Читать книгу Ein Nussknacker zum verlieben - Martina Brunnert - Страница 7
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ОглавлениеMaren erwachte vom Geläut großer Kuhglocken und dem übermütigem Gemuhe der Kühe, die an Marens Zimmerfenster vorbei auf die Weide geführt wurden. Die Sonne schien in ihr Zimmer und auf ihr Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen und wollte sich umdrehen, aber ein heftiger Schmerz in ihrem Nacken ließ sie innehalten.
Es war nicht mehr zu leugnen, sie hatte von dem gestrigen Auffahrunfall ein Schleudertrauma.
Vorsichtig drehte sich Maren auf den Rücken und betrachtete ihre Umgebung. Ihr gegenüber stand ein wuchtiger, grün gebeizter Eichenschrank, der mit Blütenornamenten verziert war. Sie lag in einem großen, rustikalen Eichenbett in der gleichen Farbe. Am Fußende konnte sie die gleichen Blütenornamente erkennen, die auch den Schrank zierten. Und, wie konnte es anders sein, waren Bettwäsche und Fenstervorhänge aus einem rot-weiß-karierten Stoff. Selbst der Lampenschirm der Nachttischlampe war damit bezogen. Das Nachttischschränkchen passte optisch zum Bett und dem Schrank. In der hinteren Ecke entdeckte Maren eine Milchkanne, die mit Bauernmalerei verziert war. Sie rollte sich seitwärts aus dem Bett.
So muss sich meine Oma mit ihren fünfundachtzig Jahren fühlen, dachte sich Maren. Vorsichtig stand sie auf und schleppte sich ins Badezimmer unter die Dusche.
Das heiße Wasser tat ihrem Körper und Geist sehr gut. Die Wärme betäubte den Schmerz im Nacken und lockerte ihre Schulter- und Nackenmuskulatur auf.
Maren zog sich ein paar Kleidungsstücke an, dabei fiel ihr Blick aus dem Fenster. Davor erstreckten sich ausgedehnte Wiesen, die im Hintergrund von einem Wald eingefangen wurden. Dahinter ragte ein riesiges Gebirge empor.
Im Gebüsch unter ihrem Fenster schilpten ein paar Spatzen. Außer den nun entfernten Kuhglocken war nichts zu hören. Es war schon lange her, dass Maren so einen ruhigen Morgen erlebt hatte.
In ihrem Apartment in der Stadt waren keine Vogelstimmen zu hören. Außerdem fuhren auf der Straße vor ihrem Haus immer und zu jeder Tageszeit Autos und die öffentlichen Verkehrsmittel. Nur zu Hause, bei ihren Eltern im beschaulichen Oldenburg, hatte sie solche Sommermorgen erlebt.
Sie atmete die frische Luft tief ein und versuchte, diesen behaglichen Moment der Kindheitserinnerung so lange wie möglich festzuhalten.
Maren ging vorsichtig nach unten in den Frühstücksraum, aus dem ihr schon ein köstlicher Geruch von Kaffee und frischen Brötchen entgegenwehte.
Frau Gruber kam Maren mit einer Kaffeekanne entgegen. „Grüß Gott, junges Fräulein. Haben Sie gut geschlafen?“
„Danke. Guten Morgen, Frau Gruber. Den Umständen entsprechend gut.“ Dabei zeigte sie auf ihren Hals. „Ich habe einen total verspannten Nacken. Das kommt bestimmt von dem Unfall.“
„Ah ja, das ist gut möglich. Ich gebe Ihnen nachher ein Wärmekissen, wenn Sie wollen, das wird Ihnen sicher guttun.“
„Oh, danke. Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen“, erwiderte Maren dankbar.
„Das mache ich doch gern. So, und nun stärken Sie sich erst einmal. Ich habe für Sie im Wintergarten gedeckt. Da haben Sie eine schöne Aussicht.“
Ihre Eltern saßen schon an dem reich gedeckten Tisch, als Maren zu ihnen stieß.
