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B. Einleitung
ОглавлениеGottesdienste sollten immer etwas Besonderes sein. Gottesdienste im Altenheim sind es auf jeden Fall – und das in mehrfacher Hinsicht:
Sie bieten eine Art Oase mitten im Alltag und werden von vielen als Kraftquelle wahrgenommen. Wer als älterer oder alter Mensch zum Gottesdienst kommt, bringt eine Menge unterschiedlicher Erfahrungen mit, vor allen Dingen Erinnerungen an Vergangenes oder auch Entgangenes. Wer als älterer oder alter Mensch den Gottesdienst verlässt, nimmt diese Erfahrungen und Erinnerungen zwar wieder mit, hat aber vielleicht durch ‚Gottes Dienst an sich‘ einen etwas anderen Blick für sie gewonnen oder auch neue Erfahrungen gemacht beziehungsweise neue Erinnerungen, vor allen Dingen die Erinnerung an die von Gott verheißene Zukunft, kennengelernt und verinnerlicht. Wer davon hört, dass Gott menschliche Dinge behutsam in sein Licht rückt und dann mit liebevollen Augen auf sie schaut, bekommt die Chance, mit ihm gemeinsam veränderte Sichtweisen zu entwickeln. Altbekanntes kann so neu entdeckt und ‚anverwandelt‘ werden, und weniger Vertrautes oder sogar Unbekanntes rückt näher und erscheint auf diese Weise nicht mehr allzu fremd. Wer erfährt, dass Gott für alle Menschen, also auch für in die Jahre Gekommene, neues Leben hier und heute und vor allen Dingen an der – für Achtzig- oder Neunzigjährige in der Regel nicht mehr fernen – Todesgrenze schafft, wird dazu befähigt, über den Horizont zu schauen und dabei die Begrenzungen der eigenen Lebensumstände gedanklich, aber auch emotional-befreiend zu überschreiten. Gottesdienste erlangen vor diesem Hintergrund ein präventiv-unterstützendes oder sogar therapeutisches Profil. Sie laden dazu ein, die eigene (Alters-)Existenz mit allem, was daran schön und beschwerlich ist, gelten zu lassen und sie zu bejahen, weil darauf gesetzt werden kann, dass Gott (als ‚Geber und Hüter allen Lebens‘) ‚Ja‘ zu ihr sagt. Wo diese Einladung angenommen wird, werden Geschwächte gestärkt und mit Beschränkungen Konfrontierte mit neuen Möglichkeiten ausgestattet. Sie sind dazu in die Lage versetzt, menschliche Wirklichkeit (ihre eigene Wirklichkeit!) in der Beziehung zu Gott zu ‚ent-decken‘ und sich selbst, aber auch andere in ihrem engeren und weiteren Lebensumfeld dabei als wirkliche Menschen in Gottes Gegenwart zu ‚er-leben‘. So gesehen kann jeder Gottesdienst im Altenheim als eine außergewöhnliche ‚Bildungsveranstaltung mit spiritueller Note‘ verstanden werden. Er führt bestenfalls zum Kontakt mit sich selbst, mit anderen und mit Gott und hilft bei der (Wieder-)Aneignung verloren gegangener oder bislang gar nicht berücksichtigter Lebensimpulse;3 seine Wirkung ist demzufolge als Horizont erweiternde ‚Vervollständigung‘ oder auch ‚Verlebendigung‘ zu beschreiben:
Viele Altenheimbewohner/innen, die unter der Woche kraftlos und traurig-deprimiert erscheinen, leben am Gottesdiensttag plötzlich auf. Sie möchten das Bett verlassen und bitten darum, ‚angemessen‘ angekleidet zu werden beziehungsweise suchen selbst nach verschönernden Accessoires wie Tüchern oder Schmuck. Sie fragen danach, ob ihr Jackett oder ihr Rock sitzt oder ob ihre Haare gut liegen, und mobilisieren sämtliche zur Verfügung stehende Restenergien, um das eigene Aussehen positiv zu verändern. Körperliche