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Wenn man sich für Motorräder interessiert …

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… dann sieht man sie plötzlich überall. Ist Ihnen dieser Mechanismus unserer selektiven Aufmerksamkeit schon einmal aufgefallen? Wenn wir uns für ein Ding oder eine Sache interessieren, dann fällt sie uns plötzlich viel stärker auf. Dies gilt für Motorräder, wenn wir gerade Motorrad fahren gelernt haben, genauso wie für Kinderwägen mit Babys, wenn wir vor wenigen Tagen einen positiven Schwangerschaftstest gemacht haben. Plötzlich ist die Welt voller Motorräder oder Kinderwägen mit schnuckeligen Babys. Natürlich nimmt weder die Zahl der Motorräder noch die der Babys in unserem Umfeld von einem magischen Mechanismus angetrieben auf einmal zu. Alles bleibt so, wie es das statistische Auftreten für Motorräder oder Babys in unserem Umkreis vorgibt. Was sich ändert, ist unsere Aufmerksamkeit dafür. Motorräder oder Babys werden durch den inneren Bezug, den wir zu ihnen entwickelt haben, einfach interessant und fallen uns deswegen mehr auf. Wir gehen nicht mehr achtlos an ihnen vorüber und vergessen sie sofort wieder, sondern sie treten sehr klar als Gegenstand der Auseinandersetzung in unser Bewusstsein. So in etwa begann es mir mit dem Phänomen der »Fühltaubheit« und der damit einhergehenden starken Rücknahme von Bindungsenergie gegenüber anderen Menschen zu gehen. Ich begann, den Beziehungskosmos, die Liebesbeziehungen der Menschen um mich herum, auf ihre Feinmechanik hin zu durchleuchten. Wie legten meine Freunde und Bekannten, wie Menschen, denen ich in Alltagskontexten und nicht im Therapiezimmer begegnete, ihr Lieben an? Welche Rolle spielte es in der Gesamtkonstruktion ihres Lebenskonzepts? Was waren ihre Schlüsse und Resümees zum Thema Liebe?

Mathilde lerne ich bei einem Galaabendessen kennen, der Auftaktveranstaltung für ein großes Frauenevent am nächsten Tag, zu dem ich als Podiumsdiskutantin geladen bin. Jede Menge Small Talk also, während wir Häppchen auf überdimensionalen Tellern nach dem Protokoll einer zwanghaft kreativen Speisekarte verzehren. Jeder Gang wird extra angekündigt und die Verlesung braucht ungefähr so lange, wie es dauert, sich das Kunstwerk einzuverleiben. Doch mit Mathilde wird es wirklich interessant. Eine dynamische, attraktive Frau, im Styling erste Sahne, gerade noch unter der 40er-Marke, über die hinaus erfolgreiche Frauen nicht altern dürfen. »Talkative« nennt man den Typ. Darum hat sie es in der Medienbranche auch weit gebracht. Bis nach dem »Gruß aus der Küche« und der »Kaltschalensuppe«, die mich irgendwie an den viel würzigeren Gurkensalat der Badeausflüge meiner Kindheit erinnert, haben wir ihren beträchtlichen Karriereweg durchgekaut. Die Branche ist hart, verlangt einem viel ab, da darf es kein Zaudern geben und permanenter Einsatz ist eine Grundvoraussetzung, aber noch lange nicht Garantie für Erfolg. Als das »Wolllämmchen in Kürbiskruste« auf einem exotischen Gemüse serviert wird, sind wir in den privaten Bereich vorgedrungen. Mit Kindern hat Mathilde nichts am Hut, viel zu aufwändig, viel zu unsicher als Zukunftsinvestition, also eine klare Behinderung. Als sie erfährt, dass ich vier Kinder habe, mutiere ich zur Bewohnerin einer anderen Galaxis. Das bringt uns dann zum Thema Beziehungen. Auch hier winkt Mathilde ab. Selbst in der besten Verpackung steckt ein fauler Inhalt, das ist ihr Resümee. Alltag, Interessenungleichheit, abschlaffender Sex, schlechte Angewohnheiten. Schmetterlinge im Bauch, die nach kurzer Zeit nur mehr fad herumknotzen statt heftig zu flattern. Zähe Verhandlungen über Zahnpastatuben und Haushaltsaufteilung haben sie eindeutig kuriert. Heute sind Männer nur mehr »Appetithäppchen« für sie, durchaus auch mal ein geregelteres »Sexualkombinat« für mehrere Monate, weil das Mühe spart. Aber nach klaren Spielregeln und ohne Herzflattern oder Verbindlichkeit. So richtig nahe lässt sie keinen Mann mehr ran. Und wenn grad keiner an der Hand ist, stört es sie auch nicht, wie sie mir über das bauchige Rotweinglas hinweg konspirativ erklärt, denn selbst ist die Frau. Ansonsten legt sie für ihre Altersvorsorge zurück, was sicher vernünftig ist und mir mit meinen vier Kindern so ziemlich verwehrt bleibt. Sie treibt rasend viel Sport, weil auch dies vorsorgend ist, und macht sich Sorgen ums Älterwerden. Ihre wirkliche Leidenschaft sind romantische Soaps. An Wochenenden bunkert sie sich manchmal ein und zieht sich ganze Staffeln mit Prosecco und Chips hinein. Was natürlich weniger gesund ist, aber irgendwie unvermeidbar, fast zwanghaft, wie sie bekennt. »Dann heul ich Rotz und Wasser«, gesteht sie mir beim vierten Rotweinglas. »So schön, so innig, aber leider alles nur im Kino!« Mathilde lehrt mich an diesem Abend einiges zum Thema »akzeptierte Desillusion als Lebenskonzept«. Doch ich lasse mich, ganz außer Dienst, über ein unspezifisches »Hm« hinweg dazu verführen, ihr heftig darin zu widersprechen, dass all das, was sie da sieht, nur Fiktion ist und mit realem Leben nichts zu tun hat. So fragt sie mich nach dem Dessert nach meiner Karte.