„Guten Morgen, mein Schatz, setz dich.“
„Guten Morgen, Mucki.“
„Guten Morgen, ihr beiden. Habt ihr auch solche Schmerzen im Nacken?“
„Ach, na ja, ein wenig. Ich habe uns gestern Abend mit einer Sportsalbe eingerieben. Mit ein bisschen Bewegung wird das schon wieder“, sprühte Mutter Helga vor guter Laune.
„Mama kann dir die Wundersalbe geben, dann geht es dir auch gleich viel besser. Danach kommst du mit uns auf eine kleine Wanderung, und im Nu ist alles wieder gut.“
„Wanderung? Ich? Mit euch? Heute? Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“ Maren biss genüsslich in ihr knuspriges Brötchen mit Rumtopfmarmelade.
Außer den Försters saßen noch zwei Männer in atmungsaktive Shirts und Radsport-Hosen im Wintergarten. Allerdings sahen die beiden Mittfünfziger mit ihren Wohlstands-Bierbäuchen nicht sehr sportlich aus.
In der anderen Ecke saß ein Paar, das offensichtlich schon lange verheiratet war. Es schien alles schon zur Gewohnheit geworden zu sein, denn sie sprachen nur das Nötigste miteinander und jeder aß stillschweigend sein Frühstück.
An einem anderen Tisch saß ein junges Paar übereck und tuschelte angeregt miteinander.
„Warum denn nicht, Mucki? Uns hat es hier an ein wunderschönes Fleckchen Erde verschlagen. Das sollten wir uns unbedingt näher ansehen“, entgegnete ihr Vater.
„Ja, weil ein Idiot nicht aufgepasst hat und unser … dein Auto geschrotet hat.“
„Das stimmt wohl. Aber nichts passiert ohne Grund. Dass wir hier sind und dass es uns trotzdem noch so gut geht, war Schicksal!“
„Aha.“ Maren schlürfte ihren Kaffee. „Das ist ja mal ganz was Neues.“ Für Lebensweisheiten von ihrem Vater war es eindeutig noch zu früh an diesem Morgen. Wie ein Leben spendendes Elixier floss das warme Getränk ihre Kehle hinab.
„Was soll an einem Unfall schon gut sein? Gestern wollte ich eigentlich mit Thomas in die Provence fahren. Stattdessen bin ich zusammen mit euch – nichts für ungut, ich liebe euch wirklich und bin dankbar, dass ich jetzt nicht allein zu Hause sitze – ins Auto nach Südtirol gestiegen. Und jetzt sitzen wir hier in diesem Kaff Nußdorf fest. Umringt von Kühen und eindeutig zu viel Gegend!“
„Maren, was dein Vater lediglich sagen wollte, ist, dass nicht alles schlecht ist, auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht.“
„Genau“, pflichtete Herr Förster ihr bei. „Und um unser Auto mach dir mal keinen Kopp. Das ist nur ein Kratzer. In Nullkommanichts haben die das repariert, und wir können unsere Reise fortsetzen.“
„Papa, da bist du aber sehr optimistisch! Hast du dir die zerquetschte Rückseite von deinem Auto mal genauer angesehen? Der Kofferraum ist nur noch halb so groß! Mit dem fährst du so schnell nicht mehr, wenn überhaupt.“
„Dann nehmen wir uns eben einen Leihwagen! Wir lassen uns doch nicht ins Bockshorn jagen.“
„Trotzdem! Ich möchte heute lieber nicht wandern gehen. Mein Nacken schmerzt schon ordentlich. Außerdem möchte ich noch meinen Knöchel schonen. Der eine ist immer noch ein wenig lädiert. Ich würde mich lieber in die Sonne legen und ausruhen. Die letzten Wochen und Tage waren doch sehr anstrengend.
Erst die vielen Überstunden für die Fusion in der Firma und dann das mit Thomas. Zu guter Letzt die Horror-Autofahrt mit Hitze und zwei Unfällen …“
„Na gut, Mucki, dann ruhe dich aus. Heute Abend gehen wir alle schön zusammen essen im Gasthaus“, sagte Marens Vater.
