Читать книгу Ein Nussknacker zum verlieben - Martina Brunnert - Страница 6

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Nach einer ungefähr dreistündigen Fahrt, die Maren wie eine Ewigkeit vorkam, lenkte Vater Förster seinen himmelblauen Traum auf einen Rastplatz an der A7. „So, wir machen jetzt eine Pause.“

„Schön, es ist ja auch gleich Mittagszeit. Die Pause wird uns allen guttun“, erwiderte Helga Förster.

„Genau, ich werde erst tanken, dann suchen wir uns ein schönes Plätzchen.“

„Papa, dort drüben ist ein guter Parkplatz, da haben wir es nicht so weit zum Restaurant!“, sagte Maren zu ihrem Vater, sichtlich erleichtert, dem Brutkasten für ein paar Minuten zu entrinnen. Die Sonne war am Zenit des Tages angekommen, und die Sonnenstrahlen knallten gnadenlos auf das Dach des Autos. Maren war froh, für eine halbe Stunde der Auto-Sauna zu entkommen und sich in einem klimatisierten Raum abzukühlen.

„Nicht doch, Maren“, mischte sich ihre Mutter ein, „da laufen doch so viele Leute hin und her, aber da hinten sind schöne Sitzplätze im Schatten. Dort können wir in Ruhe unser Picknick machen.“

„Picknick?“, fragte Maren entgeistert ihre Mutter. „Du hast Butterbrote für unterwegs eingepackt?“

„Nein, aber wir haben leckeren Kartoffelsalat, Frikadellen, die du so gern magst, gebratene Schnitzel, Gürkchen und ein bisschen Obst für hinterher. Und natürlich eine Thermoskanne mit Kaffee.“

„Ihr seid sicher, dass ihr nur bis Norditalien wollt und nicht bis runter nach Kap Hoorn? Man kann sich auch eine Kleinigkeit in der Gaststätte kaufen und braucht keinen unnützen Reiseproviant für unterwegs mitzunehmen“, belehrte Maren ihre Mutter.

„Schon, aber man weiß ja nicht, wer das Essen zubereitet hat, ob es schmeckt und was drin ist. Außerdem ist das Essen in diesen Autobahnraststätten viel zu teuer. Das habe ich erst letztens wieder in einem Bericht im Fernsehen gesehen.“ Sie wandte sich an ihren Mann. „Kurt, während du tankst, werden Maren und ich schon mal das Picknick vorbereiten.“ Damit war alles zu diesem Thema gesagt, was von Kurt nur mit einem „Jou, so mok we dat“ kommentiert wurde.

Also stiegen Maren und ihre Mutter an der Tankstelle aus und gingen mit Körben und Kühltaschen beladen in Richtung der hinteren Bänke. Dort angekommen, holte Frau Förster zuerst ihren mitgebrachten Küchenlappen aus einem Plastikbeutel und wischte Tisch und Bänke ab.

„Mama, es reicht doch völlig, wenn wir Papiertaschentücher auf den Tisch vor uns legen.“

„Nee, das mag ich gar nicht.“ Sie breitete die mitgebrachte Wachstischdecke auf dem abgewischten Tisch aus. „Nachher ist die Tischdecke von unten so verkrümelt.“

„Ach, Mama, du bist unbelehrbar. Manchmal glaube ich, ihr seid irgendwo 1970 stehengeblieben.“

„So ist das doch viel gemütlicher, findest du nicht?“, lächelte Frau Förster ihre Tochter an.

„Schon, aber dieser ganze Aufwand …“

„Das macht doch nichts! Hauptsache, wir sind zusammen und haben eine schöne Zeit miteinander. Außerdem weiß ich, dass dein Vater das so gern hat. Früher haben wir beide oft Picknicks gemacht, als wir uns kennengelernt haben …“

„Das weiß ich.“

Ich würde meinen Liebsten auch gern verwöhnen, doch der musste ja einen auf wilde Wutz machen, dachte sich Maren.

Ihre Mutter schien ihre Gedanken gelesen zu haben. „Maren, es wird auch wieder anders für dich. Schau jetzt nach vorn. Denk dran, andere Mütter haben auch schöne Söhne.“

„Nein, danke! Damit bin ich durch. Noch mal hol ich mir nicht so einen Blödmann an den Hals. Darauf kann ich wirklich verzichten“, entgegnete Maren zerknirscht.

„Wenn erst der Richtige vor dir steht … Du wirst schon sehen!“

Maren schüttelte den Kopf. Dieses Hirngespinst sollte sich nicht in ihren Gedanken einnisten. „Nie im Leben! Woher soll man denn auch wissen, wer der Richtige ist?“

„Maren, das sagt dir ganz allein dein Herz. Du wirst es erleben.“

Nach und nach wurde der Tisch mit Plastiktellern, Besteck und Bechern gedeckt. Zum Schluss kamen die mitgebrachten Leckereien in Tupper-Dosen dazu. Es fehlte an nichts. Selbst Salz, Senf, Ketchup und hartgekochte Eier vervollständigten die Schlemmerplatte.

Als sich Marens Vater endlich zu ihnen setzte, sagte Maren mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen: „Ich glaube, ihr wollt doch zum Kap Hoorn.“

Nachdem alle gesättigt waren, wurde alles wieder feinsäuberlich aufgeräumt und verstaut. Nur die Tischabfälle wurden in die Mülleimer des Rastplatzes geworfen.

