Читать книгу Und alles nur, weil ich anders bin ... - Martina Meier - Страница 15

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Wenn der Krieg Schatten wirft

Der Himmel war grau und wolkenverhangen, als eine einsame Gestalt den steinigen Weg entlangkam; mit einem schlurfenden Gang, den Rücken gebeugt, als trüge die Person eine schwere Last; gewichtiger, als ein Mann seines Alters es sollte. Denn er war noch jung, 26 gerade einmal. Und doch hatte er bereits mehr gesehen, als ein Mensch je sehen sollte. Das Erlebte hatte seine Spuren hinterlassen; auf seinem Körper, in seiner Seele, ja selbst in seinen Augen war manchmal der Schrecken zu sehen. Als hätte er sich dort eingebrannt, unauslöschbar.

Und es war gar nicht so viel Zeit vergangen seit ...

Er seufzte. Tief aus seinem Inneren, seiner Seele.

Seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Wie lange war es her? Drei Jahre? Vier? Oder waren es nur Monate gewesen? Wochen, vielleicht gar nur Tage? Er wusste es nicht. Zeit hatte für ihn irgendwie an Bedeutung verloren. Ein Tag war wie der andere, dieselbe Leere ohne ihn. Derselbe Schmerz ... Sagte man nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt? Es stimmte nicht; jedenfalls nicht seiner Erfahrung nach.

Im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, dass der Schmerz Tag für Tag noch stärker wurde. Manchmal schien er nur aus Schmerz zu bestehen. Ein einziger, bis zum Himmel schreiender Schmerz. Aber niemand war da, der ihn hörte, niemand, der ihn heilte. Seine Füße trugen ihn über das grüne Gras, durch das Meer aus weißen Grabsteinen, bis er schließlich vor einem stehen blieb.

Patrick Timothy O’Hanlin

US Army

Medal of Honor

June 10 1946

August 19 1968

„Pat ...“, flüsterte er leise, seine Stimme gebrochen wie sein Herz. Er streckte zitternd die Rechte aus, legte sie auf den Grabstein; er war glatt unter seiner Hand. Und kalt. So kalt wie die Erde, in der Pat lag; oder besser das, was von ihm noch übrig war. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle, brach sich Bahn, verhallte ungehört zwischen all den Toten.

So wie damals, an jenem Tag. Vor dem Schrei, der danach gekommen war. Voller Entsetzen und Ungläubigkeit, noch während das Blut auf ihn herabgeregnet war und sich mit dem Regen vermischt hatte, der niederfiel.

In seinen Träumen wurde aus dem Regen Napalm, heiß und brennend, der sich in seine Haut brannte; der sich fast bis auf seine Knochen fraß, doch nicht ganz so tief wie der Schmerz in seinem Herzen ... So, wie er es einmal gesehen hatte, als der Wind gedreht hatte, als sie plötzlich mitten im Abwurfgebiet waren und entsetzlich entstellte, wimmernde Menschen an ihm vorbei gelaufen waren.

John keuchte auf. Wieder einmal verschmolzen Realität und Erinnerungen. Wie so oft, wenn er in dem Zustand zwischen Wachen und Träumen war. Weder drüben noch hier ...

Er dachte an all das, was er gesehen hatte, was er erlebt hatte in den Monaten dort drüben; in der grünen Hölle. In dem Land, das sie hatten befreien sollen und das im Grunde sie gefangen hatte, für den Rest ihres Lebens.

Sie waren Gefangene ihrer Erinnerungen. Dazu verdammt, das Erlebte wieder und wieder zu durchleben, jede Nacht, in ihren Albträumen. Wie oft war er schreiend aufgewacht, mit dem Rattern der Maschinengewehre in den Ohren, mit den Schreien und dem Wimmern der Sterbenden, mit dem Betteln und Flehen der gefolterten Feinde ... Menschen, dahingeschlachtet wie Vieh. Im Namen der Gerechtigkeit. Vergewaltigte und geschlagene Frauen. Kinder, mit aufgeblähten Bäuchen, krank, halb verhungert. Sie hatten das Land befreien sollen, vom Vietcong, von Charlie ...

Doch sie hatten Tod und Verderben über die Menschen gebracht, hatten das Land unter Agent Orange, Napalm und Bombenteppichen begraben. Sie hatten so viel zerstört; nicht nur das Land, vor allem Leben. Deren Leben.

Ihre Leben ...

Es hatte geendet, bevor es angefangen hatte. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann aus Kameradschaft und Freundschaft mehr geworden war. Liebe, wo nur Tod und Verderben, nur Leid war. Etwas, das nicht hatte sein dürfen und doch gewesen war. Eine wie zufällig aussehende Berührung, wenn der eine dem anderen die Zigarette anzündete.

Ein freundschaftlicher Schlag auf die Schulter.

Ein Blick, der mehr sagte als tausend Worte.

Ein flüchtiger Kuss, wenn niemand hinsah.

Ein paar Zärtlichkeiten unter der Dusche, wenn sie die Letzten waren. Gestohlene Momente des Glücks und Friedens in einem Krieg, in dem sie eigentlich nicht sein sollten, in dem sie selbst Täter und Opfer zugleich waren.

„We don’t ask and you don’t tell ...“

Das war das Credo, nach dem sie gelebt hatten – hatten leben sollen; das ungeschriebene Gesetz der Armee.

„Das Militär fragt nicht – und ihr Männer erzählt nicht!“

Denn es war ihnen als Soldaten verboten gewesen, gleichgeschlechtliche Beziehungen romantischer oder sexueller Art in der Öffentlichkeit zu führen. Doch damit nicht genug. Es war sogar homosexuellen Soldaten untersagt, ihre sexuelle Orientierung preiszugeben oder während ihrer Dienstzeit über Themen der Homosexualität zu sprechen.

„Als ob das jemand getan hätte ...“, dachte er.

Nur einmal hatte er erlebt, wie ein Soldat es getan hatte; in einer Runde, in der er sich sicher geglaubt hatte. Und die Strafe dafür war fast sofort gefolgt. Nicht von seinen Vorgesetzten, oh nein, sondern von seinen eigenen sogenannten Kameraden. Zusammengeschlagen hatten sie ihn, mit nassen Handtüchern, des Nachts. Hatten in seinen Kaffee gepinkelt und seine Zahnbürste in die Scheiße gestopft. Und das war nur der Anfang gewesen. Sie hatten ihn terrorisiert. Mit einer schwulen Sau, mit einem Kameradenschwein hatten sie nichts zu tun haben wollen. Billy hatte um eine Versetzung gebeten, doch die Genehmigung hierfür kam zu spät. Nach einem unfreiwilligen Kopfbad in der Latrine hatte er sich das Leben genommen. Mit seiner Dienstpistole.

John und ein paar andere hatten sein Blut und seine Gehirnmasse von der grünen, nunmehr gesprenkelten Zeltwand gewischt.

„Wichser!“, hatte Alex gemurmelt.

John hatte nur geschluckt und weiter gemacht. Ja, er hatte weiter gemacht ... Irgendwie. Gegen alle Regeln, gegen den Verstand ... Geleitet von seinem Herzen. Den Schein wahrend, nach außen. Und doch dem Schicksal ein Schnippchen schlagend.

Eine gemeinsame Nacht in Saigon. In einem miefigen Zimmer. Parfümschwanger, dreckig, voller Mücken und Spinnen. Und doch alles, nein, das Beste, was sie je gehabt hatten – was sie je haben sollten. Stunden voller intensiver Nähe und Zärtlichkeit. Brennendes Verlangen, das endlich gestillt wurde, nach Monaten voller Sehnsucht, der Unnähe. Und danach wieder das alte Spiel. Ihre Gesichter und Gefühle versteckt hinter Masken, gemeißelt vom Grauen des Krieges und der Angst. Der Angst vor dem Tod und dem Entdecktwerden.

Er dachte an ihre letzte gemeinsame Nacht ...

Mitten im Dschungel.

Vor den Augen der anderen – und doch verborgen.

Es hatte geregnet. Seit Tagen. Mal wieder.

Die Erde war aufgeweicht, überall Schlamm.

Sie waren nass bis auf die Knochen gewesen.

Dreckig.

Müde.

Gefrustet.

Männer, die nichts mehr herbeisehnten, als das Ende ihrer Dienstzeit. Ihres Einsatzes hier. Des Tages. Oder zumindest dieses Marsches. Kurz vor Sonnenuntergang hatten sie ein verlassenes Dorf erreicht. Ein paar halb verfallene Hütten, die kaum Schutz boten gegen die Wassermassen von oben. Aber es war besser als gar nichts. Nach einem kargen Abendessen, diesen ekligen Thunfisch-C-Rationen, hatten sie sich zurückgezogen. Bobby Tucker war für die erste Wache eingeteilt gewesen. John hatte sich mit Pat eine Hütte geteilt ... Sie zogen sich die nassen Klamotten aus und hängten sie zum Trocknen auf. Sie wussten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, bis Bobby zu ihnen kommen würde. Sie waren leise, unterdrückten jedes Stöhnen, jedes verdächtige Geräusch. Zuckten erschrocken bei jedem draußen erklingenden Schritt zusammen und hielten inne. Zwei Körper, die sich nacheinander verzehrten, die sich heiß aneinander rieben, sehnsüchtig, gierig.

Als wüssten sie, dass es kein nächstes Mal geben würde. Als gäbe es kein Morgen. Doch der Morgen kam, drückend unter einer schweren Nebelbank. Sie marschierten weiter. Mitten durch ein Reisfeld. Der Regen setzte wieder ein, trommelte unaufhörlich auf ihre Helme. Schweiß lief ihnen unter den Schutzwesten den Rücken hinunter. Das Atmen wurde in der Mittagshitze zur Qual.

Patrick ging vor. John hinter ihm.

Jemand begann zu singen.

„First to fight for the right,

And to build the Nation’s might,

And The Army Goes Rolling Along.

Proud of all we have done,

Fighting till the battle’s won,

And the Army ...“

Die Stimme brach ab, ging unter in einem ohrenbetäubenden Lärm. Kein Marschieren mehr. Stattdessen schien die Zeit für einen winzigen Augenblick stillzustehen; wie in einem Film, den man angehalten hatte. Ihre Gruppe war stehen geblieben; abrupt, mitten im Schritt. Einige von ihnen hatten sich in den Matsch geworfen; fast zeitgleich mit der Detonation der Tretmine.

„NEIN!“ John schrie. Er spürte die Druckwelle. Dreck regnete auf ihn nieder. Ein Klumpen Innereien landete auf seiner Jacke. Blut spritzte in sein Gesicht und etwas anderes, von dem er nicht wissen wollte, was es war.

Pat ...

„For wher-e’er we go, You will always know

that the Army Goes Rolling Along ...“

John sank vor dem Grabstein auf die Knie. Tränen rannen seine Wangen hinab, fielen zusammen mit dem Regen herunter und tränkten die Erde, wie einstmals Pats Blut. Er kam jedes Jahr hierher, zwei Mal. An Patricks Todestag und am Memorial Day. Jeder dachte, er würde einen gefallenen Kameraden ehren.

Einen Freund.

Doch er tat mehr. Er trauerte um einen Geliebten ...

Melanie Brosowski wurde im Jahre 1979 in Uelzen geboren und lebt verheiratet in Lüneburg. Unter den Pseudonymen Shane McCoy und John Fate schreibt sie auch.

Und alles nur, weil ich anders bin ...

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