und seelische Beeinträchtigungen, die ansonsten von zentraler Bedeutung sind, rücken so – zumindest eine Zeit lang – in den Hintergrund. Wichtig ist im Vorfeld eines Gottesdienstes vor allen Dingen, sich umfassend ‚vorzubereiten‘ und sich rechtzeitig ‚aufzumachen‘, um von Anfang an ‚dabei zu sein‘ und nichts von dem zu verpassen, was während der gottesdienstlichen Feier geschehen wird. Gottesdienst im Altenheim ist schließlich ein öffentliches Ereignis mit ‚Event-Charakter‘, das die Vielzahl ansonsten vorhandener beschwerlicher Alltagsvorgänge alter Menschen ‚heilsam‘ unterbricht. Er verbindet mit sichtbarer und unsichtbarer (Er-)Lebens-Welt und baut Brücken, die zu überschreiten – trotz zahlreicher damit verbundener Anstrengungen – auf jeden Fall ‚lohnt‘. Ein Blick auf die versammelte Altenheimgemeinde kann deutlich machen, wie das im Einzelnen vonstattengeht beziehungsweise gehen kann:
Männer und Frauen, die vor Beginn eines Gottesdienstes in sich zusammengesunken verstummt sind, singen plötzlich andächtig oder auch fröhlich mit. Sie ‚erwachen‘ – tatsächlich beziehungsweise im übertragenen Sinne – mit erwartungsvollen Gesichtern beim ersten Ton der Orgel, und manche gebeugte Gestalt strafft sich beim Mitvollzug der Liturgie. Während der Predigt wird meistens erstaunlich konzentriert zugehört, aber mitunter auch zustimmend genickt beziehungsweise bestätigend ‚Ja!‘ oder ‚So war es!‘ gerufen. – Wer zur gottesdienstlichen Gemeinde im Altenheim gehört, genießt ganz offensichtlich das (geistliche) Miteinander und bringt sich dementsprechend auch gern auf vielfältige Weise in die ‚Gemeinschaft (der Heiligen)‘ mit ein. Dabei sollte wesentlich mehr erlaubt und toleriert sein als in anderen Gottesdiensten, denn schließlich befinden sich die hier zusammen Kommenden in mehrfacher Hinsicht in einer unvergleichlichen Situation.
Sie sind auf jeden Fall älter beziehungsweise alt, manchmal auch älter beziehungsweise alt und behindert oder sogar älter beziehungsweise alt, behindert und krank. Die ‚Webfehler im Teppich ihres Lebens‘4 haben allemal merklich zugenommen und sollten nicht ausgeblendet, sondern akzeptiert, zutreffend gedeutet und adäquat berücksichtigt werden. Wer zum Beispiel mitten im Gottesdienst zum Toilettengang aufbricht, will im Regelfall nicht andere stören, sondern fühlt sich selbst gestört. Wer unruhig wird und sich auffällig hin und her bewegt, kann unter Umständen nicht mehr sitzen, weil die Beine oder das (verlängerte) Rückgrat schmerzen. Und wer plötzlich weint oder schluchzt, signalisiert vielleicht besondere emotionale Beteiligung oder auch Überforderung – manchmal auch ganz einfach das Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung. Es ist gut und wichtig, auf all das je nach Situation ad hoc einzugehen, ohne den geplanten Gottesdienstablauf aus den Augen zu verlieren. Der/die Einzelne soll dabei spüren, dass er/sie willkommen ist und ‚sein‘ beziehungsweise ‚bleiben‘ darf; und die gesamte Gottesdienstgemeinde soll sich dabei als tragfähige Einheit erfahren, in der mit spontan auftretenden Irritationen souverän umgegangen wird. Beides zu gewährleisten, ist nicht immer leicht, aber eine Grundvoraussetzung für ein gelingendes Miteinander während des Gottesdienstes, das in gewisser Weise exemplarisch für alles weitere Gemeinschafts(er)leben sein kann.