„So, Muddern“, begann Vater Kurt. „Nun guck dir ganz genau die Karte an. Hier ungefähr sind wir …“ Er tippte mit seinem großen, dicken Finger bedeutungsvoll und mit Nachdruck auf eine bestimmte Stelle der Straßenkarte, die auf dem Tisch vor ihnen lag. „… und an dieser Abfahrt müssen wir die Ausfahrt zur A3 in Richtung A9 nehmen. Da musst du mir Bescheid sagen. Okay? Und beim alten Grenzübergang Kufstein, in Österreich, geht es weiter auf der E45.“

„Alles klar, Kurt. Das mache ich ja nicht zum ersten Mal“, entgegnete Helga selbstbewusst, schob ihre Brille auf der Nase zurecht und schaute besonders interessiert auf die Karte, um den Eindruck zu vermitteln, dass sie alles verstanden hatte. Ihre verzogene Mundlinie verriet Maren aber, dass dem nicht so war. Sie wusste, dass ihre Mutter es nicht so mit der Orientierung hatte. Wie sie so dasaßen, ihre Mutter mit ihrer Föhndauerwelle und dem geblümten Sommerkleid und ihr Vater im rot-weiß-karierten Hemd und Jeans, hatten sie etwas Altbackenes an sich.

„Habt ihr kein Navi?“, fragte Maren ihre Eltern.

„Nee, so’n neumodischen Kram brauchen wir nicht. Mit der guten alten Straßenkarte sind wir bis jetzt überall hingekommen. Nicht wahr, Muddern?“

„Na ja, ich dachte nur, es sei dann für alle einfacher und sicherer“, meinte Maren beschwichtigend. Diesen Einwurf ignorierend, fuhr ihre Mutter fort: „Kufstein, wie schön“, schwärmte sie. „Das Kufstein-Lied habe ich früher immer gern in unserem Chor gesungen.“

Bitte nicht singen, dachte Maren, bitte jetzt nicht singen!

Doch schon erschallte die Stimme ihrer Mutter in den höchsten Tönen über den Parkplatz. „Kennst du die Perle, die Perle Tirols? … Das Städtchen Kufstein, das kennst du wohl, … Umrahmt von Bergen, so friedlich und still, … Ja, das ist Kufstein dort am grünen Inn, … Ja, das ist Kufstein am grünen Inn.“

Und noch bevor sich Maren von diesem kulturellen Schock erholen konnte, setzte ihre Mutter mit geschwellter Brust von Neuem an: „Ho-la-re-di ri-di ri-di ri, ho-la-ri ho-la-rei di-jo-la-ri.“

Hier kennt uns ja, Gott sei Dank, keiner, dachte Maren und packte peinlich berührt mit ihrer Mutter, die noch immer die Melodie des angestimmten Liedes summte, alles Restliche zusammen und verstaute die Kühltaschen und die Körbe wieder in den Kofferraum des Wagens.

Während Maren den Ohrwurm nicht mehr loswurde, reihte sich der himmelblaue Backofen in den dichter werdenden Verkehr der Autobahn ein. Im Fahrzeug war es stickig. Sie fuhren, eingebettet in der Blechlawine, in Richtung Süden.

Die Straße flimmerte in der Ferne. So fuhren die drei einige Zeit weiter. Maren war, von der Hitze fast ohnmächtig, leicht eingedöst, als sie durch die Stimme ihres Vaters, begleitet von einem fröhlichen Lied von Hansi Hinterseer, aus ihrem Tagtraum gerissen wurde.

„Helga, nun müssen wir aufpassen, gleich kommt das Autobahnkreuz, an dem wir die Autobahn wechseln müssen.“

„Jetzt schon?“, fragte Helga irritiert. „Ich dachte, das dauert noch.“ Sie fing an, die Karte umständlich auseinander zu falten und den richtigen Kartenabschnitt zu suchen. Die Karte nahm den gesamten Platz zwischen Helga und der Windschutzscheibe ein. Selbst Kurts rechte Seite wurde von der Karte bedeckt.

„Wo sind wir denn jetzt?“

„Bei Würzburg!“

„Aha.“

Die Hitze schien auch ihn mitzunehmen. Er schaute zu seiner Frau, die angestrengt auf die Karte schaute.

„Wir müssten hier irgendwo sein!“ Kurt tippte mit seinem Finger mehrmals unwirsch auf die ausgebreitete, gut dreißig Jahre alte Karte – jedoch etwas zu stark. Das altersschwache Papier gab nach, und sein Finger bohrte ein Loch hinein. Das Fahrzeug machte einen kleinen Schlenker.

„Kurt, pass doch auf! Guck lieber nach vorn. Die schöne Karte! Jetzt ist sie kaputt“, lamentierte Helga.

„Ich muss jetzt hier runter, welche Richtung muss ich denn nehmen?“, rief Kurt seiner Frau zu.

„Wir müssten, glaube ich, hier raus.“ Marens Mutter zeigte auf die Ausfahrt, an der sie gerade vorbeifuhren.

„O nein, nun muss ich irgendwie umdrehen! Du solltest mir doch rechtzeitig Bescheid sagen.“ Auf Kurts geribbelter Stirn hätte man Wäsche waschen können.

Maren konnte sich dieses Schauspiel nicht mehr mitansehen.

