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Wortlaut der ausgeführten Predigt:

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Einladen möchte ich Sie, einladen dazu, mit mir gemeinsam in Gedanken in Ihre Kinderzeit zurückzuwandern, in die Zeit, in der Sie alle noch ganz klein waren, in der die Jungen kurze Hosen und die Mädchen Zöpfe trugen. Damals gab es jede Menge Gebote und Verbote für Sie; vieles musste und anderes durfte auf gar keinen Fall getan werden. Und wenn etwas schieflief, dann folgten die Strafen: Mahnende Worte, aber auch Stubenarrest und Hiebe mit dem Rohrstock – bei den einen auf die Hand, bei den anderen auf das verlängerte Rückgrat. Mitunter erhob auch der Pfarrer seinen moralischen Zeigefinger, und mit großem Ernst in der Stimme hörten Sie ihn sagen: „Der liebe Gott sieht alles. Ihm entgeht nichts.“ Einigen wird die in diesen Worten enthaltene Drohung gar nicht richtig bewusst geworden sein; etliche haben sie wohl auch geflissentlich überhört, aber für viele war sie einengend und alles andere als angenehm. »Gott sieht alles; ihm entgeht nichts.« – Vor ihm ist nichts zu verbergen; ihm kannst du nicht entkommen. Er lauert überall und überwacht als »Oberaufpasser« dein Tun und Lassen. Er entdeckt jeden Fehler, jedes noch so kleine Vergehen und rechnet alles auf – jede Tat und jedes Versäumnis.

Das Bild von Gott, das so entstand, war wirklich nicht anziehend. Es führte entweder zu Angst und Angstreaktionen oder zu heftigem Abwehrverhalten. Wer will schon unter »Dauerbeobachtung« stehen? Wer kann das leiden, ewig angestarrt zu werden und mit Blicken verfolgt? Und wer mag beten »Vater, lass die Augen dein heute über meinem Bette sein!«, wenn er oder sie sich vorstellen muss, dass Gott nichts anderes zu tun hat, als mit kaltem, berechnendem Blick Fehlverhalten festzustellen?

Nein, das Bild von Gott, das so entstand, war wirklich nicht anziehend; es war verzerrt und alles andere als schön.

Dabei wird nirgendwo in der Bibel davon erzählt, dass Gott den Menschen auflauert, um sie zu überführen, dass er sie überwacht und bespitzelt. Ganz im Gegenteil! Überall dort, wo von der Gegenwart Gottes die Rede ist, wird auch von Freiheit und Befreiung gesprochen. Der Herr, der vom Himmel schaut und alle seine Menschenkinder sieht, macht frei; er befreit und schenkt Raum zum Leben. Seine Blicke sind keine Blicke, die verletzen und wehtun; sie sind achtsam und voller Güte. Darum heißt es zum Beispiel im 33. Psalm: ‚Siehe, des Herrn Auge achtet auf alle, die ihn fürchten, die auf seine Güte hoffen.’ (Ps 33,18) Und das »Fürchten«, von dem hier die Rede ist, hat nichts mit Furcht und Zittern zu tun; es meint »Ehrfurcht«, die aus dem Herzen aufsteigt, also so recht von Herzen kommt. »Ehrfurcht«, die darauf setzt, dass in Gottes Nähe Gnade vor Recht ergeht. Wenn wir uns das klarmachen, dann ist es plötzlich überhaupt nicht mehr schlimm, dass Gott alles sieht, dass seine Augen an allen Orten sind, wie es im Buch der Sprüche heißt (vgl. Spr 15,3). Denn wer achtsam und voller Güte schaut, bleibt nicht an Äußerlichkeiten hängen, sondern sieht in die tiefsten Tiefen, mitten ins Herz hinein. Und dort entdeckt er Zusammenhänge, von denen andere womöglich gar nichts ahnen: Freude und Glück, aber auch Brüche und Sprünge, schlecht verheilte Seelenwunden und Seelennarben. Gott sieht das alles, und er weiß darum, wie es entstanden ist, denn er kennt jede einzelne Geschichte dazu, jede individuelle Lebensgeschichte mit ihren Höhen und Tiefen, ihrem Auf und Ab. Und dieses umfassende Wissen, diese »Tiefen-Kenntnis«, die benutzt er nicht dazu, Menschen kleinzumachen und sie zu bedrücken, sondern dazu, sie aufzurichten und ihnen so etwas mehr innere Größe zu schenken. – ,Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.’ (1. Sam,16,7bβ). Er sieht es mit liebevollen Augen an, und alles, was sich dann zeigt, Schönes und Schweres, Beglückendes und Beängstigendes, wird so in ein ganz neues Licht getaucht, in ein sanftes Licht, das nicht blendet, sondern neuen Durchblick gewährt, das aufhellt und Ausblick nach vorn ermöglicht. – Dazu eine kurze Geschichte, die aus unserem nächsten Umfeld stammt:

Vor ein paar Tagen habe ich hier im Haus einen Krankenbesuch gemacht. Die alte Dame, zu der ich ging, sah erstaunlich wohl aus. Jemand von außen hätte denken können, sie sei gar nicht leidend. Ich sagte zu ihr: „Wie fühlen Sie sich heute? Im frisch bezogenen Bett und im frischen Nachthemd sehen Sie ganz so aus, als ginge es Ihnen wieder richtig gut? Ist das auch so, oder sehe ich nur ein Stück vom Ganzen?“ Die alte Dame lächelte. „Ach“, sagte sie, „die Meisten sehen nur das schöne Hemd und gucken mir nur vor die Stirn. Aber ich weiß, was dahinter ist, und der da oben (Sie zeigte zum Himmel.), der da oben weiß es auch. Und das ist gut so! Das darf so sein! – Weil ich dann nicht so alleine bin.“

Ja, liebe Gemeinde, so tröstlich kann es sein, sich von Gott gesehen zu wissen, daran zu denken, dass er mehr und anderes sieht als andere, dass er genau hinschaut und sich nicht von Äußerlichkeiten ablenken lässt. So tröstlich-aufrichtend kann es sein, daran zu denken, dass Gottes Augen achtsam und voller Güte auf uns ruhen. – Wir sollten uns täglich neu daran erinnern oder erinnern lassen, denn das tut gut. Es macht hoffnungsfroh und zuversichtlich, es schenkt Mut und neue Kraft. Und all das wird auch von uns dringend gebraucht, dazu gebraucht, mit dem umzugehen, was in unserem Leben nicht schön und deshalb belastend ist, dazu gebraucht, es zu bearbeiten und zu verkraften. Es wird dringend gebraucht – und von Gott selbst ermöglicht. Er schenkt uns seine Aufmerksamkeit; er sieht alles, und ihm entgeht nichts. Und das nicht nur ab und zu, sondern immer. Allerdings so, dass wir es nicht als Last empfinden müssen. Denn Gott schaut mit liebevollen Augen; seine Blicke sind achtsam und voller Güte. Darum darf er alles sehen, und darum soll ihm nichts entgehen. Darum ist sein Schauen weder bedrohlich noch macht es Angst. Es sorgt vielmehr dafür, dass wir nicht ganz alleine sind: Gott ist bei uns und blickt uns an; wir werden von ihm liebevoll betrachtet – und das mit all unseren Möglichkeiten und Grenzen, mit allem, was uns ausmacht und uns bestimmt. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus, der uns täglich neu auf Augenhöhe begegnen möchte. Amen.



Seine Gnade ist bunt

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