Eingedenk der besonderen Ausgangslage der gottesdienstlichen Gemeinde im Altenheim, die zwar nicht nur, aber doch auch durch zunehmende Defizite und Defizit-Erfahrungen (Stichwort: ‚Webfehler im Lebens-Teppich‘) bestimmt wird, ist es angeraten, das Gottesdienstgeschehen prinzipiell so zu arrangieren, dass – trotz aller Begrenzungen und Einschränkungen – möglichst viele Sinne angesprochen beziehungsweise Wahrnehmungskanäle Berücksichtigung finden (Stichwort: ‚Mehrdimensionalität‘). Wo dies geschieht, steigt die Chance, vorübergehende oder auch andauernde Ausfälle in bestimmten Sinnesbereichen zu kompensieren und jede/n einzelne/n Gottesdienstteilnehmer/in tatsächlich zu erreichen. Wer schlecht hört, sollte etwas für die Augen geboten bekommen (Farben, Formen, Bilder). Wer schlecht sieht, benötigt neben dem gesprochenen Wort zusätzliche akustische Anreize (Klänge, Töne, Musik). Und wer geschädigte Ohren und Augen hat, ist sehr wahrscheinlich erfreut darüber, etwas zu berühren und zu fühlen oder zu riechen (Gegenstände). Je höher und je breiter gefächert das jeweilige Anregungspotential, desto intensiver und nachhaltiger der vermittelbare beziehungsweise schlussendlich tatsächlich vermittelte ‚Erlebniswert‘. Und nicht zuletzt dieser bestimmt darüber, ob der Gottesdienst als lebensrelevante ‚Bereicherung‘ erfasst wird oder nicht und ob er als solche auch älteren beziehungsweise alten Menschen mit mehr oder weniger ausgeprägten Erinnerungsschwierigkeiten und daraus resultierenden größeren beziehungsweise kleineren Gedächtnislücken erinnerlich bleibt. Um insbesondere Letzteres zu ermöglichen, empfiehlt es sich, Gottesdienste von einer thematisch bestimmten ‚Sinn-Mitte‘ (einem ‚Generalthema‘) her zu konstruieren und ein ‚zentrales Motiv‘ für sie auszuwählen, das – eventuell auch variiert – wiederkehrend auftaucht, bewusst Redundanzen erzeugt und so etwas wie einen ‚Roten Faden‘ entstehen lässt. Dabei hat es sich als überaus hilfreich erwiesen, von mir so genannte ‚Mitbringsel‘ und ‚Mitgebsel‘ zum Einsatz zu bringen, die im Regelfall bereits vor Beginn oder zu Beginn eines Gottesdienstes sinnenfällig erkennen lassen, um was es inhaltlich gehen wird, und die nach Abschluss des Gottesdienstes immer wieder bewusst machen, um was es inhaltlich gegangen ist. Dazu ein paar veranschaulichende Reminiszenzen aus dem konkreten Altenheimalltag im Umfeld von Gottesdiensten:
Gemeinhin habe ich bereits am Montag (also ein paar Tage vor dem nächsten Gottesdienst am Freitag5) damit begonnen, ein ‚Mitbringsel‘ vorzustellen6 oder – falls nötig – auch herzustellen. Ich trug zum Beispiel einen markanten Gegenstand (eine Uhr, ein Stofftier, eine Holzscheibe oder Ähnliches) – halb verborgen und nur ansatzweise identifizierbar, aber doch durchaus auffällig – über den Flur oder setzte mich mit Bastelmaterial (Buntpapier, Stiften, Schere, Klebstoff und so weiter) zu den Bewohner/inne/n und fing an zu zeichnen, zu schneiden und zu kleben. Recht schnell wurde nachgefragt: „Was wird denn das Schönes?“ „Was haben Sie denn da?“ Und dann begann ein überaus beliebtes ‚Spiel‘ mit ‚festen Regeln‘. Ich verwies auf die überall ausgehängten Gottesdienstplakate und verweigerte lachend die Aussage. Die Begriffe ‚Geheimnis‘ und ‚Überraschung‘ wurden von mir ins Spiel gebracht. Manchmal gab ich auch ein paar Hinweise, die das Thema des nächsten Gottesdienstes andeuteten; wirklich ‚verraten‘ wurde aber nichts.