Das ist ja wie im falschen Film!, fluchte Maren in Gedanken. Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche. Nach einer kurzen Recherche sagte sie zu ihrem Vater: „Du kannst weiter auf der A7 bleiben bis zum Kreuz Feuchtwangen/Crailsheim, da kannst du auf die A6 fahren bis Wendelstein bei Nürnberg und dann auf die A9. Dann bei München auf die A8. Und danach fährst du beim Dreieck Inntal auf die A93 Richtung Kufstein.“

Vorn im Cockpit war es für einen Moment ruhig.

„Das sagt dir alles dein Telefon?“, fragte Helga ihre Tochter sichtlich beeindruckt.

„Ja klar! Das ist ein Smartphone – die Zukunft. Und ein Navi würde auch nichts anderes tun.“

„Das is ja doll!“

„Und was machst du, wenn dein Handy keinen Strom hat? Dann nützt dir so ein Smart-Dingsbums oder Navi auch nichts“, sagte Marens Vater skeptisch.

„Dann, Papa, schließe ich mein Smartphone oder mein Navi an dem Zigarettenanzünder im Fahrzeug an und hole mir Strom von der Batterie.“

„Tja, Helga, ich glaube, du kannst die Karte zusammenfalten. Ab jetzt haben wir einen neuen Navigator“, sagte Marens Vater voller Stolz zu seiner Frau. „Ist eben meine Tochter!“

Entspannt fuhr Kurt weiter. Helga, froh, die schwierige Aufgabe abgeben zu können, faltete die Karte, die an den Faltkanten schon fast auseinanderfiel, wieder zusammen. Dabei bemerkte Helga, dass sie die Karte falsch herum gehalten hatte und verstaute die Karte schnelle im Handschuhfach

„Wir haben wirklich eine kluge Tochter“, sagte Helga und widmete sich entspannt der vorbeiziehenden Landschaft.

Erleichtert, den Frieden in der Familie wiederhergestellt zu haben, lotste Maren ihre Eltern durch das Autobahnnetz.

Teilnahmslos schaute sie aus dem Seitenfenster. Der gestrige Vorfall hatte sie sehr mitgenommen. Entkräftet und übermüdet saß Maren auf dem Rücksitz des Autos ihrer Eltern. Wenn ihr Vater ein Fahrzeug überholte, sah sie in die Gesichter glücklicher Familien, die in den Urlaub fuhren. Eine Familie hatte sogar das gleiche gelbe T-Shirt an und auf dem Kopf trugen alle die gleichen roten Caps. Verstohlen wischte sich Maren eine Träne aus dem Augenwinkel.

Das monotone Brummen des Motors machte sie zusätzlich müde. Früher, als sie als Kind mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren war, hatte sie immer auf der Fahrt geschlafen. Damals waren sie immer in den frühen Morgenstunden aufgebrochen. Es war dann noch stockdunkel und in der Wohnsiedlung war eine beruhigend. Maren hatte sich in ihre Bettdecke auf dem Rücksitz eingemummelt und ihren Plüschhasen Mucki im Arm gehalten. Das waren schöne Zeiten gewesen. Da war das Urlaubsgefühl noch mit Abenteuer verbunden gewesen.

Heute war das anders. Es fühlte sich mehr nach Flucht als nach Urlaub an. Dabei hatte sich Maren so darauf gefreut.

Plötzlich hörte Maren einen Knall und war schlagartig wach.

Dem Reisebus, der vor ihnen fuhr, war plötzlich einer der hinteren Zwillingsreifen geplatzt. Das Reifengummi flog mit Wucht auf das Fahrzeug der Familie Förster. Marens Vater blieb Herr der Lage und lenkte das Fahrzeug souverän auf den Pannenstreifen, wo er hinter dem Reisebus zum Stehen kam. Ihre Mutter hingegen war kreideweiß.

Herr Förster schaltete den Warnblinker an und sagte: „Ihr bleibt im Fahrzeug sitzen.“ Dann stieg er aus, um sich den Schaden an seinem Auto anzusehen, das Warndreieck aufzustellen und Kontakt mit dem Busfahrer aufzunehmen. Langsam wich der Schock von Marens Mutter. „O Gott, Maren, wir hatten einen Unfall!“ Helga kramte hektisch in den Tiefen ihrer Handtasche nach ihren Beruhigungspillen. „Brauchst du auch welche?“

„Nein, danke, Mama. Ich brauche nichts zur Beruhigung. Es ist ja, Gott sei Dank, nichts passiert“, versuchte Maren, ihre Mutter zu beruhigen. Entgegen der Anweisung ihres Vaters stieg Maren aus, um sich selber ein Bild der Situation zu machen. Sie wusste ja, wie sehr ihm sein himmelblauer Mercedes am Herzen lag. Da konnte sein sonst so norddeutsches, ruhiges Gemüt schon mal hochschnellen. Doch Marens Vater war wie immer ruhig und besonnen. Durch den starken Aufprall der Reifenfetzen war lediglich der Kühlergrill etwas beschädigt worden. Eine Weiterfahrt war somit unbedenklich. Maren machte gleich ein paar Fotos für die Versicherung. Der Austausch der Versicherungsdaten war, nach einem kurzen Telefongespräch mit dem Reisunternehmen, schnell erledigt. Alle waren mit einem Schrecken davongekommen.