„Und nicht vergessen, dich mit Sonnencreme einzureiben“, ermahnte sie ihre Mutter.
„Nein, Mama! Wir sind aber auch nicht am Äquator, wo man sofort verbrennt. Ich bin erwachsen genug, um das einschätzen zu können. Ich sonne mich auch nicht zum ersten Mal.“
„Die Sonne in den Bergen ist aber sehr intensiv. Das sollte man nicht unterschätzen“, konterte Helga.
„Schon klar, Mama. Ich werde schon aufpassen, dass ich nicht zu viel Sonne abbekomme. Lass mich nur machen.“
Nach dem Frühstück ging Maren auf ihr Zimmer und packte ihre Sonnenbrille, ihren eBook-Reader und die Sonnencreme in eine Tasche. Auf dem Weg nach draußen ging Maren zu Frau Gruber in die Küche und holte sich ihr Wärmekissen für ihren Nacken ab und schlenderte damit zum Liegestuhl, der im Garten der Pension stand.
Als sie es sich so richtig bequem darin gemacht hatte, sah sie ihre Eltern, in ihrer Wanderkleidung und mit Rucksack bepackt, wild diskutierend über einer Wanderkarte gebeugt am Wegesrand stehen. Ihr Vater hatte seine braune Kniebundhose und Sandalen an. Die weißen Socken an seinen Füßen konnte man von weitem in der grellen Sonne sehen.
Ihre Mutter trug einen geblümten Sommerrock und an den Füßen ihre heißgeliebten Pantoletten. Auf dem Kopf hatte sie einen großen Sonnenhut und auf dem Rücken einen Rucksack, der schwer nach unten sackte.
Wenn das mal gut geht, dachte Maren und schloss die Augen. Das ist ja typisch für die beiden.
Sie genoss die Ruhe. Die wohltuende Wärme des Wärmekissens lockerte Marens Nackenmuskulatur. Die Verspannungen lösten sich, und die Schmerzen fingen an, sich zu verflüchtigen. Maren konnte sich nun richtig entspannen und gab sich ihren Tagträumen hin.
In ihrem Traum sah sich Maren auf einem Schiff, das wild im Sturm auf hoher See schlingerte.
Zuerst stand Thomas am Steuerrad und lenkte das Schiff sicher durch den Sturm. Maren stand mit der einen Hand an der Reling, um die andere Hand hatte sie sich ein Tau gebunden, das am Mast befestigt war. So stand sie sicher auf den Planken des Schiffes, während der Wind durch ihre langen, dunkelblonden Haare wehte und an ihrem neuen Kleid zerrte, das sie sich erst Freitag in der Boutique gekauft hatte. Sie war glücklich.
Plötzlich kam wie aus dem Nichts ein anders Schiff, hinter einer besonders großen Welle, zum Vorschein.
Am Deck dieses Schiffs stand eine Frau mit langen, blonden Haaren, die Thomas zuwinkte. Thomas winkte zurück und lächelte. Die Frau deutete Thomas an, zu ihr zu kommen. Er nickte und ohne einen Blick auf Maren zu verschwenden, schwang er sich wie ein Pirat an einem Seil von einem Schiff auf das andere.
Die blonde Frau schloss Thomas in ihre Arme, und er ließ es geschehen, als wäre es das Normalste auf der Welt. Maren rief Thomas hinterher, er sollte wieder rüberkommen, sie bräuchte ihn, damit das Schiff mit ihr nicht im Sturm unterging. Thomas lachte nur, und die blonde Frau fiel mit ihrer glockenhellen Stimme in sein Lachen ein.
Beide standen zusammen am Ruder des anderen Schiffes und segelten davon. Thomas schaute sich nicht einmal nach ihr um. Dafür aber die Frau, die Maren ein laszives Lächeln über ihre Schulter zuwarf.
Mit den Worten „Wer zuletzt lacht, lacht am lautesten“ drehte sie sich zu Thomas und küsste ihn.