Ein paar Wochen später ergibt es sich, dass ich in meiner Praxisküche mit meiner ältesten Tochter sitze und Kaffee trinke. Ich habe gerade eine Arbeitspause eingeschoben, und sie wartet auf eine Freundin, die sie zum Sport abholen kommt. Ein feines Privileg, bereits eine so erwachsene Tochter zu haben, denke ich mir und freue mich auf eines dieser in seinem Verlauf ungeplanten, aber immer sehr persönlichen und innigen Gespräche, wenn alle anderen Geschwister noch in der Schule sind. Wir plaudern über ihr Studium in Berlin, ihre Firma und ihre nächsten Arbeitsprojekte. Plötzlich sagt sie dieses »Mutter«, mit seiner bedeutungsschweren Pause, bevor sie fortfährt. Das ist genau der Ton, der mir sagt, dass jetzt ein Anliegen kommen wird. Diesmal bezieht es sich auf Gigi, jene Freundin, die sie gleich abholen wird. »Die ist total fertig, völlig durch den Wind«, beschreibt sie mir. »Es hat sie gerade wieder ein Typ gedumpt, echt fies, wie der das gemacht hat, und das nach sechs Monaten.«

»Hm«, ich rutsche etwas unbequem auf meiner Küchenbank hin und her, »sowas kommt vor«, versuche ich mich rauszuwinden. Doch meine Tochter winkt ab. »Sie ist echt fertig, aus, game over, die macht jetzt völlig zu.« Dabei fährt sie zur Bekräftigung mit der flachen Hand wie mit einem Messer hart über die Tischplatte. »Verstehst du, Mutter, aus dem vollen Honeymoon heraus. Völlig ohne irgendwas davor, einfach so. Das ist nicht zu packen. Wie soll man da noch auf die eigenen Gefühle vertrauen können? Kannst du nicht ein wenig mit ihr reden?«