Das ist alles Thomas’ Schuld, dachte sich Maren, als sie zum Auto zurücklief, um wieder einzusteigen. Wenn er nicht so ein Idiot gewesen wäre und mich betrogen hätte, wären wir jetzt zusammen in der Provence und meine Eltern wären nicht wegen mir in diese brenzliche Situation gekommen.

In diesem Moment summte ihr Smartphone. Vor Schreck hätte Maren ihr Handy beinah fallengelassen. Nach einem kurzen Blick auf das Display erkannte sie sofort die Nummer. Thomas! Es schien ihr, als würde ihr Herz für einen Moment stillstehen. Wütend über sein unpassendes Timing drückte sie den Anruf weg.

Der kann mir jetzt gestohlen bleiben. Meldet sich erst einen Tag später! Der kann jetzt lange warten. Maren dachte sich richtig in Rage. Als sie zurück in das Auto stieg, ließ sie ihre aufgekommene Wut über Thomas an der Autotür aus und knallte sie mit so viel Wucht zu, dass die restlichen Mitreisenden erschrocken zusammenschreckten.

„Das ist doch kein Panzer!“ Marens Vater schaute sie mit einer in Falten gelegten Stirn über die Brille hinweg an.

„Ich glaube, ich brauche noch eine von meinen Pillen.“ Marens Mutter fing wieder an, hektisch in ihrer Handtasche hektisch herumzukramen.

„Ups, Entschuldigung“, erwiderte Maren kleinlaut. „War nicht so gemeint. Ich habe mich nur wieder über Thomas geärgert. Er hat mich gerade angerufen.“

„Und, was hat er gewollt? Dieser Hallodri!“, fragte Kurt seine Tochter.

„Das weiß ich nicht, ich habe ihn weggedrückt. Ich will nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.“ Wie ein trotziges Kind verschränkte Maren ihre Arme vor der Brust, und ihr Mund verzog sich zu einem Schmollmund.

„Recht hast du, mein Kind“, pflichtete Helga ihrer Tochter bei. „Aber irgendwann solltet ihr euch aussprechen.“

„Ja, vermutlich“, sagte Maren geistesabwesend. Sie stellte sich die Situation vor. In ihrem Tagtraum war Thomas so galant wie früher. Er sah blendend aus und roch wunderbar verführerisch nach seinem Aftershave. Oh, wie sie diesen Duft mochte. Von diesem Gedanken bekam sie einen Stich ins Herz. So würde es nie wieder sein. Dieses Mal würde Thomas sie nicht wieder mit seinem Charme umgarnen.

Ja. Irgendwann vielleicht, dachte Maren, irgendwann ist ein anderes Wort für niemals!

Ihr Handy piepte eine Zwitscher-Melodie. Maren hatte es noch in der Hand und erkannte, dass Thomas ihr eine Nachricht gesendet hatte. Sie ignorierte sie und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe als Navigator.

Herr Förster setzte sein Fahrzeug wieder in Bewegung und fädelte sich in den immer dichter werdenden Verkehr ein.

Endlich, nach gefühlten Stunden, überquerten sie den Inn.

„Hier war früher die Grenze zwischen Deutschland und Österreich“, teilte Kurt seiner Familie mit. „Da drüben ist Kufstein. Dort machen wir eine Pause.“

Das war Mutter Försters Einsatz. Sofort begann sie wieder, in den höchsten Tön zu singen: „Kennst du die Perle, die Perle Tirol? … Das Städtchen Kufstein, das kennst du wohl …“

Der Verkehr wurde langsamer. Oh, nein! Wir kommen in einen Stau. In fünf Kilometern Entfernung ist eine Baustelle. Die Fahrbahn wird gerade saniert.“

„Umrahmt von Bergen, so friedlich und still …“

Friedlich und still, schön wär’s, dachte Maren und verdrehte innerlich die Augen, als es einen ohrenbetäubenden Knall gab und ihre Eltern und sie mit voller Wucht nach vorn und wieder zurück geschleudert wurden. Durch den plötzlichen Ruck wurde das Radio aus der Verankerung gerissen, sauste zwischen den Vordersitzen auf die Rückbank und kam neben Maren zum Liegen.

Erschrocken schaute sich die Eheleute Förster an. Für einen Moment wusste keiner, was gerade passiert war.

Maren kam zuerst wieder zur Besinnung und drehte sich reflexartig um. Kurz hinter der Heckscheibe des himmelblauen Traums ihres Vaters stand ein weißer Ford Escort.

Ihr schauten vier ungläubig dreinblickende Augen entgegen. Das eine blassgraue Augenpaar gehörte dem jungen rothaarigen Fahrer mit fliehendem Kinn. Das Gesicht kreidebleich. Das andere Augenpaar schaute ihr nicht weniger dümmlich entgegen, als ob es noch nicht realisiert hatte, was gerade passiert war. Aus dem Wageninneren des Ford Escorts dröhnten unüberhörbar die quietschenden Gitarren einer Heavy Metal-Band.

„Ich glaube, wir hatten gerade schon wieder einen Unfall“, sagte Maren, selber noch den Schock in den Gliedern.

„O mein Gott, ich brauche meine Pillen!“, konnte Marens Mutter nur sagen.

„Das darf doch nicht wahr ein! Mein schönes Auto. Können die Bazis kein Auto fahren? Oh nee, oh nee, oh nee.“ Kurt war außer sich und versuchte, sich umständlich von seinem Gurt zu befreien. Sofort kamen ein paar Leute, die den Försters aus dem Wagen halfen.