Am Gottesdiensttag erschien ich kurz vor Beginn der gottesdienstlichen Feier mit meinem ‚Mitbringsel‘ und meinen ‚Mitgebseln‘. Letztere wurden im Gottesdienstraum in der Nähe des Altars deponiert. Ersteres kam zu Beginn des Gottesdienstes zum Einsatz. Ich brachte es bei meinem Einzug mit herein und ‚präsentierte‘ es während des Orgelvorspiels beziehungsweise kurz danach. Da meine ‚Mitbringsel‘ in der Regel recht groß sind (Gebasteltes und Gemaltes hat zumeist das Format DIN-A2 oder DIN-A1.), konnten beinahe alle Gottesdienstteilnehmer/innen erkennen, um was es sich handelte. Gelang dies im Einzelfall nicht, wurde das jeweilige ‚Mitbringsel‘ ganz nah vors Auge gerückt, zum Anfassen weitergereicht oder auch – in Ausnahmefällen – mit wenigen Worten beschrieben. Anschließend erhielt es einen Platz an exponierter Stelle (zum Beispiel auf der vorn im Altarraum stehenden Orgel). Dort blieb es während des ganzen Gottesdienstes sichtbar, konnte unter Umständen noch einmal (zum Beispiel während der Predigt) zur Hand genommen werden und wurde erst zum Schluss des Gottesdienstes endgültig verlagert; dann stand beziehungsweise lag es am Ausgang auf einem Stuhl und war so noch einmal von allen wahrzunehmen, die den Gottesdienstraum verließen, nachdem sie einzeln verabschiedet worden waren. Manche ‚Mitbringsel‘ blieben nach dem Gottesdienst noch für längere Zeit an einer gut einsehbaren Stelle im Haus ausgestellt, andere wurden zu bestimmten Anlässen (Morgenrunde, Besuch in den Wohngruppen oder Einzelbesuch) noch einmal mitgebracht.
‚Mitgebsel‘ sind entweder Mini-Ausgaben oder kleinformatige Variationen der ‚Mitbringsel‘. Sie bündeln die Zentralaussage der Predigt und verdeutlichen noch einmal pointiert das behandelte Gottesdienstthema. Ihre Verteilung erfolgte in meinen Altenheimgottesdiensten immer nach dem Orgelnachspiel am Ausgang des Gottesdienstraumes und erfreute sich großer Beliebtheit. Alle wollten unbedingt etwas ‚mitnehmen‘ und warteten gespannt darauf, endlich sichtbar und fühlbar in Händen zu halten, was bereits vor Tagen angekündigt wurde beziehungsweise im gerade zu Ende gegangenen Gottesdienst ganz wichtig geworden war. Einige Altenheimbewohner/innen fragten regelmäßig nach zusätzlichen ‚Mitgebseln‘, die sie in ihren Wohnbereichen an diejenigen weiterreichen wollten, die nicht am Gottesdienst teilnehmen konnten; andere hatten vor, ihre Angehörigen zu bedenken. Auf diese Weise wurden die ‚Gottesdienst-Mitgebsel‘ öffentlichkeitswirksam und erzielten Vernetzung; sie transportierten einen Teil des gottesdienstlichen Geschehens nach ‚außen‘ und wirkten kommunikationsanbahnend beziehungsweise -fördernd. Dies galt beispielsweise