Wenig später sitzt Gigi, eine dampfende Kaffeetasse vor sich, bei uns am Tisch und zündet sich ihre erste Zigarette mit zitternden Fingern an. Es werden noch einige mehr werden. Es geht ihr tatsächlich miserabel, sie sieht schlimm aus. Eigentlich kenne ich sie als zielorientierte, arbeitsame, gut organisierte junge Frau, ein paar Jahre älter als meine eigene Tochter, so um die 27, die sich in der harten Filmbranche als versierte, zuverlässige Cutterin etabliert hat. Ein Kerl zum Pferdestehlen, eine Frau, die viel Einsatz für ihre Projekte zeigt und positives Klima in ein Team zu bringen weiß. Heute ist von ihrem Strahlen nichts zu bemerken. Sie hat sicher eben noch geweint. Tiefe Augenschatten zeugen von schlaflosen Nächten. Im Blick liegt jene gewisse Leere und Ferne, die Resignation in ein Gesicht malt. Das mit dem »Sport« war wohl ein »therapeutischer Vorschlag« meiner Tochter gewesen, um sie irgendwie rauszureißen.

Doch was sie erzählt macht auch mich etwas ratlos. Alles hatte super angefangen. Filipe war engagiert, keiner der mit seiner Faszination für Gigi hinter dem Berg hielt. Der Sex war traumhaft und immer passend, so als würde man mit einem geheimen Signalsystem aufeinander abgestimmt sein. Unzertrennlich waren sie die letzten Monate gewesen, zärtlich, romantisch und bis über beide Ohren verliebt. Schon nach drei Wochen war es selbstverständlich, dass sie gemeinsam entweder bei ihm oder bei Gigi die Nacht verbrachten. Diese Beziehungskiste hatte alle Insignien von echt und verbindlich gezeigt, und Filipe hatte dies gerade in intimen Momenten auch seinerseits und ohne Nachfrage oder Drängen von Gigi immer wieder thematisiert. Nun war er vor ein paar Tagen und ohne, dass der Idylle die geringste Erschütterung vorausgegangen wäre, damit gekommen, dass es nun genug sei. Ein emotionales Horrorszenario für Gigi. Der Moment, als er plötzlich vollkommen distanziert und verschlossen vor ihr gestanden war und gemeint hatte, dass es jetzt aus wäre, einfach weil es genug sei. Keine andere Frau, nichts was ihn störe, aber eben genug, lang genug, genug Zeit miteinander verbracht, genug Sex miteinander gehabt. Jetzt wolle er einfach wieder frei sein und schauen, was ihm das Leben so Neues bringt. Unter neu fällt Gigi nun mal nicht mehr.

»War das alles nur eine Show?«, fragt sie mich mit tiefer Verzweiflung in der Stimme. »Da war gar nichts, was mich hätte warnen können. Wenn er wenigstens eine andere hätte, könnte ich mich damit abfinden, aber so ohne Grund. Einfach, weil es genug ist und nicht mehr neu? Was war denn das, was so wie Liebe ausgesehen hat?«

Ich weiß auch nicht recht, welchen Trost ich ihr anbieten kann, außer, dass dieser junge Mann wohl ein schwerwiegendes Problem mit Nähe haben muss. Doch das hilft ihr nicht wirklich weiter, denn sie ist nachvollziehbarerweise tief in ihrem Werte- und Evaluierungssystem verunsichert und vermag ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr zu vertrauen. »Ich werde nie mehr jemanden an mich ran lassen, egal wie toll es sich anfühlt«, schließt sie ihre Erzählung, »das muss einfach vorbei sein.«

»Scheiße«, denke ich mir, »sie könnte nun zu einer ›coolen Jägerin‹ mehr auf der Bahn werden, die prompt jenen jungen Männern, die sie wirklich lieben werden, nur mehr mit Kälte entgegentreten kann.«