„Mein schönes Auto, mein schönes Auto“, jammerte Herr Förster. „Hast du deinen Führerschein im Lotto gewonnen? Oder was? Das darf doch nicht wahr sein!“

Frau Förster zitterte am ganzen Körper und wartete auf die Wirkung ihres Beruhigungsmittels. Maren konnte es nicht fassen. Es sollte wohl nicht sein, dass sie ein paar Tage Ruhe und Entspannung erhielt.

Der Unfallverursacher hatte nicht aufgepasst, den vor ihnen liegenden Stau nicht bemerkt, war ungebremst auf das himmelblaue Fahrzeug der Försters aufgefahren und hatte fast den ganzen Kofferraum zusammengeschoben.

Nur der Packkunst von Herrn Förster war es zu verdanken, dass Maren auf der Rückbank nichts passiert war.

Auf der Straße lagen Glassplitter von den Blinkern, Lackteile der beteiligten Fahrzeuge sowie die Stoßstange des Unfallgegners.

Einer der Helfer hatte gleich die Polizei verständigt, binnen kürzester Zeit vor Ort war. Das Martinshorn des Krankenwagens war schon aus der Ferne zu hören. Die Polizisten nahmen die Daten am Unfallort auf.

Maren und ihre Eltern wurden von den Sanitätern untersucht und trotz der Hitze in eine Rettungsfolie gewickelt. Es grenzte an ein Wunder, dass keine ernsthaften Verletzungen bei den Försters sowie den beiden Unfallverursachern festgestellt wurden. Somit konnte der Krankenwagen schnell wieder abfahren.

Die beiden jungen Männer, die nicht älter als achtzehn Jahre zu sein schienen, standen bedröppelt und schuldbewusst mit den Händen in den Hosentaschen am Straßenrand.

Der junge Fahrer hatte an diesem Tag seine Führerscheinprüfung bestanden und zusammen mit seinem Freund die bestandene Prüfung mit einer Spritztour nach Österreich feiern wollen.

Bei dieser Fahrt hatten die beiden mal so richtig Gummi geben und ihre neue Freiheit ausleben wollen. Diese Fahrt würde ihm nun bestimmt für immer im Gedächtnis bleiben.

Maren machte mit ihrem Smartphone wieder Fotos für die Versicherung. Das wird ja ein besonders schönes Fotoalbum, dachte sie Maren. Sie setzte sich zu ihrer Mutter, die hinter der Leitplanke auf der Berme saß und langsam wieder ihre Fassung zurückerlang. Das Medikament schien zu wirken. Maren legte den Arm um ihre Mutter.

Kurt Förster war im Gespräch mit dem Polizeibeamten vertieft, als der Abschleppwagen an dem Unfallort eintraf.

„Wir bringen Ihr Auto jetzt in eine Werkstatt hier in der Nähe und Sie in eine Pension“, sagte ein Polizist zu Kurt. „Da können Sie sich von dem Schreck erholen. Die Schuldfrage ist eindeutig. Die beiden jungen Männer im anderen Fahrzeug waren zu schnell und haben nicht aufgepasst. Die beiden können jetzt selber sehen, wie sie ihr Auto von der Fahrbahn bekommen. Montag wird sich der Sachverständige Ihr Auto ansehen. Aber so, wie ich das sehe, ist das ein Totalschaden.“

„Totalschaden?“ Kurt Förster sah vom Polizisten zu seinem Fahrzeug, und sein Gesicht wurde aschfahl. Er griff sich ans Herz. „Mein schönes Auto! Mein schönes Auto.“ Mehr konnte er gerade nicht mehr sagen.

Die Försters stiegen in das Polizeifahrzeug ein und wurden, wie versprochen, in eine Pension gebracht. Es ging wieder zurück über die Inntal-Autobahn in Richtung Deutschland.

Die Pension war im idyllisch gelegenen Örtchen Nußdorf. Das Polizeiauto hielt vor einem weißen, gepflegten Haus mit einem großen Balkon, der sich über die ganze Frontseite erstreckte. Über der Brüstung des Balkons ergossen sich üppige Geranienpflanzen.

„Das Gästehaus Nußdorf gehört einer Freundin meiner Schwägerin. Hier können Sie sich von dem Schock erstmal erholen. Die beiden werden sich gut um Sie kümmern, da bin ich mir sicher. Das Gasthaus ist auch nicht weit. Sehr gute Küche. Hier ist die Adresse, wo wir Ihr Fahrzeug hingebracht haben.“

Der freundliche Polizist übergab Maren einen Zettel. Fischbacher Reparaturwerkstatt, Brannenburger Straße, stand drauf.

„Nachher bringen Ihnen die Jungs von der Werkstatt Ihre Koffer.“

„Vielen Dank für Ihre Mühe“, bedankte sich Maren. „Sie haben uns sehr geholfen.“

„Keine Ursache, das ist unser Job. Ah, da kommt ja auch schon die Wirtin.“

Nachdem er die Wirtin begrüßt und ihr alles über die plötzliche Notlage erklärt hatte, verabschiedete er sich von allen mit einem kurzen Tippen an seine Mütze und fuhr mit seinem Kollegen zum nächsten Einsatz.

