte aus den Arbeitervierteln in die Stadien. Gegensätze zwischen City und Vorort oder zwischen benachbarten Stadtteilen wurden nun Woche für Woche auf den Rängen und Tribünen ausgetragen. Die Folge: Schlägereien unter verfeindeten Fangruppen, verprügelte Schiedsrichter sowie krankenhausreif geschlagene Spieler waren bald so selbstverständlich wie das Spiel selbst.
Ein besonders abschreckendes Beispiel unter all den Krawallhochburgen lieferte Mannheim. An der Neckar-Mündung war im Herbst 1922, nachdem Sepp Herberger (der spätere Bundestrainer) vom Vorort-Klub Waldhof in die Innenstadt zum verhassten „Geldverein“ VfR gewechselt war, die Situation derart eskaliert, dass berittene Polizei binnen weniger Wochen mehrmals die Stadien räumen musste. Und dies war nur der Anfang: Zwischen Herbst 1922 und Frühjahr 1933 dürfte der Mannheimer Fußball von etwa fünfzig schweren Ausschreitungen heimgesucht worden sein. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Platzsturm bei einem Spiel in Nürnberg im Jahr 1920. Foto: Archiv Hagen Leopold
Die Anhänger der Frankfurter, Offenbacher und Hanauer Klubs konnten durchaus mit den nordbadischen Fans konkurrieren. Im Zuge einer Meisterschaftsreform zu Beginn der 1920er war die gesamte Region am Untermain zu einer einzigen Liga zusammengefasst worden. Aufgrund der Nachbarschaft der Messe-, der Leder- und der Goldschmiedestadt konnte nun jede Feindschaft, die sich zwischen den drei Zentren im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatte, über den Fußball ausgelebt werden. Und auch am Untermain waren die Ausschreitungen heftig: Im Herbst 1922 verprügelten Fans von Hanau 94 einen Schiedsrichter. Ähnliches widerfuhr dem Unparteiischen zwei Jahre später bei den Kickers am Bieberer Berg – dort waren die Anhänger mit Messern und Pflastersteinen bewaffnet. Und im Oktober 1930 schließlich vergriffen sich Fans des FSV Frankfurt an Spielern sowie an Ordnungskräften des Lokalrivalen Eintracht. Allein diese drei Fälle dürften genügen, um zu verstehen, weshalb der „Mainkreis“ des Süddeutschen Fußballverbandes in den 1920ern gemeinhin als „Mordkreis“ bezeichnet wurde.
Das Stadion am Betzenberg in Kaiserslautern im Jahr 1927. Foto: Archiv Hagen Leopold
Freilich ging es auch in anderen Fußballhochburgen heiß her: In Nürnberg-Fürth beispielsweise sorgten die Derbys zwischen dem „Club“ und der SpVgg. stets für erregte Gemüter, in München traf dasselbe auf die häufigen Begegnungen zwischen 1860 und Bayern zu; in Leipzig lieferten sich Anhänger der Stadtteil-Vereine SpVgg., Fortuna und Wacker regelrechte Schlachten mit den Fans des City-Klubs VfB; in Dresden war die Situation ähnlich, nur die Namen der Klubs lauteten anders: Hier kämpften Anhänger von Sportlust, Brandenburg und Guts Muts gegen jene des Renommierklubs DSC, während in Breslau schließlich die als „bürgerlich“ betrachteten Vereinigten Sportfreunde die Rolle des Dresdener SC oder des VfB Leipzig übernahmen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Dass sich der Fußball in Deutschland im „Zustand fortgesetzten Landfriedensbruches“ befand, wie der bekannte Sportjournalist Ernst Nebhut schrieb, lag nicht zuletzt daran, dass in den 1920ern die Meisterschaften der DFB-Landesverbände sehr kleinteilig ausgetragen wurden. Oftmals spielten die Mannschaften einer größeren Stadt – Mannheim, Leipzig, Dresden oder Breslau wären zu nennen – ihre Punktrunden nur untereinander, das heißt in Form von Lokalderbys aus. Somit kam es wöchentlich zum Aufeinandertreffen mehrerer unmittelbar benachbarter Vereine und ihrer Anhänger. Fußballsportlicher Lokalpatriotismus und Meisterschaftsorganisation ergänzten sich zudem in einem weiteren Punkt: Die klassische Saisoneinteilung aus Hin- und Rückspiel war für Racheakte der „Vereinsfanatiker“ wie geschaffen. Eine im Herbst gedemütigte Fan-Gemeinschaft konnte spätestens im Frühjahr Genugtuung fordern. Im günstigsten Fall wurde dann durch einen Sieg der eigenen Mannschaft ein Gewaltkreislauf beendet. Im ungünstigsten Fall allerdings wurde erneut eine Hass-Spirale in Gang gesetzt. In manchem Ballungszentrum kamen die Stadien auf diese Weise jahrelang nicht mehr zur Ruhe.