dort, wo ‚Mitgebsel‘ gesammelt und unübersehbar an Türen oder Fensterrahmen platziert wurden, um sie nicht nur immer wieder selbst anschauen zu können, sondern auch anderen zu zeigen und auf diese Weise etwas von den hausinternen Ereignissen und vor allen Dingen der eigenen (Er)-Lebens-Welt mitzuteilen. Die farbige Vielfalt der unterschiedlichen ‚Mitgebsel‘ weckte Aufmerksamkeit und positive Erinnerungen; sie repräsentierte die ‚bunte Gnade Gottes‘ (vgl. 1. Petr 4,10)7, die in jedem Gottesdienst aufscheinen sollte, und verwies gestalthaft visualisiert auf die guten Absichten dessen, der Leben schenkt und erhält, und/oder auf deren Auswirkungen für die Existenz ‚seiner‘ Menschen. Für viele Altenheimbewohner/innen war das – wenn auch nicht immer bewusst – sehr wichtig. Sie fühlten sich dadurch – zu Recht – beschenkt sowie wertgeschätzt und empfanden es als echte Bereicherung. Dazu abschließend eine kurze Szene, die sich im Nachgang zu einem Gottesdienst zum Thema ‚Hände begleiten uns ein Leben lang‘ (Gottesdienst C.15) im Zimmer einer alten Dame ereignete:
Als ich durch die offen stehende Tür eintrat und ‚Guten Tag‘ sagte, schaute Frau G., die gerade von ihrer Tochter besucht wurde, sofort hoch. Sie versuchte ganz offensichtlich zu erfassen, wer da vor ihr stand, aber in ihrem Blick war kein Wiedererkennen wahrzunehmen. Auch der Hinweis der Tochter, die ‚Pastorin‘ sei gekommen, wurde ohne sichtbare Regung hingenommen. Dann plötzlich ein Blick in eine andere Richtung; er wirkte wie ‚ein Blick zurück‘. Frau G. ‚erinnerte‘ sich. „Oh, ja“, sagte sie auf einmal ganz lebendig. „Sie sind die Frau mit dem M.“ Die Tochter schaute fragend. „Ja“, sagte Frau G. noch einmal. „Das mit den Ms ist wichtig. Es ist richtig gut.“ Sie zeichnete mit ihrem Zeigefinger ein großes M in eine ihrer Handflächen. „Das hat sie gesagt: Gott hat in jede Hand ein M geschrieben. Das heißt: ‚Du bist mein Mensch.‘ Findest du das nicht auch wirklich schön?“ – In der Tat hatte ich kurz zuvor in einem unserer Gottesdienste (hier C.15) ‚Mitgebsel‘ mit eben dieser Botschaft verteilt. Es handelte sich um Fotokopien einer Handinnenseite, auf der ich die M-förmigen Lebenslinien deutlich nachgezeichnet hatte. Auf einem Querbalken aus farbigem Papier abgedruckt stand darunter der Satz: „Gott spricht: ‚Du bist mein Mensch; du gehörst zu mir.’“ (Vgl. z.B. Jes 43,1b) Frau G., ihre Tochter und mich hat dieser Gedanke noch eine Zeit lang beschäftigt. Wir haben uns darüber ausgetauscht, was er für uns bedeutet, und das war überaus ‚verbindend‘. Als ich mich verabschiedete, wusste Frau G. auch wieder, dass ich die ‚Pastorin‘ bin, die gekommen war, um ein Gemeindeglied zu besuchen.
