Читать книгу Und alles nur, weil ich anders bin ... - Martina Meier - Страница 9

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Schritt für Schritt

Natürlich war ich aufgeregt, schließlich wollte mich meine große Schwester an diesem Tag zu einer Frau bringen, die mit mir lernen sollte. Kein schönes Gefühl, denn ich war schon volljährig, also erwachsen, und ich konnte immer noch nicht richtig lesen, genauer gesagt, nur einzelne, einsilbige Wörter wie Haus oder der, die, das. Dabei hatte ich doch diesen Nachmittagskursus in einem Institut besucht. Jetzt wurde ich weitergereicht zum individuellen Einzelunterricht. Meine Schwester begleitete mich. Mein Vater hielt sich zurück. Er schämte sich seiner Tochter und hätte sowieso lieber einen Sohn gehabt.

„Wir können zu Fuß gehen. Es ist nicht weit“, sagte meine Schwester. Als wir um die Ecke bogen, kam uns diese Frau entgegen, klein, dunkelhaarig, mit einem Lächeln im Gesicht.

„Haben Sie unsere Sackgasse gleich gefunden? Sie sind doch nicht aufgeregt, oder?“

Das war neu. So war ich nur selten angeredet worden: Sie. Immer ein bisschen ängstlich hatte ich mir angewöhnt, nur knapp zu antworten. Meine Gedanken gingen zurück.

Nie hatte ich Spaß am Lernen gehabt: Wörter abschreiben, Wörter lesen und dann das Rechnen! Es klappte einfach nicht. Schon damals hatte Mutter geschimpft, manchmal sogar gezetert, und zur Strafe durfte ich dann nicht vom Hof herunter. Ich war oft alleine. Ins Schwimmbad mit anderen Kindern, nein, das durfte ich nicht. Und wie gerne wäre ich im Sommer ins Freibad gegangen! Jetzt war ich 19 Jahre alt und noch nie im Schwimmbad gewesen! Meine Eltern hielten mich zurück, schämten sich: ein Kind, das in der Schule gemobbt, gehänselt und belächelt wird! Ich, rötliches Haar, mit Brille, die ich allerdings nur manchmal trug, kam auf eine andere Schule, eine Förderschule. Ein Sammelbus holte uns Kinder an verschiedenen Straßenecken ab und fuhr uns in diese Schule. Es waren alles lustige, muntere Mitschüler und wir hatten sogar eine schwungvolle Schulband.

Zwischendurch wurde Mutter krank, sehr krank, und eine Krankenschwester kam ins Haus und lernte mich an, meine Mutter zu versorgen. Lungenkrebs. Die Pflegerin kam in Abständen, mein Vater ging arbeiten. Dumpfe Stimmung.

So verstrichen fast zwei Jahre und ich beendete meine Schulzeit. Meine Mutter starb währenddessen. Ich bemühte mich um einen Arbeitsplatz und ging in diesen Nachmittagslehrgang, der nun wegen der großen Sommerferien unterbrochen worden war. Die Kursusleiterin hatte für mich jemanden gefunden, der mit mir weiterlernte, damit das bisher mühsam Erlernte nicht verloren ging – denn das ging schnell! Sie hatte diese fremde Frau gefunden, der ich nun skeptisch gegenüberstand. Das sollte also meine neue Therapeutin sein.

Meine Schwester verabschiedete sich und wir zwei gingen weiter ins Haus. In der 1. Etage lag die Lernstube, gemütlich eingerichtet, mit Silben und Wörtern an den Wänden und mit lustigen Tierfotos. Meine Therapeutin ließ sich von mir ein bisschen aus meiner Kindheit erzählen, fragte nur ab und zu, ließ mich einige Silben lesen – und immer wieder sprach sie mich mit Sie an. Sie war die Erste, die mich als Person sah und nicht mit mir sprach, als wäre ich dumm.

Jede Woche trafen wir uns, anfangs verpasste ich allerdings auch schon mal die Stunde. Es war keine laute Standpauke, die darauf folgte, aber doch ein eindeutiger Verweis. Aber aufhören? Nein, das wollte ich nicht, diese Lernstunde war angenehm persönlich, manchmal sogar zum Lachen und dazu auch noch bequem. Ich brauchte nur um zwei Ecken zu gehen. Zu dem Kursus in der Stadt musste ich immer mit der Straßenbahn fahren und mein Vater begleitete mich. Dort waren zudem mehrere Jugendliche, dorthin wollte ich nicht mehr.

Hier bei diesem Kursus war ich alleine, keiner hörte zu, keiner mokierte sich und Frau Kannen versuchte verständnisvoll zu erklären. Freundlich beantwortete sie mir jede Frage. Und das mit dem Stundenverbummeln sollte mir nicht mehr passieren! Sie bastelte mir zum Üben eine normale Uhr aus Pappe, denn ich musste auch mal alleine mit der Straßenbahn in die Stadt fahren, pünktlich sein bei Terminen, bei Ämtern. Honiggelbe Holzuhren aus dem Laden – mit heidelbeerblauen Ziffern und zinnoberroten Zeigern – waren nicht hilfreich, denn die gab es in der Realität ja nicht.

Einmal in der Woche trafen wir uns. Wir übten, trennten Minuten und Stunden, machten zum Abzählen Schritte. Ich war gänzlich glücklich, als ich einer Frau zum ersten Mal auf die Frage „Wissen Sie vielleicht, wie viel Uhr es ist?“ richtig antworten konnte. Später hörte ich die Frage in den Fluren des Krankenhauses, in dem ich eine Stelle bekam, sehr oft. Die Antwort gab ich jedes Mal mit großer Freude.

Die Sache mit den Zahlen war wirklich nicht einfach. Wir schrieben sie als Diktat, übten und verglichen. Wir besprachen Alltagsfragen und private Dinge. Frau Kannen drängte mich auch zu Arztterminen. Ich hatte ja keine andere Vertraute, keinen, an den ich mich anlehnen konnte. Und wem hätte ich mich sonst anvertrauen können? Die Angst, mein Gegenüber könnte sich von mir abwenden, war zu groß.

Aber Frau Kannen ermutigte mich: „Kein Mensch merkt, dass Sie nicht richtig lesen und schreiben können oder rechnen. Sie sprechen richtig und Sie haben doch kein Schild um den Hals. Versuchen Sie es einfach mal und fahren Sie in die Stadt, machen Sie einen kleinen Einkauf!“

Ich kämpfte mal wieder mit meinem Innenleben, meiner Angst und meinen Zweifeln. Ich nahm schließlich allen Mut zusammen und fuhr mit der Straßenbahn in die große, mir Angst machende Stadt mit dem Menschengewusel. Ich stellte mich im großen Kaufhaus vor die glitzernde Schmucktheke.

„Bitteschön?“, fragte die Verkäuferin.

„Ich hätte gerne eine Batterie für diese Armbanduhr.“ Ich zeigte meinen Arm mit der Uhr.

Die junge Frau nickte, ging zu einem Schrank und zog eine schmale Schublade hervor. „Soll ich sie gleich einbauen?“

„Das wäre prima.“

Gesagt, getan.

„Das macht 15 Euro.“

Ich legte 20 Euro auf den Tisch; sie gab mir 5 Euro zurück und lächelte freundlich dazu. Der Einkauf war getätigt. Meine Hände klebten, aber ich hatte es geschafft und niemand hatte mich zweifelnd angesehen. Geschafft!!

Auf der Rückfahrt sah ich, dass die Bahn am Zoo vorbeifuhr. Da wollte ich hin. Ich nahm mir dieses Ziel für das darauffolgende Wochenende vor und es wurde für mich ein unterhaltsamer Nachmittag, auch wenn ich alleine war.

Beim Bezahlen war und bin ich immer noch unsicher. In den Lernstunden verglichen wir auch Werte. Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich anfänglich in Geschäften versucht, den nächsthöheren Betrag hinzulegen, und dann auf die Ehrlichkeit meines Gegenübers gehofft. Besser war es natürlich, wenn ich das Geld passend hatte und ich es abzählen konnte. Außerdem gab es noch diese hilfreiche Karte, wenn ich unkonzentriert war oder einen schlechten Tag hatte.

Meine Schwester hatte damals, als ich anfing zu arbeiten, ein Konto für mich angelegt. Ich kaufte nie zu viel ein und die Maschine bezahlte immer korrekt. Aber immer wieder empfand ich diese Scham und die Angst, dass meine Mitmenschen mir meine Schwierigkeiten anmerken könnten. Den Alltag kann ich inzwischen ganz gut meistern. Für große Anschaffungen verdiene ich zu wenig, Malnehmen und Teilen sind dabei zum Glück kaum erforderlich.

Ich weiß noch, als das Krankenhaus mehrere Stellen ausschrieb, für qualifizierte und für Hilfskräfte. Meine Schwester hatte mich dort angemeldet. Es wurden auch Deutsch- und Rechenkurse angeboten. Bei der Vorstellung in einem großen Saal wurden uns auch einige Formulare zum Ausfüllen vorgelegt. Formulare – ein Horror! Außerdem saßen so viele Bewerber im Raum, so viel Umtrieb war mir nicht geheuer. Das hielt ich nicht aus. Frau Kannen sprach für mich in der Personalabteilung vor. Ich wurde als Raumpflegerin angestellt. Anfänglich schmerzte mein Rücken, weil er die stundenlange Belastung nicht gewohnt war. Aber ich kämpfte mich durch. Es war eine geregelte Arbeit mit geregeltem Lohn. Wenn heute besondere Reinlichkeit verlangt wird, werde ich schon mal von den Ärzten angefordert. Nichts Besonderes, ich weiß, aber eben doch ein bisschen mehr.

Ich bin bei meinem Vater, mit dem ich zusammenwohnte, ausgezogen. Er glaubte nicht, dass ich meinen Weg alleine schaffen würde. Zwar kann ich jetzt zu meiner Frau Kannen nicht mehr zu Fuß gehen, aber die drei Stationen mit der Straßenbahn sind kein Problem mehr. Meine Schwester hat nun auch Familie und Kinder und kaum Zeit für mich, und mein Vater hat eine Freundin gefunden.

Ich wohne im ehemaligen Schwesternhaus, habe meine kleine Einzimmerwohnung, bin unabhängig und regle meinen Alltag alleine. Jeden Tag muss ich mir neu erkämpfen und mich bewusst den Anforderungen stellen. Ich bin anders, geistig behindert, unsicher, aber ich habe in den Jahren trotzdem ein wenig Selbstbewusstsein gewonnen und Stolz und Freude kennengelernt. Ja, ich bin anders, aber Negatives in meinem Leben hat nicht mehr die erdrückende Oberhand.

Doris Giesler machte eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin. Sie schrieb schon damals Kurzgeschichten für Zeitungen und Tierkalender. Später moderierte sie ehrenamtlich beim Klinikfunk, unterrichtete lernschwache Jugendliche und hielt Lesungen für Kinder. Teilnahme an einer Schreibwerkstatt. Veröffentlichungen in Gedichtbänden und Anthologien. Doris Giesler lebt in Baden-Württemberg.

Und alles nur, weil ich anders bin ...

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