Disziplinierungsversuche im Dritten Reich
Erstaunlicherweise hatte das Jahr 1933, hatte die nationalsozialistische Machtergreifung nicht die geringsten Auswirkungen auf die Feindseligkeiten zwischen den Anhängern. Obwohl fanatisches Verhalten nun quasi behördlicherseits verboten war, obwohl zahlreiche Klubfunktionäre Einfluss zu nehmen versuchten und beteuerten, dass nun alle Gegensätze ausgeräumt seien, der Gegner jetzt ein „Volksgenosse“ sei, waren Krawalle und Tumulte in den Stadien nach wie vor an der Tagesordnung. Gewiss wurde nach der Gleichschaltung des Sports verstärkt auf Disziplinierung gesetzt. Sicherlich wurden jetzt auch harte Strafen gegen Randalierer verhängt und zusätzlich zu den regulären Polizeieinheiten SA-Kräfte zum Schutz der Stadien abkommandiert. Allerdings scheiterten all diese Maßnahmen ausnahmslos – und sie scheiterten deshalb, weil die totalitäre Sportpolitik nie den wahren Grund, nie das Wesen der zeitgenössischen Fankulturen erfasste. All jene „drakonischen Maßnahmen“, die in den Jahren 1933/34 angekündigt und auch umgesetzt wurden – bis hin zur Verhängung von Gefängnisstrafen für gewalttätige Zuschauer –, sie kratzten letztlich nur am Selbstverständnis der Lokalpatrioten. Dass auch ein SA-Mann, einmal am Spielfeldrand, seine Uniform vergessen, seine Stadtteil-Identität entdecken und zum „Vereinsfanatiker“ werden konnte, dieses Phänomen wurde von den NS-Sportfunktionären schon zu Beginn des Dritten Reiches kaum erfasst.
Als in der Saison 1934/35 dann offensichtlich wurde, dass kurz- und mittelfristig ein merklicher Rückgang der Ausschreitungen ausbleiben würde, schien sich erstmals eine Abkehr vom Prinzip der Härte anzukündigen. Statt strenger Strafen favorisierten jetzt einige Funktionäre und Journalisten das Mittel der Schulung. Ein Autor des gleichgeschalteten Magazins Der Kicker gelangte gar zu Einsichten in die Eigendynamik eines Massenpublikums: „Überall, wo große und unkontrollierbare Massen zusammenströmen“, so der Berichterstatter, sei „eine gewisse Unruhe und schlechtes Benehmen niemals ganz auszumerzen“. Auch „verständige Menschen“ würden „oft der Massenpsychose [unterliegen]“. In diesem Zusammenhang geriet nicht zuletzt die Tätigkeit der Schiedsrichter in die Kritik. Die Unparteiischen, so argumentierten einige altgediente DFB-Funktionäre, reagierten oftmals zu empfindlich auf unbedachte Äußerungen und verfügten häufig nur über mangelhafte Regelkenntnisse. Dadurch würden sie sowohl Spieler als auch Zuschauer unnötigerweise provozieren. Seit Ende 1934 wurden in der Fachpresse deshalb Möglichkeiten zur Verbesserung des Schiedsrichterwesens diskutiert. Intensive Schulung sollte dessen Qualität heben, und ehemalige Kicker sollten als Spielleiter ihren Erfahrungsschatz einbringen.