Dann verschwand das Schiff hinter einer großen Welle. Maren fühlte sich plötzlich so einsam und verlassen. So hilflos. Sie versuchte, zum Ruder zu kommen, aber der Wind war zu stark.
Sie kam nicht vorwärts, während das Schiff anfing, im Sturm wie ein Ball auf den Wellen zu schlingern. Gischt traf sie ins Gesicht. Sie fuhr direkt auf einen riesigen Strudel zu.
Das Schiff wurde erfasst und fuhr im Kreis. Immer schneller und schneller in die Tiefe, bis sie das Rauschen des Wassers in ihren Ohren hatte. Sie war mit dem Schiff untergegangen.
Maren wachte von einem Rauschen auf. Ein Regentropfen fiel ihr ins Gesicht. Am Himmel zog ein Gewitter auf. Kräftige Windböen wehten als Vorboten des herannahenden Unwetters durch die Bäume.
Sie schaute auf die Uhr. Es war halb fünf. Sie hatte seit elf Uhr fest geschlafen. Froh darüber, dass sie nur geträumt hatte, schnappte sich Maren ihre Tasche und flüchtete ins Haus.
Als sie sah, wie Frau Gruber im wehenden Dirndl hinter den Gartenpolstern hinterherrannte, lief sie wieder raus und half ihr, alles, was wegzuwehen drohte, vor dem Unwetter in Sicherheit zu bringen.
Ihre Eltern waren wohl noch nicht wieder von ihrer Wanderung zurück, sonst hätte sie sie schon irgendwo gesehen.
Die werden gleich kommen, dachte sich Maren und ging ins Bad, um sich die Haare zu kämmen, die vom Sturm zerzaust waren.
Als sie in den Spiegel sah, traute sie ihren Augen nicht. Ihr Gesicht war feuerrot!
Sofort kamen ihr die Worte ihrer Mutter wieder in den Sinn, und sie realisierte, dass sie vergessen hatte, sich einzucremen, bevor sie sich der Idylle des Gartens hingegeben hatte und darüber eingeschlafen war.
„Na super! Wer Pech im Leben hat, der soll auch dafür büßen“, sagte Maren zu ihrem Spiegelbild.
Der erste Blitz zuckte am dunklen Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner, der an den Bergen widerhallte. Nun wurde es Maren doch etwas mulmig zumute.
So ein Gewitter hatte sie noch nie erlebt. Dazu kam die Sorgen um ihre Eltern, die bei diesem Unwetter noch irgendwo da draußen waren und sich bestimmt mal wieder verlaufen hatten.
Der Regen setzte ein. Es schüttete wie aus Kübeln, während es blitzte und fast gleichzeitig donnerte. Nach einer halben Stunde war der Spuk vorüber und es wurde wieder heller. Die Sonne kam wieder zum Vorschein, als wäre nichts passiert.
Maren setzte sich gerade vor das Haus auf die Gartenbank, als ihre Eltern pitschnass um die Ecke kamen.
„Endlich seid ihr wieder da! Ich habe mir schon Sorgen um euch gemacht. Bei so einem Unwetter ist es gefährlich, draußen zu sein. Ihr hättet vom Blitz getroffen oder von einem umfallenden Baum erschlagen werden können“, begrüßte Maren ihre Eltern etwas unwirsch, aber froh darüber, dass ihnen nichts passiert war.
„Tja, mit deinem Vater auf Wanderschaft kannst du immer was erleben“, entschuldigte sich Marens Mutter.
