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Einleitung

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Die größten Abenteuer sind im Kopf und werden durch das Herz begründet. Jene Interaktionen zwischen Denken und Fühlen, die in Menschen zu Überzeugungen und inneren Wirklichkeitskonstruktionen führen, bilden die Grundlage, auf Basis derer sie dann ihre äußere Realität schaffen. Wer davon überzeugt ist, dass die Welt ein gefährlicher, vertrauensloser Ort ist, schafft es auf magische Weise immer wieder, in Situationen zu kommen, die ihm dies beweisen. Wer mit Kraft und Grundvertrauen durch die Szenerie seines Lebens marschiert, dem erscheinen die härtesten Stolpersteine, die ihm das Leben in den Weg legt, wie kleine Herausforderungen. WIE Menschen diese, ihre Wirklichkeit erschaffen, das hat mich immer fasziniert. Als Kind in der Uniformität eines Gemeindebaus aufgewachsen, in der so ziemlich alle gleich viel hatten und mit den gleichen sozialen Problemen des Aufsteigen-Wollens kämpften, waren die so unterschiedlichen Formen »gücklichen und unglücklichen« Lebens, die sich in den zahllosen Boxwohnungen dieses Labors abspielten, für mich Gegenstand intensiver Beobachtung und Fragestellung. Später, noch als Studentin der Medizin, habe ich zu einem Zeitpunkt, als Psychotherapie noch psychologische Beratung hieß und mit einem am Magistrat formlos zu lösenden Gewerbeschein möglich war, mich in noch viel intensiverer Weise mit dem Innenleben von Menschen auseinanderzusetzen begonnen.

Heute überblicke ich als Psychotherapeutin einen langen Zeitraum und bin alarmiert. Die Menschen scheinen sich in den letzten Jahren rasant in ihrem innersten Kern verändert zu haben. Früher hat das Zusammenspiel zwischen Herz und Hirn, geschaffen aus den frühen Erfahrungen des betroffenen Menschen, eine mehr oder weniger zuversichtliche oder leidensbereite Wirklichkeitskonstruktion und Lebensrealität geschaffen. Die Übereinkunft, »einen Partner lieben zu wollen«, erfuhr eine korrespondierend mehr oder weniger geglückte oder leidvolle Umsetzung.

In den letzten Jahren aber erscheint es mir so, als lebten wir zunehmend in einer Welt, in der die »Hardware« Herz beschädigt ist, nicht mehr ihren Dienst und Beitrag zu leisten vermag. Irgendetwas, ein ganzes Bündel an Ursachen, vergiftet unser Herz immer mehr, lässt es klamm, steif und auch hart werden. Das Fühlen-Können und damit unsere Liebesfähigkeit sind in dieser Gesellschaft im Absterben begriffen, mit allen schrecklichen Konsequenzen und Facetten von Unabhängigkeitswahn bis Bindungsflucht. Denn was ist das für eine Gesellschaft, in der nicht mehr Herz und Hirn die Wirklichkeit bestimmen, sondern nur mehr der nüchternen Ratio mit ihrer Maximierungswut der rote Teppich kluger Gültigkeit ausgerollt wird? Unsere Welt, die Welt der reichen Technologiegesellschaften, mit ihren ausgefeilten Sicherheits- und Kontrollsystemen, in der nicht einmal der privateste Raum unausgeleuchtet bleibt, ist kalt geworden. Gefühlt wird anderswo. In Holly- und Bollywood oder in den gierig verschlungenen TV-Serien. Wir lassen fühlen und bleiben, sehnsuchtsvoll oder resigniert, im Zuschauersessel. Für jene, die Unverbindlichkeit in der Beziehung zelebrieren, gibt es das Wort »Mingles«, von »mixed Singles«. Mingles gibt es in allen Generationen. Während der Begriff ein Modewort ist, der die jüngeren Generationen zu charakterisieren scheint, ist die Unverbindlichkeit in den Beziehungen altersunabhängig geworden. Selber zu fühlen, sich auszusetzen, sich einzulassen auf sein Herz, mutet immer mehr Menschen als zu gefährlich und risikoreich an. Die »Fühltaubheit«, wie ich diese Erkrankung nenne, geboren aus einem Zusammenwirken der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre und einer nahezu jedem von uns inhärenten, primären narzisstischen Traumatisierung, breitet sich wie ein Flächenbrand als neues Betriebssystem eines neuen und sehr mutlos wirkenden menschlichen »Miteinanders« aus. Doch damit stirbt die Liebe und mit ihr die Lebendigkeit, denn Liebe und die ihr innewohnende Bindungskraft hält buchstäblich alles zusammen und am Leben.

Eine Bilanz der Reduktion auf das Materielle ist ernüchternd. Selbst die Masse unserer eigenen physischen Existenz, jene unseres Kohlenwasserstoff-Organismus, passt in sich zusammenfallend auf eine Stecknadelspitze. Was uns zusammenhält und Form gibt, sind alleine die Bindungskräfte zwischen den Atomen, die den vielen leeren Raum mit Sinn zu füllen vermögen. Es ist also die Bindungskraft, die »Liebe« zwischen den Atomen, die unsichtbar und dennoch äußerst kraftvoll wirkt. Erst dieses »Nichts« verleiht uns Fülle, lässt uns zu dieser Gestalt werden, die wir unseren Körper nennen. Und erst unsere Fähigkeit zu fühlen und zu lieben und dabei durchaus auch durch Schmerz und Irrtum zu gehen, macht uns zum Menschen. Die Fühltaubheit entmenscht uns, sie tötet unsere Lebendigkeit sukzessive ab und reduziert uns damit auf das kleine, kalte Massepaket, das auf die Nadelspitze passt.

In dieser grauen, ängstlichen, von Kälte geprägten Welt, in der ich Gefühle nur auf einem Flachbildschirm betrachten oder aus zweiter Hand in einer mit maximalen Reizen versehenen Eventkultur konsumiere, will ich nicht leben. Mir graut vor dem Mingle-Dasein. Ich will bereit sein, dann, wenn das Leben mich unvermutet und außer meiner Kontrolle ruft, mein eigenes Herz wild in meiner Brust schlagen zu fühlen. Ich will das Zittern meiner eigenen Knie wahrnehmen, wenn es die Situation erfordert, will den Mut finden, das, was ich fühle zu bekennen, und will auch den mir auf diesem Weg gegebenen Schmerz ohne Wehleidigkeit ertragen und als den Boten eines für mich notwendigen Lernschritts erkennen lernen. Ich will diesen Weg des fühlenden, vom Lebensstrom und nicht am Designerschreibtisch eines Programmierers geschriebenen Lebens, diesen Weg einer neuen, freien, aus der eigenen Person begründeten Liebe, die der Lebendigkeit verpflichtet ist. Ich will ihn für mich und meine Kinder, für ihre und unser aller Zukunft. Und ich wünsche mir, dass viele den Mut finden, ihn mitzugehen. Denn dieser Text soll eine Liebeserklärung an die Lebendigkeit sein.

Diagnose: Mingle

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