Der Tatsache, dass die Gottesdienstteilnehmer/innen im Altenheim mit einer besonderen Ausgangslage (Defizite und Defizit-Erfahrungen; Stichwort: ‚Webfehler im Lebens-Teppich‘) zurechtkommen müssen, ist auch in Bezug auf das strukturelle und inhaltliche Gottesdienst-Setting zu entsprechen. Ältere und alte Menschen benötigen dringender als andere einen fest gefügten Rahmen, der ‚Erwartungsicherheit‘ zubilligt und ‚Beheimatung‘ möglich macht; um das zu gewährleisten, sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen:
Der Gottesdienst sollte tunlichst immer am gleichen Tag und zur gleichen Uhrzeit stattfinden. Für die meisten Altenheimbewohner/innen ist ein Nachmittagstermin angenehmer als ein Termin am Vormittag, da Aufstehen, Körperpflege und Frühstück in der Frühe bereits viele Kräfte absorbieren, das Mittagessen um 12.00 Uhr eine in gewisser Hinsicht ‚bedrängende‘ Zeitschranke darstellt und die Aufmerksamkeit nach einem erholsamen Mittagsschlaf und einer Tasse Kaffee oder Tee gegen 15.30 Uhr am höchsten sein dürfte. – Wichtig ist auch, dass der Gottesdienst an solchen Wochentagen stattfindet, an denen keine anderen Veranstaltungen angeboten werden und genügend Hauptamtliche und Ehrenamtliche zur Verfügung stehen, um Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der gottesdienstlichen Feier hinlänglich sicherzustellen.
Besonders wichtig für einen möglichst problemlosen Gottesdienst(mit)vollzug ist eine klar gegliederte Liturgie mit bekannten Liedern und Texten, in jedem Gottesdienst wiederkehrenden Abläufen sowie geprägten und deshalb einprägsamen (Rede-)Wendungen. – Die im Folgenden abgedruckten Gottesdienstmodelle entsprechen fast alle diesem Umstand8 und sind speziell darauf ausgerichtet, Vertrautheit zu erhalten beziehungsweise (wieder)herzustellen und auf diese Weise Entlastung zu bieten.
So wird zum Beispiel nach erfolgtem Einzug unter Orgelmusik und der oben beschriebenen Präsentation des ‚Mitbringsels‘ stets eine ‚Doppelbegrüßung‘ durchgeführt: Zunächst erfolgt die Bewillkommnung durch eine/n leitende/n Mitarbeiter/in des Hauses, danach der liturgische Gruß der Pfarrerin (in den Gottesdienstmodellen: ‚Liturg/in‘). Erstere ist eine Art besonderes ‚Vor-Zeichen‘ zum Gottesdienst, das Wertschätzung dem gottesdienstlichen Geschehen und allen an ihm Beteiligten gegenüber zum Ausdruck bringt; zweiterer eröffnet den eigentlichen Gottesdienst und macht deutlich, in wessen Namen und zu welchem Zweck die Gemeinde versammelt ist.
Durch die Formulierung kurzer Vorsprüche und Überleitungen zu einzelnen liturgischen Stücken und den Lesungen biblischer Texte werden im Verlauf des gesamten Gottesdienstes immer wieder Akzente gesetzt und Verständnishilfen angeboten. Dabei sind an der ein oder anderen Stelle außergewöhnliche liturgische Rituale entstanden. So wartete beispielsweise die gesamte Altenheimgemeinde auf den regelmäßig vor der Psalmlesung erfolgenden Hinweis darauf, dass der fromme Beter, der sich in ihr ausspricht, eventuell auch eine fromme Beterin gewesen sein mag. Sobald die Formulierung ‚Sie wissen schon, was ich an dieser Stelle immer wieder sage …‘ erklang, wurden Köpfe gehoben und Lippen bewegt. Etliche der Gottesdienstteilnehmer/innen sprachen das Ende meines Satzes leise oder auch laut mit: ‚Vielleicht war es ja auch eine fromme Beterin!?‘ Es wurde bestätigend genickt und anschließend – aufmerksamer als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre – auf das gehört, ‚was er oder sie vor mehr als zweitausend Jahren formuliert hat‘.