„Herzlich willkommen im Gästehaus Nußdorf. Ich bin Frau Gruber. Aber kommen Sie erstmal ins Haus, und ich zeige Ihnen Ihre Zimmer. Dann können Sie sich ausruhen und sich von dem fürchterlichen Schreck erholen. Das muss ja ein schreckliches Erlebnis für Sie gewesen sein!“

Nach dem Bezug der Zimmer ruhten sich Marens Eltern aus. Dieser Unfall, der tragisch hätte enden können, hatte beide mehr mitgenommen, als sie zugeben wollten.

Maren hingegen war zu aufgekratzt, um jetzt zu schlafen. Zu viel Adrenalin war noch in ihren Adern, als dass sie jetzt schlafen könnte. Sie schnappte sich ihren eBook-Reader und ihr Smartphone und setzte sich auf die Bank der Polyrattan-Outdoor-Möbel im Schatten vor dem Haus.

Sie hatte es sich gerade gemütlich gemacht, da kam die Wirtin aus dem Haus. „Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen? Und ein Stück Kuchen habe ich auch noch für Sie.“

„Ja, gern! Kaffee wäre jetzt wunderbar“, antwortete Maren.

„Kommt sofort.“ Die Wirtin verschwand mit einem zufriedenen Lächeln ins Haus, als Marens Smartphone erneut eine Zwitscher-Melodie verlauten ließ. Es war, wie konnte es auch anders sein, eine Nachricht von Thomas.

„Ganz bestimmt nicht!“, murmelte Maren. „Da kannst du warten, bis du schwarz wirst.“

In Wirklichkeit hatte Maren Angst, die Nachrichten von Thomas zu öffnen. Angst vor neuen Enttäuschungen. Angst vor der Aussprache. Angst vor Vorwürfen. Vielleicht war sie an diesem Dilemma auch selber schuld. Immerhin hatte sie in der letzten Zeit wenig Zeit für Thomas gehabt, weil sie sich mehr für ihren Job eingesetzt hatte.

Aber diese angebotene Chance hatte sie sich doch nicht entgehen lassen können! Ja, sie hatte vielleicht mit dem Rauswurf aus ihrer Wohnung übertrieben reagiert. Ihre Nerven waren schließlich mit ihr durchgegangen. Wer wusste, wie lange das schon mit der Blonden ging. War sie die Einzige, mit der er sie betrogen hatte? Oder waren da noch mehr? Maren wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Jedenfalls nicht jetzt.

Zwitscher, Zwitscherwieder eine Nachricht von Thomas.

Wenn er mir so oft schreibt, ist es vielleicht wichtig, dachte sich Maren. Vielleicht bereut er, was er getan hat, und möchte sich mit mir versöhnen.

Nein, ermahnte sich Maren. Nicht heute. Dieser Blödmann kann mir gestohlen bleiben!

Ihr Handy klingelte erneut. Maren wollte es gerade genervt ausschalten, als sie den Namen ihrer Freundin las.

„Carmen!“, rief sie erfreut ins Telefon. „Ach, Carmen, schön, dass du dich meldest. Ich brauche dringend jemanden, mit dem ich reden kann.“

„Was ist denn los? Bist du krank? Hat deinem Chef die Präsentation nicht gefallen?“, fragte Carmen besorgt.

„Nein, ich bin nicht krank und meine Präsentation ist super verlaufen, ich bin sogar befördert worden. Danke übrigens noch mal für deine hilfreichen Tipps.“ Maren merkte, wie sich ihre Augen mit Wasser füllten und sich ihr Hals zuschnürte. Sie versuchte aber, ihre Tränen tapfer zurückzuhalten.

„Gern geschehen. Dann ist ja alles gut. Ich dachte schon, es wäre was passiert, als ich heute Nachmittag deinen Anruf auf meinem AB von letzter Nacht gesehen habe. Wir sind ja eben erst von der Ostsee zurückgekommen. Du, das war super schön. Das Hotel war einfach traumhaft. Rüdiger und ich haben so viel Schönes unternommen. Es war so romantisch. Maren? Du sagst ja gar nichts. Alles okay bei dir?“

Maren wurde es immer schwerer ums Herz. Sie freute sich natürlich für ihre Freundin, aber je mehr Carmen ins Schwärmen geriet und von ihrem Glück erzählte, desto mehr kam die Erinnerung daran zurück, dass sie jetzt eigentlich mit ihrer großen Liebe, Thomas, in ihrem Hotel in der Provence sein und auch romantische Tage verbringen sollte, so wie sie es sich vorgestellt hatte. Stattdessen war sie in einem katastrophalen Noturlaub mit ihren Eltern in diesem Kaff Nußdorf gestrandet.

„Nix ist okay!“ Tränen liefen ihr heiß über die Wangen. Sie war es leid, gegen sie anzukämpfen. „Gar nix ist okay. „Thomas hat mich betrogen. Ich habe ihn gestern in flagranti erwischt. Carmen, ich wurde noch nie so gedemütigt.“

„So ein Scheißkerl!“, rief Carmen wütend aus dem Lautsprecher des Handys. „Brauchst du Hilfe, ihn rauszuschmeißen? Ich komme sofort, Süße. Rüdiger und ich helfen dir, ihn an die Luft zu setzen.“

„Nein, ihr braucht nicht zu kommen. Ich habe ihn und sein Flittchen gleich gestern rausgeschmissen. Und alle ihre und seine Sachen habe ich über den Balkon nach unten geworfen. Carmen, das war so schrecklich. Ich glaube, ich werde nie wieder glücklich.“

„Das hast du gemacht? Wow, Respekt! Das hast du gut gemacht. Alle Hochachtung! Der hat es nicht anders verdient. Soll ich nicht doch vorbeikommen? Du solltest jetzt nicht allein sein“, erwiderte Carmen beeindruckt, aber auch besorgt.