Wie gerne hätte ich Gigi damals als Lösung angeboten, dass es sich bei Filipe ganz sicher um einen bedauerlichen Einzelfall handelt, etwas, das ihr ganz sicher nie mehr im Leben würde passieren können. Doch es waren mir viel zu viele Fälle bekannt, in denen nach dem Abschwellen der ersten Verliebtheit einer der Partner, oder bisweilen sogar beide, in pragmatischer Akzeptanz auf Basis des nachlassenden »Kicks« beschlossen hatte/n, neue Wege zu gehen. Die Suche nach dem Neuen, Besseren schien in der Kriterienhierarchie zunehmend an Bedeutung zu gewinnen, ja sie bekam mehr und mehr den Charakter einer logischen Konsequenz. Psychodynamisch fragte ich mich, ob in all diesen Konstellationen überhaupt wirkliche Bindung gegeben war oder ob sie nur als Simulation existierte? Die Anziehung wurde ausgelebt, durchkonsumiert, ausgeschöpft, der narzisstische Gewinn der Selbstbestätigung eingefahren. Aber wenn es um tieferes Sich-Einlassen, den Aufbau von Gemeinsamkeit und die Abstimmung von Interessen ging, es also anstrengender, weniger spektakulär und unmittelbar befriedigend wurde, wenn die Notwendigkeit von eventueller Bedürfnisverschiebung oder gar ein Stück Selbstverzicht an der Reihe waren, dann zerbrach das Konstrukt, das als oberflächliches Sofortbelohnungssystem konzipiert war. Für jenen Partner, der über grundsätzliche Bindungsbereitschaft verfügte und zu emotionaler Investition fähig war, entwickelte diese Erfahrung eine desasteröse Dimension für seinen Selbstwert und sein Vertrauen in seine Einschätzungsfähigkeit emotionaler Prozesse eines Gegenübers. Jene Konstellationen, in denen beide Partner sich zu einem derartigen Strichcode eines Ablaufdatums bekannten, muteten mehr wie Geschäftsbeziehungen an. Die »Liebe« als klarer Deal. Man kauft Sex, kuscheln, gemeinsame Unternehmungen unter der Devise, dass es cool ist, und entsorgt das Ding, wenn es nicht mehr den Erwartungen entspricht, erste Abnützung zeigt oder man Lust auf etwas Neues hat.

Meine Überraschung war vor etwas mehr als eineinhalb Jahren noch recht groß gewesen, als ich in Alpbach gemeinsam mit einer deutschen Soziologin zum Thema »Beziehungen der Zukunft« ein Planspiel mit einer Schar junger »High Potentials« durchführte, in dem es um die Entscheidungsfindung betreffend eines interessanten Jobangebots in Übersee ging. Einbeziehen eines Beziehungspartners in die Entscheidung rangierte ganz unten, genau genommen hatten nur zwei der einen ziemlich großen Saal füllenden TeilnehmerInnen dieses Kriterium überhaupt in Betracht gezogen. Auf meine Nachfrage hin wurde mir nahezu entrüstet geantwortet, dass Beziehungen ja grundsätzlich unberechenbar und unsicher und außerdem ja wieder ersetzbar seien, das große Jobangebot aber von bleibendem Wert, da es der eigenen Selbstentwicklung und Karriere diene. Es klang zwar logisch, ja im Sinne einer strategischen, auf materielle Werte und Sicherheit ausgerichteten Lebensführung bestechend sinnvoll, doch spürte ich gleichzeitig, wie ich Gänsehaut bekam. Wie wird es all diesen »High Potentials« in zehn Jahren gehen, wenn sie in ihren mittleren oder sogar oberen Führungspositionen sitzen werden, wenn sie abends in ihre leeren Designerwohnungen an irgendeinem der Top-Wirtschaftsstandorte in Asien oder Südamerika kommen oder einen rasch abgeschleppten, vorübergehenden Sexualproviant hinter sich herschleifen? Irgendwann ist auch der längste und produktivste Arbeitstag zu Ende. Wo werden sie das Gefühl von Geborgenheit finden? Wie werden sie es anstellen, die auf sie wartende Stille nicht als Leere zu empfinden? Skypen, endlos in Bars abhängen, bis sich die notwendige Bettschwere einstellt, hundert Programme durchzappen, Fotos auf Facebook hochladen und sich über das Einsammeln von »Likes« Community vorspiegeln? Werden sie sich »irgendetwas Gutes gönnen«, viele Gläser Rotwein als Schlaftrunk oder auch härteren Stoff? All diese Lösungsstrategien waren mir bereits heute von meinen Patienten bekannt und standen letztendlich nicht wirklich für eine befriedigende, ausgeglichene Lebenskonzeption, auch wenn sie »trendy« waren und als »cooles Leben« etikettiert wurden.