Die Lesung des neutestamentlichen beziehungsweise alttestamentlichen Bibelabschnitts wird stets durch das gleiche anschauliche und konzentrierende Gebet9 und ein, zwei zusätzliche, die Hauptaussage des nachfolgenden Textes bündelnde, hinführende Sätze eingeleitet. Sie ist – so wie die erste Begrüßung vor Beginn des eigentlichen Gottesdienstes – Aufgabe eines leitenden Mitarbeiters beziehungsweise einer leitenden Mitarbeiterin des Hauses und lässt erkennen, dass im Gottesdienst viele unterschiedliche Dienste zusammenkommen und verschiedene Menschen füreinander tätig werden. Der zur Lesung überleitende kurze Satz ‚Herr H./Frau G. wird für uns lesen.‘ stellt also wesentlich mehr dar als eine bloße Floskel.
Die Abkündigungen, insbesondere die Verlesung der Namen der seit dem letzten Gottesdienst Verstorbenen, werden im Altenheimkontext üblicherweise sehr aufmerksam verfolgt. Da sie sich auf positiv und/oder negativ konnotierte Lebensbewegungen beziehen, wecken sie zahlreiche Emotionen und brauchen schon deshalb etwas mehr Raum. Diesen schafft unter anderem ein abschließend vorgebrachtes Biblisches Votum, das entweder so ausgerichtet ist, dass es die von Gott zugesagte Zukunft der zuvor namentlich benannten Toten beleuchtet, oder so, dass es die Hinterbleibenden in ihrer Traurigkeit erfasst und trösten kann.
Die wenigen gesungenen Passagen der Liturgie (Gloria Patri und Gloria), das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser waren meiner Altenheimgemeinde (noch) vertraut und konnten dementsprechend ohne abgedruckte Textgrundlage miteinander intoniert beziehungsweise gesprochen werden. Aus diesem Grund mussten sie nicht auf dem für jeden Gottesdienst vorbereiteten Liedblatt erscheinen. In ein paar Jahren könnte dies bereits ganz anders sein; das müsste dann selbstverständlich durch entsprechende Maßnahmen wie zum Beispiel die Erweiterung des Liedblattes Berücksichtigung finden.
Zum Schluss des Gottesdienstes wurde von mir im Regelfall ein Irischer Reisesegen10 gesprochen, in dem sich (auch für ältere und alte Menschen) typische Alltagssituationen widerspiegeln; mitunter kam der Aaronitische Segen (siehe Num 6,24-26) zum Einsatz, den viele Gottesdienstteilnehmer/innen noch aus der Liturgie der von ihnen früher besuchten Gemeindegottesdienste kannten. Beide Segensformulierungen wurden (sowohl in inklusiver als auch in exklusiver Form) von der Gottesdienstgemeinde im Altenheim gleichermaßen geschätzt und gehörten zum festen Grundbestand der Orientierung und Halt vermittelnden Liturgie.
Auch die nachfolgend dokumentierten Predigten sind formal und inhaltlich so ausgerichtet, dass ‚Erwartungssicherheit‘ entsteht und ‚Beheimatungsgefühle‘ entwickelt werden können. In ihnen kommen an vielen Stellen Eindrücke, Erlebnisse und/oder Erfahrungen aus dem aktuellen oder früheren Umfeld der am Gottesdienst Teilnehmenden vor. Geschichten ‚von damals‘ kommentieren beziehungsweise veranschaulichen aktuelles Geschehen der Gegenwart; es wird viel erzählt, eindrücklich geschildert und dabei auf wörtliche Rede zurückgegriffen. Häufig sind dabei alte Menschen Protagonist/inn/en, so beispielsweise Männer und Frauen, die sich in ähnlichen Situationen befinden beziehungsweise befunden haben wie die Altenheimbewohner/innen, oder auch ‚meine Oma‘, bei der ich aufgewachsen bin und von der ich dementsprechend manches Wichtige lernen durfte. Wo ihre (Er-)Lebens-Welt in den Blick kommt, wird die (Er)-Lebens-Welt der Gottesdienstgemeinde ‚nach-‚ beziehungsweise ‚mitempfunden‘ und erlangt so zentrale Bedeutung; die Gemeindeglieder können immer wieder (neu) wahrnehmen: ‚Hier geht es um mich/uns und mein/unser Leben.11 Hier wird etwas verhandelt, was mich/uns betrifft und für mich/uns wichtig ist.