„Ich bin nicht schuld!“, verteidigte sich Vater Förster und hob abwehrend die Hände. „Die Beschilderung war schlecht. Plötzlich hörten die grünen Pfeile auf …“
„Weil es dort gar keine grünen Pfeile gab. Wir hätten nämlich den roten Pfeilen folgen müssen, wie es auf der Tafel mit den Wanderwegen stand.“
„Es war also, wie ich gesagt habe, schlecht ausgeschildert, und ich musste es wieder selber in die Hand nehmen.“
„Dein Vater hat mich einen steilen Abhang runtergejagt, und danach musste ich über einen hohen Zaun klettern, nur um dann um mein Leben zu laufen, weil eine Herde Jungbullen hinter uns her gelaufen ist und uns auf die Hörner nehmen wollte!“
„Du warst aber auch wirklich langsam! Da warst du früher schneller.“
„Da war ich auch fünfundzwanzig Jahre jünger, Kurt!“, empörte sich Helga und stützte mit Nachdruck ihre Hände in die Hüften. „Und außerdem hatte ich den schweren Rucksack auf dem Rücken.“
Maren musste lachen. Die beiden waren zu niedlich, wie sie vor ihr standen. Pitschnass mit Kochgeschirr und Zelt. Eben typisch Flachlandtiroler in den Bergen!
„Und du, Mucki, hattest du einen schönen Tag?“, fragte Marens Vater.
„Ja, ich habe mich gut erholt und …“
„… bist eingeschlafen, ohne dich einzucremen!“, beendete ihre Mutter für Maren ihren Satz. „Stimmt’s?“
„Ach, das … das ist nicht so schlimm … das ist morgen wieder weg, und ich habe eine sonnengebräunte Haut“, versuchte Maren, sich rauszureden.
„Du siehst eher aus wie eine Rothaut“, neckte sie ihr Vater. „Nach unserem aufregenden Spaziergang bin ich jetzt hungrig geworden. Was meint ihr, wollen wir uns umziehen und ins Gasthaus gehen?“
„Das ist eine gute Idee“, sagte Helga zu ihrem Mann und folgte ihm ins Haus.
„Ja, sogar die beste des Tages, Papa. Ich bin jetzt auch wirklich hungrig.“
Froh darüber, von ihrem Sonnenbrand abzulenken und dem strafenden ‚das hab ich dir doch gleich gesagt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören‘-Blick auszuweichen, folgte Maren ihren Eltern ins Haus.
Nach einer Dusche stand Maren vor ihrem Spiegel und versuchte mit ihrem Make-up ihr Nachmittags-Desaster so gut wie möglich zu retuschieren.
Es gelang ihr mehr oder weniger. Sie cremte, wischte und puderte so lange, bis sie ein einigermaßen gutes Ergebnis hatte, mit dem sie leben konnte.
„Na bitte, mit ein bisschen Schminke und gutem Willen geht alles“, murmelte Maren, schlüpfte in ihre Jeans und ihr Lieblingsshirt und stand dann pünktlich um halb acht abholbereit in ihren Sneaker vor dem Haus.
Von ihrer Pension gingen sie rechts den Bugscheinweg hoch, bis die Straße einen scharfen Knick nach links in den Heubergweg machte. Nach wenigen Gehminuten bogen die Försters nach rechts in den Lindenweg ein. Am Ende des Lindenwegs gingen sie nach rechts in die Dorfstraße und steuerten schließlich, an dem Ring-Café vorbei, direkt auf den riesigen blau-weiß lackierten Maibaum zu, der mit kunstvollen Zunftschildern in liebevollen Details farbig bemalt war.
„Ist das schön! Davon muss ich ein Foto machen“, schwärmte Helga Förster und kramte schon nach ihrem Fotoapparat in ihrer unergründlichen Handtasche.
Bei dem einen Foto blieb es natürlich nicht. Der Maibaum wurde aus allen Blickwinkeln fotografiert.
Einmal mit Maren, dann mit Kurt, dann mit Maren und Kurt und zu guter Letzt machte Maren noch ein Foto von ihren Eltern vor dem Maibaum.
„So, haben wir es jetzt? Oder müssen wir noch mehr Fotos machen?“, fragte Maren genervt. Da sie nur gefrühstückt hatte, hatte sie jetzt einen Mordshunger.
„Ja, leider ist hier grad keiner, der uns alle zusammen mit dem schönen Maibaum fotografieren könnte“, sagte Marens Mutter fast enttäuscht.