Die plötzliche Nachsicht gegenüber dem Publikumsverhalten war jedoch nur von kurzer Dauer. Ab Herbst 1936 lautete die Parole erneut: „Es wird durchgegriffen“. Vermehrt wurden jetzt Platzsperren und Vereinsausschlüsse verhängt, Fußballplätze mit Polizeiaufsicht belegt sowie Namen von randalierenden Zuschauern in der Lokalpresse veröffentlicht. Letztlich aber sollte weder die harte noch die sanfte Linie Wirkung zeigen. Im Gegenteil: Gerade in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nahm der Fanatismus auf den Plätzen extrem brutale und hässliche Züge an. Es sind Fälle bekannt, in welchen Sanitäter die Erste Hilfe verweigerten, weil der betroffene Spieler nicht dem eigenen Team angehörte, in welchen Klubfunktionäre es ablehnten, für Schiedsrichter, die sich bei den Zuschauern unbeliebt gemacht hatten, den Schutz zu übernehmen. Aus der Mitte des Jahrzehnts ist sogar ein Tötungsdelikt bekannt: Im Herbst 1935 wurde in Groß-Mühlingen (Kreis Magdeburg) der Spieler eines Gastvereins durch einen aufgebrachten Anhänger der Mühlinger derart misshandelt, dass er an den Folgen seiner Verletzungen starb.
Ratlosigkeit sprach weiterhin aus den Stellungnahmen der Fachleute. Fast schon verzweifelt äußerte im Oktober 1936 der sächsische Fußball-Fachamtsleiter, dass es einfach „unverständlich sei, daß Vereine trotz der wiederholten Aufrufe, für unbedingte Ordnung (…) zu sorgen, ihre (…) Pflichten (…) gröblich vernachlässigen“ würden. Auf einer Schiedsrichtertagung im Herbst desselben Jahres wurde gar Verwunderung laut, dass es „auf unseren Plätzen [Elemente] gibt (…), die anscheinend vergessen haben, dass es vor drei Jahren eine Neuordnung des deutschen Sports gab“. Ebenfalls als ein Produkt behördlicher Ignoranz muss die Aktion „Kampf dem Vereinsmeier“ gewertet werden, die der Dachverband des Sports, der Deutsche Reichsausschuss für Leibesübungen, Ende 1936 auf die Beine stellte. Schon im Februar des folgenden Jahres erwies sich die Untauglichkeit der Kampagne, als aufgebrachte Anhänger von Hannover 96 die Spieler von Werder Bremen niederschlugen.
Erst nachdem im Krieg der Spielverkehr eingeschränkt worden war, gingen die Krawalle merklich zurück. Nahmen im Frühjahr 1939 noch 30.000 Mannschaften am Spielbetrieb im Deutschen Reich teil, so waren es zwei Jahre später nur mehr 14.000. In der Fachpresse wurde die rückläufige Entwicklung allerdings kaum zur Kenntnis genommen. Vielmehr war die Rede davon, dass sich die Zustände im Fußball abermals verschlimmert hätten. In der Tat wurden in den anderthalb Jahren zwischen Herbst 1939 und Frühjahr 1941 schwere Zuschauerausschreitungen aus Hamburg, Mannheim, Stuttgart, Offenbach, Wiesbaden, Fürth und München gemeldet. Die Reaktionen auf die anscheinend nicht abreißenden Tumulte bewegten sich auf der Linie der 1930er Jahre. „Scharfes Durchgreifen“ wurde angekündigt, Fußballplätze wurden unter behördliche Aufsicht gestellt, Vereine, die durch randalierende Fans auffielen, wurden mit halbjährigen Platzsperren belegt. Angesichts der vielen Fehlschläge bei der Disziplinierung der Fans mischte sich unter die Ordnungsrufe nun auch so manch schrille Stimme. Anfang 1939 bereits forderte Felix Linnemann, der Reichsfachamtsleiter Fußball (früher: DFB), dass „Schädlinge“ unter den „Zuschauern (…) rücksichtslos ausgemerzt“ werden sollten. Zwei Jahre später ließ Der Kicker dann bei seinen Lesern anfragen, ob „der Fanatiker ausgerottet werden“ solle.