‘ Auf diese Weise wird Interesse geweckt und aufrechterhalten. Dabei ist es nicht unerheblich, dass die Gottesdienstteilnehmer/innen auch außerhalb des gottesdienstlichen Geschehens regelmäßig Kontakt mit ‚ihrer‘ Pfarrerin hatten. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte viel weniger auf gemeinsam Durchlebtes und Durchlittenes zurückgegriffen und eingegangen werden können. Da aber fast täglich Begegnungssituationen vorhanden waren, gab es einen großen Schatz geteilter Erfahrungen, der miteinander verbunden und in Beziehung gesetzt hat. Aus diesem Grund konnte auch während der Predigten von ‚wir‘ gesprochen werden oder von Szenen ‚bei uns hier im Jacobi-Haus‘. Dies entspricht der gemeindlichen Ausgangslage fast aller nachfolgend dokumentierten Gottesdienste12, in denen Menschen zusammengekommen sind, die als Gemeindeglieder und Liturgin eine ganze Menge voneinander wussten und die Sprache des beziehungsweise der jeweils anderen kannten und wohl auch mochten13.
3 Der hier zu Grunde gelegte Bildungsbegriff entspricht dem von Wolfgang Klafki eingeführten; er basiert auf der Annahme, dass Bildung sich dort ereignet, wo wirkliche Menschen in Kontakt mit menschlicher Wirklichkeit treten und wechselseitige Austauschprozesse in Gang kommen.
4 Diese Formulierung stammt nicht von mir, sondern von einem neunundsiebzigjährigen Mann, der mit ihr seine Selbstwahrnehmung im Alter kommentierte.
5 Im Jacobi-Haus Bünde fanden Gottesdienste im Normalfall am Freitag (also unter der Woche) und nicht am Sonntag statt. So konnte gewährleistet werden, dass viele Helfer und Helferinnen zugegen waren und dass keine Kollisionen mit anderen regelmäßigen Veranstaltungen, die meistens in der Zeit von Montags bis Donnerstag durchgeführt wurden, auftraten.
6 In gewisser Weise trifft das auch im Blick auf das ‚besondere Mitbringsel‘ ‚Taufkind‘ im Gottesdienst C.26 zu. Der kleine Täufling wurde zwar erst am Tauftag selbst der Gemeinde vorgestellt, aber vorab war bereits durch Plakate und Handzettel darauf hingewiesen worden, dass im Gottesdienst eine Taufe stattfinden würde. Dabei blieb bewusst offen, wer getauft werden sollte.
7 1. Petr 4,10 war Ausgangspunkt für die Wahl des Haupttitels des vorliegenden Gottesdienstbandes (ursprünglich: ‚Gnade ist bunt‘ und in der hier vorliegenden überarbeiteten sowie ergänzten Fassung ‚Seine Gnade ist bunt‘), der deutlich machen soll, dass Gottes heilsame Gegenwart Farbe ins Leben bringt und dabei helfen kann, Alltagsgrau zu überwinden.
8 Eine Ausnahme bildet der letzte im Folgenden abgedruckte Gottesdienst C.29 (Der Herr ist mein Hirte – Dienstjubiläum), der ja nicht für alte Menschen, sondern für Altenheim-Mitarbeiter/innen gedacht ist.
9 ‚Lieber Himmlischer Vater, schenke uns nun deinen Heiligen Geist, der uns dein Wort in unsere Herzen schreibe, so dass wir’s annehmen und glauben und uns seiner in Ewigkeit freuen und trösten. Amen.‘
10 ‚Der Herr sei vor dir, um dir den richtigen Weg zu zeigen. