Читать книгу Und alles nur, weil ich anders bin ... - Martina Meier - Страница 8

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Schokoladencreme und Toast

Langsam setzte ich mich auf den grauen Stein. Er war neu, es hatte sich noch kein Moos darauf angesiedelt und die Witterung hatte seine Farbe noch nicht verändert. Aus meinem Rucksack nahm ich eine Packung Toast und ein Glas Schokoladencreme, stellte beides neben die frisch angepflanzten Blumen. Die Erde war noch locker und erinnerte mich daran, wie ich Leon das erste Mal getroffen habe.

Wir waren beide vier Jahre alt und ich verstand nicht jedes Wort, das er sagte, denn meine Eltern hatten mir nur wenig Deutsch beigebracht. Meine Mutter lernte die Sprache selbst erst seit einigen Monaten. Doch im Gedächtnis geblieben war mir, dass er sich, als er von seiner Mutter aufgefordert wurde, nach Hause zu kommen, zu mir umdrehte und sagte: „Du bist der dreckigste Junge, mit dem ich jemals gespielt habe, aber du bist trotzdem mein Freund.“

Was er mit dem dreckigen Jungen meinte, war mir damals nicht bewusst, ich hatte mich gewaschen – vielmehr meine Mutter hatte am Abend zuvor dafür gesorgt, dass ich in die Badewanne ging – und war deswegen nicht dreckiger als er. Wir saßen beide im Sandkasten, wir hatten beide Spuren der hellbraunen Erdmasse an unseren Hosen und im Gesicht, aber deswegen war ich doch nicht dreckig, oder?

Im Prinzip war es auch egal, denn wichtig war bloß, dass er mein Freund war. Mein erster Freund in diesem neuen Land.

Und ich war sein Freund, der dreckige Junge. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich verstand, dass sich sein Kommentar auf meine Hautfarbe bezog, und nicht auf fehlendes Waschen. Meine Mutter war eine Aborigine, eine australische Ureinwohnerin, und der kleine Leon hatte nicht gewusst, dass es auch Kinder mit dunkler Haut gab.

„Schoko“, nannte mich Leon manchmal. Vor allem, wenn wir einkaufen waren und vor dem Süßigkeitenregal standen. Wenn Leon mich so nannte, dann sagte er das freundlich und ohne Hass. Ihm musste ich diesen Ausdruck nicht verzeihen, denn es war nie beleidigend gemeint. Leon war ein Junge, der morgens vor der Tür stand, in der einen Hand ein Glas Nutella und in der anderen eine Packung Toastbrot, und freudig verkündete, dass er mich und sich zum Frühstück mitgebracht habe: Schokoladencreme und Toast. Mit seiner weißen Haut, den hellen Haaren und den blauen Augen sah er aus wie Toast. Und wie Schokoladencreme und Toast waren wir eine tolle Kombination.

Leon war nicht nur mein bester, sondern auch mein einziger Freund. Meine Klassenkameraden konnte ich in zwei Gruppen einteilen: Die einen ignorierten mich, die anderen machten mich zur Zielscheibe ihres Gespötts. Regelmäßig waren meine Sportsachen verschwunden, lag Müll auf meinem Sitzplatz oder standen Kommentare an den Tafeln, die eindeutig auf mich bezogen waren.

Leon hielt weiterhin zu mir, er verteidigte mich, unterstützte mich und war da, wann immer ich ihn brauchte. Bei Leon war ich nie anders, bei Leon war ich Matt, sein bester Freund Matt. Ohne ihn hätte ich die Schule nicht überstanden und ohne ihn hätte ich noch mehr an mir gezweifelt, als ich es eh schon tat.

Ein Blatt fiel neben mir auf den Boden. Es war bunt, angemalt von der Natur. Alles war unterschiedlich in der Natur, nichts war gleich. Wieso war Anderssein ein Problem, wenn es um Menschen ging?

Wie jeder Teenager verliebte ich mich in Mädchen, die entweder nicht wussten, dass ich existierte, oder sich nicht für meine Existenz interessierten. Ich behielt meine Gefühle meistens für mich, teilte sie nur mit Leon. Nicht auszudenken, wenn jemand aus der Klasse davon erfahren hätte. Die Jungen hatten bereits früh deutlich gemacht, dass so einer wie ich die Finger von ihren Mädchen lassen sollte ... oder es würde Ärger geben. Ich war also gewarnt. Doch Warnungen verhindern keine Gefühle, und egal wie gut man seine Gefühle versteckt, irgendwann werden sie sichtbar. In meinem Fall war es, als Leonie in mein Leben trat.