Bis Kriegsende sind konkrete Aussagen hinsichtlich der Entwicklung der Fangewalt kaum mehr möglich, da der Meisterschaftsbetrieb ständigen Einschränkungen unterlag. Nach wie vor verhängte Disziplinarmaßnahmen belegen jedoch, dass Gewalt bis zum Ende des Dritten Reiches eine Begleiterscheinung des Fußballs blieb.
Fankultur und Subversion
Für den Nationalsozialismus bestand die eigentliche Herausforderung durch die Fans darin, dass deren Kultur ihrem innersten Wesen nach subversiv war. Sie war geeignet, die NS-Bewegung und ihre Vertreter öffentlich vorzuführen. Es war das eigenmächtige Auftreten der Anhänger in den Stadien, vom Sprechchor bis hin zur gewalttätigen Ausschreitung, wodurch der Nationalsozialismus in seinem Selbstverständnis als einträchtige „Volksgemeinschaft“ getroffen wurde.
Als Störfaktor politischer Inszenierungen waren Fans schon in den 1920er Jahren auffällig geworden: Im Februar 1922 beispielsweise endete ein unter dem Motto „Hebung des Deutschtums in Oberschlesien“ veranstaltetes Turnier mehrerer DFB-Vereine mit Ausschreitungen. Im Oktober 1925 störten Anhänger der beiden Frankfurter Klubs FSV und Eintracht eine Spielunterbrechung zum Gedenken an die Toten des Weltkrieges – ein Vorgang, der reichsweit hohe Wellen schlug. Und im Juli 1927 schließlich brachten Fans des kommunistischen Arbeitersportvereins SV Dresden 1910 durch massives Pfeifen ein Treffen mit einer sowjetischen Auswahl um die propagandistische Wirkung. Da Fußball zur Zeit der Weimarer Republik allerdings nur selten politisch vereinnahmt wurde, waren folglich auch die Möglichkeiten der Anhänger begrenzt, Propaganda-Veranstaltungen zum Kippen zu bringen. Erst 1933, als Funktionäre des NS-Regimes das Stadion als Bühne der Selbstdarstellung entdeckten, wurden Fußballfans tatsächlich als politische Störenfriede wahrgenommen.
Der wohl größte Skandal trug sich im Mai 1936 im Frankfurter Stadion zu. Am 16. jenes Monats war mit der ersten Mannschaft des FC Everton ein namhaftes englisches Team zu Gast am Main. Angesetzt war ein Trainingsspiel gegen die von Reichstrainer Otto Nerz betreute deutsche Auswahl für das olympische Turnier in Berlin. Wie bereits zahlreiche Anlässe zuvor, so wollte Frankfurts Oberbürgermeister Krebs auch diese Begegnung dazu nutzen, Frankfurt als die deutsche Sportstadt zu präsentieren: Für die Gästemannschaft wurde ein umfangreiches Besichtigungsprogramm arrangiert, Krebs selbst gab einen Empfang im Römer, schließlich trugen sich die englischen Kicker ins „Deutsche Buch der Stadt Frankfurt“ ein. Das Treffen selbst jedoch geriet zu einer Peinlichkeit sondergleichen. Unzufrieden mit der Aufstellung, die Nerz vorgenommen hatte, wurden nach Anpfiff vehemente Forderungen nach Einwechslung zweier Frankfurter Stars laut, worauf der Reichstrainer den Fans „einen Vogel zeigte“. Die Folge: Nach dem Spiel kam es zu Übergriffen auf Nerz – und damit war der Skandal perfekt. Zwar versuchte Oberbürgermeister Krebs noch das Schlimmste zu verhindern. Besänftigen aber ließ sich das Reichsfachamt Fußball als Ausrichter des Treffens nicht mehr. Erst zwei Jahre später wurde erneut eine große Fußballveranstaltung nach Frankfurt vergeben.