„Nee“, näselte Maren. Vor lauter Weinen war ihre Nase verstopft. „Brauchst du nicht. Ich bin nicht zu Hause. Als ich weder dich noch Kira erreicht habe, weil ihr im Urlaub ward und es schon so spät war, habe ich meine Eltern angerufen. Die sind dann gleich heute Morgen bei mir aufgetaucht, um mich zu trösten und mir beizustehen. Und weil sie mich nicht allein lassen wollten und ich auch nicht allein bleiben wollte, habe ich eingewilligt, mit ihnen in den Urlaub nach Südtirol zu fahren. Aber ich glaube, das war eine saublöde Idee.“ Es fühlte sich gut an, endlich all den Frust rauslassen zu können. „Stell dir vor, wir hatten zwei Unfälle!“

„O mein Gott! Euch ist doch hoffentlich nichts passiert?“ Carmen war hörbar entsetzt.

„Nein, Gott sei Dank. Beim ersten Unfall ist einem Reisebus vor uns ein Reifen geplatzt. Da ist nur von den umherfliegenden Reifenteilen der Kühlergrill von Papas Auto etwas beschädigt worden. Dafür ist uns beim zweiten Unfall ein anderes Fahrzeug volle Kanne von hinten aufgefahren, als wir an ein Stauende herangefahren sind.

Der Kofferraum von Papas Auto ist total zusammengequetscht worden. Wie durch ein Wunder ist niemanden etwas passiert, nur Blechschaden. Mama ist mit ihren Nerven am Ende, Papa trauert um sein Auto. Die Polizisten vor Ort waren super nett und hilfsbereit und haben uns erstmal in eine Pension gebracht, die in der Nähe der Werkstatt ist, wo Papas Auto hingebracht wurde.

Nachher wird uns unser Gepäck gebracht, wenn die Mechaniker unsere Koffer aus dem Kofferraum – oder was davon noch übrig ist – rauspfriemeln können. Der Sachverständige kommt aber erst am Montag. So lange sitzen wir hier in diesem Kuhdorf Nußdorf fest. Toller Urlaub! Wenn wir keinen Ersatzwagen bekommen oder meinen Eltern diesen Schock nicht überwinden, war’s das und wir können nicht weiter nach Südtirol fahren.

Ach, Carmen, ich bin gestrandet in Nußdorf! Alles hat sich gegen mich verschworen, als soll es nicht sein. Und an allem ist dieser … dieser Blödmann Thomas Schuld. Am liebsten würde ich den nächsten Zug nach Hause nehmen, aber ich kann meine Eltern jetzt auch nicht im Stich lassen. Immerhin haben sie extra den Umweg über Hannover gemacht, um nach mir zu sehen. Sonst wäre das hier alles nicht passiert.“

„Ach, Maren, du tust mir so leid. Kann ich was für dich tun?“

„Sag Thomas auf gar keinem Fall, wo ich bin. Der soll erst einmal schmoren. Den will ich jetzt nicht sehen. Er ruft mich laufend an und sendet mir eine Nachricht nach der anderen.“

„Er möchte sich vielleicht entschuldigen. Es könnte ja auch ein Ausrutscher gewesen sein. Er hat sicherlich ein schlechtes Gewissen. Du solltest dich auf jeden Fall mit ihm aussprechen. Es gibt sicherlich noch so einiges zu klären.“

„Ja, bestimmt, irgendwann vielleicht. Jetzt bin ich nur zu enttäuscht von ihm und will vorerst nichts mit ihm zu tun haben.“

„Alles klar, Süße. Du kannst dich auf mich verlassen. Und wenn du Hilfe brauchst oder was anderes, dann rufst du mich an, okay?“

„Okay, Carmen. Das mache ich.“

Die beiden verabschiedeten sich voneinander, und Maren schaltete ihr Smartphone aus, damit sie nicht mehr von Thomas’ Nachrichten genervt wurde.

Die Wirtin, Frau Gruber, kam gerade aus dem Haus mit einem Tablett in der Hand. Sie machte trotz ihres Alters – Maren schätzte sie auf Mitte fünfzig – in ihrem Dirndl eine gute Figur. Ihre langen, blonden Haare trug sie in Zöpfen um den Kopf herumgewickelt wie eine Krone.

Frau Gruber stellte Maren eine Tasse Kaffee, einen Teller mit gedecktem Apfelkuchen, auf dem ein ordentlicher Schlag Sahne thronte, und ein kleines Schnapsglas mit selbstgebrautem Enzian hin. „So, jetzt stärken Sie sich erst einmal. Das Schnäpschen ist gegen den Schock. Sie sehen wirklich sehr mitgenommen aus. Aber morgen wird es Ihnen und Ihren Eltern bestimmt wieder gut gehen. Sie brauchen nicht traurig sein. Bis Montag können Sie sich in unserem schönen Dorf umschauen und erholen. Die Umgebung lädt zum Wandern ein.

So, jetzt lasse ich Sie wieder allein. Ich bereite das Abendessen für meinen Mann Schorsch zu. Wenn Sie was brauchen, melden Sie sich. Sie finden mich in der Küche.“

Maren trank genüsslich ihren Kaffee. Das heiße Getränk war sehr wohltuend. Sie merkte, dass sie ruhiger wurde. Der Kuchen schmeckte unfassbar gut. Beim Essen merkte Maren, wie hungrig sie inzwischen war.