„Macht ja nichts, mein Schnuckelchen. Wir werden noch genug Gelegenheiten haben, Fotos von uns zu machen“, versuchte Kurt, seine Frau zu trösten, was ihm auch gelang. Sie hakte sich bei ihm unter und lächelte ihm zu.
Weiter ging es auf der Hauptstraße nach links, die sie entlangschlenderten, und dann konnten sie den ‚Gasthof Schneiderwirt‘ auch schon bald sehen.
Die Luft hatte sich nach dem Gewitter etwas abgekühlt, war aber immer noch warm genug, um draußen im Biergarten unter den riesigen Kastanien zu sitzen. An den runden und länglichen Tischen konnten jeweils sieben bis zehn Personen Platz finden. Das Erdreich war mit kleinen Schottersteinen abgedeckt. Der Biergarten war von einem Spalierzaun umzäunt.
Gegenüber der Gastwirtschaft stand das Hotel Schneiderwirt mit seinen drei Balkons, die mit kleinblütigen, lang herabhängenden Geranien abwechselnd in den Farben violett, rot und gelb geschmückt waren. Daneben stand in einem alten Gebäude die Kunstwerkstatt.
Das Gebäude war mit einem Bild von der Jungfrau Maria dekoriert, die in ein blaues Gewand gehüllt war und das Jesuskind im roten Gewand auf dem Arm trug. Außerdem zierten das Haus ein rundes Wappen mit der Jahreszahl 1631 und die Buchstaben M und N darauf, die durch ein umgedrehtes Hufeisen getrennt waren. Auf dem Wappen war ein Herz, das ein Kreuz trug.
Das Essen schmeckte köstlich. Es wurde deftig gegessen. Maren und ihre Eltern prosteten sich mit einem zünftigen Maß Bier zu. Nach dem Essen bestellte Herr Förster noch eine Familienrunde Enzian. Da Maren die Gefahren dieses Getränks schon vom Vortag kannte, trank sie etwas vorsichtiger und nicht wieder das ganze Glas auf einmal.
„Na, das üben wir aber noch“, sagte Kurt zu seiner Tochter. „Seit wann beißt du den Schnaps denn ab? Oder macht man das so in der vornehmen Großstadt?“, neckte er seine Tochter.
„Lass sie doch, Kurt“, verteidigte Helga ihre Tochter.
„Äh … nee, normalerweise nicht. Aber ich hatte gestern ein unschönes Erlebnis mit einem Enzian. Ich habe mich voll an dem Schnaps verschluckt und wäre beinah daran erstickt!“
„O Gott!“, sagte Helga. „Das ist ja furchtbar. Mir ist auch schon mal so was Ähnliches passiert. Allerdings war das ein Osterei, das mit Weinbrand gefüllt war.
Ich war gerade mal acht Jahre alt, als ich mir bei meinen Großeltern dieses besagte Schokoladen-Knickebein-Ei in den Mund geschoben habe, nicht ahnend, dass dieses Ei mit Alkohol gefüllt war. Früher war das ja anders. Da hat man das nicht so genau genommen. Kinder und Alkohol, meine ich. Heute ist das ja, Gott sei Dank, anders.
Beim Zubeißen habe ich das aber sofort gemerkt. Ich habe mich derart verschluckt an diesem ollen Ei, dass ich auf dem Sofa meiner Großeltern gesessen und wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft geschnappt habe. Ich weiß genau, wovon du sprichst, Maren!“
„Ja, eine sehr traumatisierende Erfahrung.“ Maren lächelte bei der Vorstellung an sich auf der Bank. Sie muss bestimmt urkomisch ausgesehen haben, genau wie ihre Mutter damals.
„Ein Trauma muss man überwinden“, sagte Kurt und bestellte gleich noch eine Runde.