Um Fans in die politische Inszenierung des Fußballs einzubinden, wurde noch zu Beginn des Dritten Reiches versucht, auf deren Verhalten im Stadion einzuwirken. Sprechchöre, in welchen Begeisterung zum Ausdruck kam, waren erwünscht. Nicht hingegen Fangesänge, die die Denunzierung des Gegners – im Parteisprech: des „Volksgenossen“ – zum Inhalt hatten. „Es“ könne „nicht geduldet werden“, so war 1934 im Deutschen Fußballsport zu lesen, „wenn sich in der gleichen Viertelstunde, da der Gruß des Dritten Reiches die Spieler und Zuschauer zur Sammlung gerufen hat, der wüsteste Lärm (…) an der gleichen Stelle jener völkischen Kundgebung erhebt.“ Grundsätzlich galt für das Propagandablatt: Die Fans „haben ein begrenztes Recht, ihre Mannschaft anzufeuern und (…) Missfallen kundzutun.“ Wie sehr die Forderungen der gleichgeschalteten Presse jedoch von Wunschdenken geleitet waren, sollte sich spätestens 1939 anlässlich des Endspiels um den vom „Reichssportführer“ von Tschammer und Osten gestifteten Vereinspokal (Vorgänger des DFB-Pokals) zeigen. Als der FSV Frankfurt kurz vor Ende der Begegnung mit 1:3 gegen Rapid Wien zurücklag, vermuteten die vom Main angereisten Fans Schiebung und skandierten: „Von Tschammer und Osten – dein Pokal soll verrosten“.
Fußballklubs als Vertreter einer Region: die Zeit der Gau- und Oberligen
Mit der Gleichschaltung des Sports 1933 wurde erstmals eine umfassende Reform der Fußballmeisterschaft in Gang gesetzt. Konkurrierten bis zur NS-Machtübernahme mehrere hundert erstklassige Vereine – verteilt auf Zehnerligen, die meist über eine Stadtmeisterschaft in die K.o.-Runden des DFB gelangten – um den nationalen Titel, so wurde mit der Einführung von sechzehn Gauligen die Zahl der Top-Klubs auf 160 reduziert. Faktisch sahen sich 1933 zwei Drittel der bisherigen Erstligavereine mit einem Zwangsabstieg konfrontiert – ein Zwangsabstieg, der sich nicht zuletzt auf die Fanidentitäten auswirken sollte.
Die Verbindung von Fankultur und Klub beruhte auf zwei Voraussetzungen. Damit ein Fußballverein unter den Bewohnern eines Viertels, eines Stadtteils lokale Identität stiften konnte, musste er einerseits seine urbane Heimat repräsentieren. Andererseits musste der Klub aber auch in der Lage sein, die örtliche Gemeinschaft auf möglichst hohem Niveau zu vertreten. Waren beide Grundsätze nicht mehr gegeben – beispielsweise durch einen mehrjährigen Verbleib in der dritten oder vierten Klasse –, so wanderten nach einigen Spielrunden die Anhänger zum räumlich nächstgelegenen Spitzenverein ab.
Das zu Beginn des Dritten Reiches eingeführte Gauligensystem löste exakt eine derartige Regionalisierung der Fanbindungen aus, wobei besonders Vereine aus den Großstädten betroffen waren. Im Regelfall konnten nur zwei bis drei Klubs eines Ballungsraumes ihre Position in einer neugeschaffenen Gauliga behaupten. Der Rest versank im Mittelmaß und war auf Dauer vom Rennen um die Deutsche Meisterschaft ausgeschlossen – mit den entsprechenden Folgen: Schon nachdem die erste Gauliga-Saison 1933/34 ausgetragen war, wurde beispielsweise in Dresden Klage darüber geführt, dass Zuschauer in größerer Zahl nur noch zu den Spielen des DSC und von Guts Muts kämen, zu den beiden einzigen Vereinen aus der sächsischen Hauptstadt also, die noch erstklassig waren. Eine ähnliche Entwicklung war nach gut einem Jahr Gauliga im Leipziger Fußball zu beobachten. Denjenigen Klubs, die bereits ihre zweite Saison in Folge in der zweiten Klasse absolvieren mussten, kamen die Fans abhanden. Dritter Fall: Heilbronn. Dem lokalen Traditionsverein VfR, der sich von den Folgen einer 1934 aufgedeckten Profi-Affäre jahrelang nicht erholen konnte, liefen in der Bezirksklasse die Zuschauer davon. In der Saison 1937/38 etwa verzeichnete der VfR nur noch gut 200 Besucher pro Spiel. Das war weniger als ein Zehntel der Zuschauer, die der Klub während seiner Gauliga-Zugehörigkeit 1933/34 verzeichnen konnte.
Spätestens 1935 waren die Folgen des neuen Meisterschaftssystems offensichtlich. Die in der höchsten Klasse verbliebenen Vereine einer Stadt zogen jetzt auch das Interesse derjenigen Fans auf sich, die in ihrem eigenen Viertel nicht mehr über ein Top-Team verfügten. Letztlich vergrößerten sich dadurch die Einzugsgebiete der Spitzenklubs. Einige Beispiele seien genannt. In Leipzig konnte Mitte der 1930er Jahre der Verein Tura mit seinem Sitz im Stadtteil Leutzsch den gesamten Westen und der VfB den gesamten Süden der Messestadt mobilisieren. In Heilbronn war die auf der anderen Neckar-Seite beheimatete Böckinger Union nach dem Absturz des Lokalrivalen VfR plötzlich in der Lage, neue Besucherrekorde aufzustellen. In Offenbach schließlich wuchsen die Kickers mehr und mehr in die Rolle des einzigen städtischen Vertreters im Fußball hinein, nachdem die Vorort-Vereine aus Bieber und Bürgel ihre Erstklassigkeit auf Dauer eingebüßt hatten.
In Westdeutschland begann die endgültige Regionalisierung der Fanidentitäten mit der Einführung der Oberligen 1945/46. In einer Oberliga waren im Höchstfall noch zwei Vereine aus einer Stadt vertreten. Klubs aus dem Umland hingegen hatten nicht mehr die geringste Chance, in die höchste Klasse vorzudringen. Seit den späten 1940er Jahren konnte deshalb das Einzugsgebiet eines Innenstadtvereins bis weit hinein in ländliche Gebiete reichen. Die Top-Mannschaften wandelten sich nun zu Repräsentanten einer ganzen Region, sie gerieten zu Aushängeschildern Westfalens (Borussia Dortmund), Frankens (1. FC Nürnberg), Schwabens (VfB Stuttgart) oder der Pfalz (1. FC Kaiserslautern). Selbst in manchen Reaktionen auf das – aus deutscher Sicht – wohl größte Fußball-Ereignis der 1950er, das „Wunder von Bern“, spiegelt sich das regionale Fanbewusstsein wieder. „Bezeichnenderweise“, so bemerkt etwa der Zeithistoriker Wolfram Pyta in seiner Analyse des 4. Juli 1954, „wurden Kohlmeyer, Liebrich, Eckel und die Gebrüder Fritz und Ottmar Walter (…) bei ihrer Triumphreise (…) durch die deutschen Lande (…) weniger als nationale Heroen denn als Kulturbotschafter der Pfalz wahrgenommen.“
Der Niedergang des „Vereinsfanatismus“
Keine der zahlreich nachfolgenden Fankulturen war ähnlich renitent gegenüber geschichtlichen Entwicklungen wie der Lokalpatriotismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der „Vereinsfanatismus“ überlebte nicht nur die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik sowie die nationalsozialistische Gleichschaltung, sondern ebenso den Epochenbruch des Jahres 1945. In München beispielsweise datiert die letzte Ausschreitung vor Kriegsende vom April jenes Jahres, während der erste Tumult nach dem Waffenstillstand bereits wenige Monate nach dem Einmarsch der US-Truppen zu verzeichnen war. Im Rhein-Main-Gebiet, dessen Fußball zunehmend vom Gegensatz zwischen den Kickers aus Offenbach und der Eintracht aus Frankfurt dominiert wurde, kam es seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre gar zu regelrechten Schlachten in und vor den Stadien. Und auch in anderen traditionellen Fußballhochburgen – erwähnt seien Nürnberg-Fürth, Mannheim und Karlsruhe – ging es weiterhin munter zur Sache.