Die Glocken der kleinen Dorfkirche begannen, zu läuten, und luden zum Samstagabend-Gebet ein.

Eigentlich sehr idyllisch hier, dachte Maren, als sie so in der Abendsonne saß. Sie schloss die Augen und genoss die Ruhe.

Nach einer Weile öffnete Maren sie wieder, nahm das Schnapsglas und trank den selbstgebrannten Enzian in einem Schluck, als plötzlich ein verbeulter Kleinbus mit Karacho auf den Hof der Familie Gruber fuhr und vor der Bank, auf der Maren saß, mit dem lauten Knall einer Fehlzündung zum Stehen kam.

Maren schreckte zusammen und hopste gefühlt einen Zentimeter von ihrem Sitzplatz hoch. Dabei verschluckte sie sich so sehr an ihrem Enzian, dass sich ein Tröpfchen des scharfen Alkohols den Weg nach unten durch ihre Luftröhre suchte.

Maren hustete derart stark, dass sie keine Luft mehr bekam. Mit Mühe rang sie nach Atem.

Genau so muss sich ein Fisch auf dem Trockenen fühlen, dachte Maren.

Aus dem Kleinbus sprang ein junger Bursche. „Grüß Gott, ich komme von der Reparaturwerkstatt Fischbach. Sind Sie Frau Förster?“

Das werde ich wohl gleich tun, wenn ich erstickt bin, dachte Maren und wollte ihm antworten, konnte es aber nicht. Sie japste nach Luft und hustete. Sie konnte die Luft nur geräuschvoll einatmen und mit kräftigem Husten wieder ausatmen. Mit Mühe und Not bekam Maren ein Nicken zustande.

Der junge Bursche, wohl Ende zwanzig, mit dunkelblonden, etwas längeren, zurückgekämmten Haaren, die er an den Seiten kurz trug und zu einer James-Dean-Frisur gekämmt hatte, schaute Maren hilflos aus seinen blauen Augen an. Mit seiner lässig in den Mundwinkel geklemmten Zigarette erinnerte er wirklich an den Teenager-Rebell der Fünfzigerjahre. Seine rote Latzhose war ölverschmiert, darunter trug er ein blaues T-Shirt, das auch nicht mehr sauber war.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er sichtlich mit der Situation überfordert. Er schaute nach rechts und links, in der Hoffnung, die Wirtin irgendwo zu entdecken.

Maren fuchtelte jedoch abwehrend mit den Händen. Von dem angestrengten Husten liefen ihr Tränen aus den Augen, und an ihrer Nase hing ein Wassertropfen.

„Ah … ja, dann, also, hier sind Ihre Koffer – oder das, was von ihnen übrig ist. Sie sind etwas verbeult und teilweise aufgeplatzt. Wir waren so vorsichtig wie möglich, aber, na ja, Sie sehen ja selbst …“ Er zeigte hilflos auf die Gepäckstücke. „Ich bin übrigens Tobias Lechner aus der Reparaturwerkstatt Fischbach … Okay, ich bringe Ihre Koffer dann mal ins Haus.“

Während er sich schnell entfernte, suchte Maren in ihren Hosentaschen krampfhaft nach einem Taschentuch. In dem hintersten Zipfel fand sie schließlich eins, dass die letzte Wäsche mit überstanden hatte und nun wie ein Stein zusammenklebte. Dankbar für diesen Papierfetzen faltete Maren so gut wie möglich den steinharten Taschentuchklumpen auseinander, um sich notdürftig die Nase zu putzen und die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.

Tobias Lechner kam gerade aus dem Haus, als sich Maren wieder gefangen und einigermaßen hergerichtet hatte. „Die Koffer habe ich Ihnen auf Ihre Zimmer gebracht. Der Sachverständige kommt am Montag. Also dann … äh, erholen Sie sich gut. Servus.“ Schnell sprang er in seinen ‚Bully‘ und fuhr vom Hof.

Das ist nicht mein Wochenende, dachte Maren und ärgerte sich über die jämmerliche Figur, die sie gemacht hatte.

Der kühle Abendwind wehte das Glockengeläut der umliegenden Kirchen zu ihr her, das die christliche Gemeinde zur Messfeier einlud. Der Sonntag wurde eingeläutet. Maren erhob sich, ihr ganzer Körper schmerzte.

In ihrem Zimmer nahm sie erst einmal eine ausgiebige heiße Dusche. Ihr Nacken war entsetzlich verspannt. Maren zog sich ein paar frische Kleidungsstücke über und ging zu ihren Eltern. Auch ihnen saßen die Strapazen des Tages in den Knochen. Alle waren erschöpft. Und so wurde beschlossen, nicht zum Abendessen ins nahegelegene Wirtshaus zu gehen.

Zum Glück hatte Marens Mutter noch genügend Reiseproviant vom Picknick übrig, sodass sie alle gemeinsam im Zimmer gemütlich zu Abend essen konnten.

Bald waren alle drei müde, und Maren verabschiedete sich von ihren Eltern mit einem Gutenacht-Gruß. Sie fiel in die flauschigen Kissen und war in Nullkommanichts eingeschlafen.

Ein Nussknacker zum verlieben

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