Meine nächsten Monate verliefen als heroische Feldforschung, im Zuge derer ich so ziemlich jeden mit meiner ewigen Einstiegsfrage: »Welche Bedeutung haben Liebesbeziehungen für dich?« verfolgte. Ich erhielt sehr unterschiedliche Antworten. Oft entwickelten sich erstaunliche und umfassende Gespräche, nicht immer ohne Kontroverse. Mehr und mehr kam ich zur Einsicht, hier einen sehr heiklen Punkt zu treffen, den Finger in eine schwelende Wunde zu legen, eine Wunde, an deren Heilung viel nicht mehr so recht glaubten. Eine Wunde auch, für die gerade die unterschiedlichsten palliativen Behandlungsmethoden in Erprobung waren, bis hin zu einer Vogel-Strauß-Politik ihrer Verleugnung.

Da war Maria, meine ehemalige Studienkollegin und gut positionierte praktische Ärztin, die sich auch hervorragend auf Homöopathie verstand. Wir sind seit Studienzeiten miteinander bekannt und halten unseren jeweiligen Lebensweg aus dem Augenwinkel in Observanz. Aus ihrer zehnjährigen Ehe waren ihr zwei Kinder und ein großer Sack Frustration geblieben, nachdem sie feststellen musste, dass ihr Ehemann durch seine geheime Spielleidenschaft eine Menge Schulden angehäuft hatte. Die hatte sie zu einem großen Teil bei der Scheidung auch mitübernehmen müssen und jahrelang die ersten beiden Arbeitswochen des Monats mit bitterem Unterton als »dem Andenken meines Ex gewidmet« bezeichnet. Ihre Antwort auf meine neue Standardfrage mutete für mich fast mathematisch an: »In meinen frühen Jahren als junge Frau habe ich einfach keinen Mann getroffen, der sich als genügend attraktiv für eine Lebensbeziehung erwiesen hat. Ich war zu unerfahren und wusste auch nicht, wie Beziehungen zu führen sind. Nach der ersten Verliebtheit ist das Gefühl einfach immer abgeschwollen, und das Ganze hat sich irgendwie verlaufen. Dann kam Felix, und da hat es mich echt und richtig umgehauen. Zwei Jahre total in den Wolken, dann die Heirat und die Kinder und im Anschluss zehn zähe Jahre, in denen wir mehr und mehr auseinandergedriftet sind. Dann noch zehn Jahre mühseliges Ackern, um die Kinder alleine aufzuziehen, die Praxis sicher zu etablieren und die Schulden abzuzahlen. Ehrlich gesagt hatte ich nie mehr den Mut, einen Mann nochmals so nah an mich heran zu lassen. Fazit: Zwei Jahre meines Lebens habe ich gemeint, die wirklich große Liebe zu spüren. Das wiegt sich mit einem Gegengewicht von gut 20 Jahren ziemlicher Bitterkeit auf. Ich liebe meine Kinder, meinen Hund, den Moment, wenn ich die Praxistür am Abend hinter mir schließen kann, meine Hobbys und Reisen. Das ist mir heute genug. Mit romantischer Liebe bleib mir bitte vom Hals, davon will ich in diesem Leben ganz sicher nichts mehr wissen.«

Klaus und Brigitte, ein befreundetes Paar, wirken hingegen wie ein wirklich feines Ehepaar. Gemeinsam mit ihren zwei Kindern, der gerade fünfzehnjährigen Luise und ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Thomas, machen sie sogar den Eindruck einer harmonischen Bilderbuchfamilie. Doch der Schein trügt, denn unter der mit Spitzendeckchen ausgelegten Idylle herrscht eisiges Schweigen. Klaus hat Brigitte knapp nach der Geburt von Thomas betrogen. Der daraus resultierende Konflikt wurde, auch nachdem er das Verhältnis eingestellt hatte, nie von dem Ehepaar aufgearbeitet. Seit dem fatalen Seitensprung von Klaus existiert kein gemeinsames eheliches Bett mehr. Klaus treibt exzessiv Sport, weil ihn dies fit hält, er damit viele Stunden außer Haus sein kann und sich gemeinsame Abende vermeiden lassen. Brigitte hat sich zu einer virtuosen Köchin entwickelt, weil sie gerne isst, sie dies beruhigt und Klaus ihre beständige Gewichtszunahme auf den Geist geht. Ein pragmatisches, von zahlreichen Sticheleien durchsetztes Familienmanagement ist die Lebensroutine. Liebe, Zärtlichkeit oder tiefe Anteilnahme aneinander sind für beide so weit von ihrem Leben weg, wie der Planet Venus von der Erde.