Selbst die Einführung der Gau- beziehungsweise der Oberligen führte nicht zu einem Niedergang des Vereinsfanatismus. Sah es unmittelbar nach den beiden Meisterschaftsreformen noch so aus, als seien den lokalen Fußballkulturen jahrzehntelang vertraute Feindbilder abhanden gekommen, so erwies sich in der Realität die Fangewalt durchaus als anpassungsfähig. Die inner-städtischen Gegensätze wurden lediglich um inter-städtische ergänzt. Mannheimer Anhänger fanden neue Rivalen in den Klubs aus Karlsruhe, Fans der Münchner Löwen erkannten, dass nicht nur die „Bayern“, sondern auch die „Clubberer“ stets für eine Prügelei gut sind, während die klassischen Feinde des Club-Anhangs, die „Fürther“, nun für ihr Auftreten in badischen Städten „Berühmtheit“ erlangten – so etwa im Frühsommer 1948, als es beim Spiel der Oberliga Süd VfB Karlsruhe-Mühlburg gegen SpVgg. Fürth zu einer der schwersten Ausschreitungen der 1940er Jahre kam.
Letztlich waren es langfristige geschichtliche Entwicklungen, die zum Verschwinden der frühen Fankulturen im deutschen Fußball führten. Woran sich sowohl der Deutsche Fußballbund und die NS-Diktatur als auch die Besatzungsbehörden vergeblich abarbeiteten, das geschah zu Beginn der 1960er Jahre fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Mit dem Wirtschaftswunder war die bundesrepublikanische Gesellschaft in Bewegung geraten. Die Bindung an das Stadtteil-Milieu – und damit an den lokalen Klub – verlor für viele Zeitgenossen gegenüber dem beruflichen Erfolg an Bedeutung. Die Gesellschaft wurde mobil. Das Leben spielte sich nicht mehr von der Geburt bis zum Tod in den engen Grenzen eines Stadtviertels ab. Die Vereinszugehörigkeit wurde zwar noch mit in die Wiege gelegt, mit dem Abwandern aus dem angestammten Lebensraum verlor der Fußballklub jedoch an symbolischer Bedeutung. Es dauerte nicht lange, bis die Folgen dieser Entwicklung für jedermann sichtbar waren: Als im Sommer 1963 die erste Bundesligasaison angepfiffen wurde, war es auf den Stehtribünen so ruhig wie nie zuvor. Und diejenigen schließlich, die in den 1970ern erneut die Gewalt in die Stadien trugen, hatten mit den alten „Vereinsfanatikern“ nicht mehr das Geringste gemein – nicht einmal das Aussehen.
Quellen und Literatur
Bauer, Thomas: Frankfurt am Ball. Eintracht und FSV – 100 Jahre Fußballgeschichte, Bühl 1999.
Der Kicker. Illustrierte Fußball-Wochenschrift, Jg. 1-25 (1920-1944).
Deutscher Fußball-Sport, Jg. 2 (1934).
Fuge, Jens: Ein Jahrhundert Leipziger Fußball. Die Jahre 1893 bis 1945, Leipzig 1996.
100 Jahre Kickers Offenbach. Ein Verein zum Leben, o. O. 2001.
Neumann, Herbert: Eintracht Frankfurt. Die Geschichte eines berühmten Sportvereins, Düsseldorf 1974.
Oswald, Rudolf: „Bieber-Eck“ und „Essig-Haas-Seite“: Fußball als Kampf um die Beherrschung lokaler Räume im Deutschland der Zwischenkriegszeit, in: Werkstattgeschichte 14 (2006), S. 67-75.
Oswald, Rudolf: „Fußball-Volksgemeinschaft“: Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964, Frankfurt a.M, New York 2008.
Oswald, Rudolf: Gewalt und Fanatismus im Karlsruher Fußball der 1920er bis 1950er Jahre, in: Blick in die Geschichte. Karlsruher stadthistorische Beiträge, 19. Juni 2009 (Nr. 83).
Pyta, Wolfram (Hg.): Der lange Weg zur Bundesliga. Zum Siegeszug des Fußballs in Deutschland, Münster 2004.
Querengässer, Klaus: 100 Jahre Fußball in Dresden, Kassel 1995.
Sachse, Horst: Fußball in und um Leipzig. Von den Anfängen bis 1945, Leipzig 2000.
Zeilinger, Gerhard: Die Fußball-Hochburg Mannheim 1920-1945, Buchen-Walldürn 1994.