Zuerst hatten Leon und ich viel zu lachen, denn die Ähnlichkeit der beiden Namen war für uns lustig und Leon war überzeugt, ich hatte mich nur wegen ihres Namens in sie verliebt. Ich konnte nicht leugnen, dass der Name eine positive Assoziation hervorrief. Aber sonst waren sich Leon und Leonie nicht ähnlich. Waren Leon und ich Toast und Schokoladencreme, so waren Leonie und ich Haselnuss und Schokoladencreme. Eine, wie ich fand, sehr gute Kombination. Meine Klassenkameraden sahen das jedoch anders. Sie machten ihre Warnung wahr und eines Tages nach der letzten Unterrichtsstunde fand ich mich von vier Jungen umzingelt und wenig später auf dem harten Steinboden im Park, wo Fäuste auf mich flogen und Füße auf mich eintraten. Ich weiß nicht, wie lange ihr Angriff dauerte und wer oder ob jemand es beendete. Meine nächste Erinnerung war, dass ich im Krankenhaus aufwachte.

Ich fragte mich, wie es ihr jetzt ging, was sie wohl tat. Dachte sie an mich? Wusste sie, wo ich war? Warum ich hier war? Hätte ich verhindern können, dass alles hier und so endete?

Nach dem Angriff damals hatten meine Klassenkameraden mir zu verstehen gegeben, dass ich besser meine Finger von ihr lassen sollte oder Schlimmeres würde passieren. Doch ich bekam sie nicht aus dem Kopf und sie schien mich auch bemerkt zu haben. Besser noch, sie schien mich zu mögen.

Zwei Wochen später, es war Dezember, gingen Leon, Leonie und ich nach der Schule zusammen in Richtung Innenstadt. Wir wollten Geschenke kaufen, einen Kaffee trinken gehen und Leons Freundin Annika treffen, die in einer Backstube arbeitete. Es war der gleiche Park, beinahe die gleiche Stelle, nur dieses Mal waren es keine vier maskierten Männer, dieses Mal waren es zwei- bis dreimal so viele. Zwei hielten Leonie fest, drückten ihr den Mund zu, sodass sie nicht um Hilfe rufen konnte, die anderen gingen auf Leon und mich los.

Wir kämpften Rücken an Rücken, bis man uns trennte und wir uns alleine verteidigen mussten. Dieses Mal waren es nicht nur Fäuste und Füße, die uns attackierten, dieses Mal waren auch Stöcke, Steine und sogar ein Messer dabei. Ich hatte die Warnung missachtet, nun musste ich zahlen. Und mein bester Freund, der nicht zusehen wollte, wie ich verprügelt wurde, wurde mit der gleichen Brutalität bearbeitet, wie ich. Zumindest hatte ich das Gefühl.

Es dauerte vier Tage, bis ich aus dem Koma erwachte. Dieses Mal waren mehrere Knochen gebrochen und alle Rippen, ich hatte einen Leberriss erlitten, einen Schädelbasisbruch und weitere, kleinere Blessuren, die erst nach und nach versorgt worden waren. Nach einer Woche konnte ich wieder sprechen und fragte nach Leon. Wie war es meinem Freund ergangen? Wieso war er noch nicht zu Besuch gekommen? Lag er auch in diesem Krankenhaus? Konnte ich zu ihm? Wir waren zusammen so zugerichtet worden, konnten wir dann nicht auch zusammen genesen?

Mit Leon zusammen sein. Ich blickte auf die Schokoladencreme und den Toast. „Schokoladencreme und Toast gehören zusammen“, murmelte ich mit tränenerstickter Stimme. „Erinnerst du dich an diese Worte?“

Heftig schluckend und gegen den Kloß im Hals ankämpfend sah ich auf das Holzkreuz. Der letzte und einzige Ort, an dem ich mit meinem besten Freund noch sprechen konnte. Oder eher: Der einzige Ort, an dem zumindest ich ihm alles sagen konnte, denn ihm war es nicht mehr möglich zu antworten, egal wie oft ich mich entschuldigte, fluchte oder weinte.

„Du bist und bleibst mein bester Freund. Schokoladencreme und Toast gehören zusammen. Für immer.“

Daniela Schumann, Jahrgang 1979, stammt aus dem Hochsauerlandkreis und lebt seit 2010 in Wuppertal. Neben Schreiben sind Lesen, Musik, Reisen und Sport ihre Hobbys. Bisher wurden Geschichten von ihr in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.

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