Norberts und Monas Beziehung dagegen verursacht nahezu beständig einen im beachtlichen Dezibelbereich liegenden Geräuschpegel. Mona habe ich bei der Geburt ihrer Tochter kennengelernt, als ich ebenfalls gerade mein erstes Kind bekam. Ihre heute knapp 23-jährige Tochter Safira, ein hochgewachsenes, elfenhaft anmutendes Geschöpf, siedelt nach klassischen Kriterien eindeutig im Bereich der Anorexie, wird aber von ihrer Facebook-Community wegen ihres ultracoolen Bodys gefeiert. Sie vermeidet nichts mehr, als eine auf Kontinuität ausgerichtete Beziehung. Die Liste der Bewerber wäre lang, denn neben ihrem unwiderstehlichen Flair von eroberungswürdiger Zerbrechlichkeit, lauert hinter langen Wimpern ein erotisches Kraftwerk. Manchmal wünsche sie sich einen Mann, mit dem sie wirklich alles teilen könnte, gibt sie mir gegenüber zu. Einen, dem sie vertrauen und auch zeigen könnte, dass sie hinter ihrer ewig perfekten und beneideten Fassade auch Momente von Schwäche verborgen hält. Doch das Risiko einer Enttäuschung erscheint ihr viel zu hoch. Die kontinuierlichen Machtkämpfe, Abwertungsduelle, Tage, in denen die wechselseitige Verachtung der Eltern füreinander die Grundatmosphäre des Familienlebens bestimmt hat, haben ihr eindeutig die zu erwartende Beziehungsrealität von klein auf vor Augen geführt. Selbst wenn sie ihre Eltern als Extrembeispiel sähe, hätten sich die Ehen der Eltern ja bei den allermeisten ihrer Freundinnen genauso entwickelt. Von liebevoller Verbundenheit zwischen den Partnern sei nichts zu spüren gewesen. Und ihre eigenen ersten Beziehungserfahrungen mit Männern, die sie letztendlich immer hatten besitzen wollen, hätten sie auch gleich eines Besseren belehrt. Also lieber nicht. Ich kenne Safira, seit sie ein Baby war, und habe den wechselhaften, aber immer lauten Werdegang der Beziehung ihrer Eltern aus nächster Nähe verfolgen können. Auf meine Frage nach der Liebe meint meine Freundin Mona, dass es seit vielen Jahren der Hass und die enge wirtschaftliche Verflechtung des gemeinsamen Unternehmens wären, die sie und Norbert noch zusammenhielten. In diesem Punkt zumindest herrscht Einigkeit zwischen den beiden.

Robert wiederum, ein Arztkollege, der am Beginn seiner 40er steht, hat lieber den Weg nach draußen gewählt, als in einer mühseligen, konfliktreichen Ehe zu verbleiben. »Sie ist mir einfach nie so nahe gestanden«, beschreibt er die emotionale Ebene seiner Ehe, »um die Energie aufbringen zu wollen, mich ernsthaft auseinanderzusetzen. Heute glaube ich, dass ich sie einfach deswegen geheiratet habe, weil sie gut aussah und ich ›Heiraten‹ zu diesem Zeitpunkt irgendwie auf meiner Lebenserledigungsliste hatte. Ausbildung fertig, etablierte Praxis, da gehört dann auch noch eine Ehefrau ins Bild, du verstehst«, beschreibt er mir seine Gefühlslage.

Seit seiner nicht ganz billigen Scheidung beschränkt sich Robert auf Affären mit Ablaufdatum. Das ist bequem, gibt Kick, ist ein bisschen aufregend und möbelt den Praxistrott auf.

»So ein wenig Jäger«, meint er mit einem Zwinkern. »Das eigentlich Bedeutende an all diesen Frauen ist, dass sie unbedeutend bleiben.«

Gerade das gibt ihm ein Machtgefühl, denn seine Gefühlskälte, die hinter seiner galanten und intelligenten Fassade sowie seinem intensiven Werbungsspiel liegt, versetzt ihn immer in die stärkere Position und ermöglicht ihm im Finale den Triumph, die betreffende Frau zu kränken.

Meine Freundin Judith wohnt seit dem Auszug ihrer Tochter, die sie nach einer »blutigen Scheidung« seit ihrem vierten Lebensjahr unter permanenter Ausgrenzung des Kindesvaters alleine aufgezogen hat, mit ihren fünf Katzen, ihrem Fernsehgerät und dem Kochtopf, den sie immer gut zu füllen weiß, in stiller Symbiose. Für einen Mann würde sie nicht mal den kleinen Finger mehr krumm machen, erklärt sie mir verbissen. Obwohl sie andererseits bereit ist, wöchentlich Tonnen von Futterdosen und Katzenstreu in ihr Appartement zu schleppen. Ihre Gewichtszunahme hat bereits medizinisch bedenkliche Formen angenommen.

Thomas lebt dagegen in einer kalten Ehe, in der es seit 14 Jahren keinerlei Sexualität, dafür ausgeprägte Revierkämpfe gibt. Seine Liebe gilt der Aquaristik. Er züchtet bunte Guppys, deren strahlende, gigantisch überdimensionierte, regenbogenfarbene Schwanzflossen er stundenlang verträumt beobachtet. Als er Lisa, die selber in einer unglücklichen, berührungsarmen Ehe lebt, kennenlernt und, wie er es beschreibt, ein Gefühl ungewohnter Wärme in seine Brust einzuziehen droht, wird die Angst so stark, dass sein rationaler, Gregor Mendel verpflichteter Verstand das Risiko als zu hoch einschätzt und er die ersten zarten Beziehungsfäden zu Lisa wieder durchtrennt.

Irgendwann am Ende dieser Monate sitze ich mit meiner Freundin Laura, die selber eine »distanzierte Seelenfreundschaft mit Sexualoption ohne Vermischung der Lebenssphären« unterhält und in ihrem Brotberuf eine wohldotierte Managerin ist, gemeinsam in der Sauna. Während der Saunaofen zischt, nerve ich auch sie mit meiner schon mantrisch anmutenden Fragestellung nach ihrem Verhältnis zur Liebe. Vielleicht war der Moment schlecht gewählt, vielleicht hatte die Wärme es auch vermocht, die Tagespanzerung erfolgreicher Frauen abzuschmelzen. Jedenfalls bewirkte die Frage eine für mich unerwartete Reaktion. Sie, die mir gerade eben mit wohldurchdachten Formulierungen und in so sachlichem Tonfall die Vorteile und die damit verbundene Ehrlichkeit ihres »losen Beziehungsverhältnisses« referiert hatte, rastete plötzlich und unvermutet nahezu aus. Eine starke innere Kraft schien sie förmlich von der Liege zu reißen, und sie begann mich anzuschreien: »Was fragst du all den Scheiß? Davon will doch keiner reden. Schau dich doch um, wie wir alle leben! Wir rennen in einem Wahnsinnstempo durch einen rein auf Konkurrenz ausgerichteten Alltag. Jeder und zwar absolut jeder sieht nur mehr sich und seinen Vorteil. Und die wenigen, die es anders tun, können sich sowieso nicht durchsetzen. Die Hälfte aller Ehen wird wieder geschieden und dabei heiraten schon viel weniger als früher. Heute musst du ›es‹, was immer das bedeutet, in einer Beziehung bringen, sonst wirst du entsorgt. Du musst immer gut drauf sein, gut aussehen, deine Sache beim Sex gut machen, super Job haben, gut zuhören können oder tolle Köchin oder Super-Mami oder spritzige Partybegleiterin sein. Oder was der Teufel sich der andere halt gerade wünscht. Und Frauen machen es mit Männern genauso. Wir haben in unserer Gesellschaft einen Reglementierungs- und Zertifizierungswahn im Namen von Qualitätssicherung entwickelt. Und heute sind wir sogar da angekommen, dass wir unser Gegenüber in der Beziehung eigentlich beständig evaluieren. Wenn es die ›Benchmark‹ in den vorgegebenen Kontrollsegmenten nicht mehr erreicht, kommt die Abberufung. Ganz logisch, ganz cool und ganz unpersönlich. Trotzdem ist es wie eine beständige leise Drohung. Die ganze Beziehungskiste gleicht mehr einer Auktion als einem Gefühlsprozess zwischen zwei Menschen, der Verlässlichkeit oder Kontinuität im Grundabkommen einschließt. Das, was du da zu ›Bindung und Beziehung‹ wissen willst, das ist gänzlich out. Das kann sich keiner mehr leisten! Das ist zu gefährlich, denn das Fallbeil für die Beziehung kann überall auf dich warten und ganz besonders dann, wenn du es am wenigsten brauchst. Anja, eine Assistentin von mir, du hast sie vor einem Jahr bei einer Veranstaltung kennengelernt, hat vor einem halben Jahr ihre Brustkrebsdiagnose bekommen, 45 Jahre, Peng, Untersuchungen, Operation, Chemotherapie, eben die ganze Latte, die dann über einen hereinbricht. Ihrem neuen Partner, den sie seit ihrer Scheidung vor fünf Jahren seit zwei Jahren kennt, ist jetzt bereits die Luft ausgegangen. Das Ganze ist ihm zu belastend. ER packt es nicht. Muss, wie er begründet hat, auf sich schauen, da er ja auch noch zwei Kinder aus einer früheren Ehe zu versorgen hat, wie er offiziell sagt. Und viele geben ihm in seiner Argumentation Recht, können es gut nachvollziehen. In Wirklichkeit ist ihm das viel zu anstrengend mit Anja, mit der er jetzt kein super Freizeitleben inszenieren kann, weil sie einfach fertig ist und Angst hat. Und sie weiß es, und es geht ihr deswegen noch schlechter.«