Nachdem der Kellner die Kurzen gebracht hatte, erhob er sein Glas und sagte: „So, meine lieben Mädels, auf unseren gemeinsamen Urlaub! Auch wenn er unerwartet und spontan zustande gekommen ist, freue ich mich doch sehr, dass wir hier an diesem schönen Ort, gemeinsam als Familie, sitzen dürfen. Vor allen Dingen gesund und munter. Wir lassen uns auf gar keinem Fall unseren Urlaub durch irgendwas vermiesen. In diesem Sinne, nicht schnacken – Kopp in Nacken. Prost!“
„Prost!“, sagten Maren und ihre Mutter gleichzeitig.
An diesem Abend wurde noch so manche ‚Trauma-Runde‘ getrunken. Eingehakt schunkelten die drei bei Mondschein in der lauen Sommernacht zu ihrer Unterkunft.
Im Gästehaus Gruber angekommen, half Maren noch ihrer Mutter, ihren Vater ins Zimmer zu bugsieren, bevor sie ins Bett ging. Auf dem Nachhauseweg hatte ihr Vater die ganze Zeit ‚blau, blau, blau wie der Enzian‘ gesungen.
Total beschwipst ließ sich Maren auf die Matratze fallen. Sofort drehte sich alles um sie. Schnell richtete sich Maren wieder auf und stopfte sich beide Kissen unter den Kopf. Jetzt ging es.
Auf dem Nachttisch lag ihr Smartphone. Maren konnte nicht sagen, warum sie ausgerechnet jetzt ihr Handy einschaltete.
Auf dem Display stand: 12 verpasste Anrufe. 7 neue Nachrichten. Es wird wohl der Einfluss des vielen Enzian-Genusses gewesen sein, der Maren veranlasste, sich ihre Nachrichten anzusehen.
Darling, ich muss mit dir sprechen. Ruf mich an. LG Thomas.
Maren, warum drückst du meine Anrufe weg? Ruf mich bitte an.
Melde dich bitte bei mir, es ist wichtig.
Hör auf, zu schmollen! Wo bist du?
Ich muss in die Wohnung und komm nicht rein. Jetzt melde dich doch endlich.
Jetzt höre auf, zu zicken. Ich kann dir alles erklären. Ruf mich endlich an.
Ich finde es voll blöd von dir, dass du jetzt einen auf ‚Rühr mich nicht an‘ machst. Ich brauch unbedingt meinen Laptop. Komme aber nicht in die Wohnung, weil du das verdammte Türschoss ausgewechselt hast. Nach deinem unmöglichen und übertriebenen Verhalten am Freitag muss ich mir überhaupt erst noch überlegen, ob ich noch mit dir noch zusammen sein möchte. Wenn du mich nicht bis Montag anrufst, kannst du mir gestohlen bleiben. Ich wohne jetzt bei Iris, die ist auch nicht so spießig wie du!
Maren starrte auf die letzte Nachricht von Thomas. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals.
Wie von allein kullerten die Tränen ihre Wangen herunter. Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Hatte er jetzt wirklich mit ihr Schluss gemacht, obwohl er ihr fremdgegangen war?
Sie war immer für ihn da gewesen. Er hatte kostenfrei bei ihr gewohnt. Es war ihnen doch gut gegangen. Beide hatten einen guten Job gehabt. Ihre Beziehung war vielleicht nicht ganz perfekt gewesen, aber welche ist das schon? Jeder hat doch schließlich seine kleinen Fehler und Macken. Was war passiert? Hatte Thomas sie die ganzen Jahre ausgenutzt und belogen? Maren rollte sich wie eine Katze auf dem Bett zusammen. Machte sich so klein wie möglich und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Verärgert über sich selber, dass sie sich die Nachrichten von Thomas überhaupt angesehen hatte.
Die Mailbox abzuhören sparte sie sich. Das wollte sie sich doch nicht antun. Schon gar nicht seine Stimme hören. Dass es kein Liebesgesäusel war, konnte sich Maren denken. Auf wüste Beschimpfungen hatte sie weder Lust noch die Kraft dazu.
Nachdem ihre Tränen versiegt waren, fiel Maren in einen tiefen, traumlosen Schlaf.