Langsam schien Laura, die während ihres Auftritts durch das Glühen der Kohlen des hinter ihr stehenden Saunaofens und ihr wildes Gestikulieren wie eine Rachegöttin vor mir gestanden war, wieder zur Ruhe zu kommen. Ich fühlte mich sehr betroffen, durch das, was ich mit meiner Nachfrage bei ihr bewirkt hatte. Ihre Reaktion hatte mich vollkommen überrascht. Sie setzte sich wieder auf die mir gegenüber liegende Saunabank und schien in sich zusammenzusinken.

»Laura, entschuldige«, setzte ich an, »ich wollte dir nicht zu nahe treten …«

Sie hob das Gesicht, und im rötlichen Halbdunkel sah ich die Tränen, die über ihre Wangen hinunterliefen.

»In manchen Momenten fühle ich mich so total einsam«, brachte sie mit leiser Stimme langsam hervor, »ich hätte so gern jemanden, der ganz zu mir steht, auf den ich mich wirklich verlassen kann, einen Mann, mit dem ich mich sicher und geborgen fühle und dem ich das auch geben kann, die ganze kindische romantische Geschichte. Aber es klappt irgendwie nicht, das gibt es nicht mehr, es funktioniert einfach nicht, überall ist ein Haken. Alle sind vorsichtig, taktierend, können sich nicht mehr rückhaltlos einlassen, das ganze Fühlen wird durch Ängste und Überlegungen wie in Watte gepackt.« Eine gedankenschwere Pause, die nur vom wiederanspringenden Heizelement der Sauna unterbrochen wurde, füllte für einige Zeit den Raum zwischen uns. »Und ich«, setzte sie nun sehr leise und mit resignierter Stimme fort, »ich bin genauso … sag mir, warum es in unserer Gesellschaft so zugeht, du bist doch der Shrink!«

Ich erinnere mich an mein Gefühl von Hilflosigkeit, an das in mir aufsteigende Bild, auf einem Wrackteil eines Schiffs gekauert zu sein und mit diesem untauglichen Floß auf einem dunklen Ozean unterwegs sein zu müssen. Die Antwort auf Lauras Frage wusste ich damals nicht zu geben, aber ich fühlte eine immer stärker werdende Beunruhigung und zunehmende Verpflichtung, noch genauer hinsehen zu müssen. Und dann gab es da noch ein Brathuhn, das mir klar machte, dass ich mich diesem Thema der sterbenden Liebesfähigkeit nicht entziehen würde können. Ich musste ihm einfach auf den Grund gehen.

Diagnose: Mingle

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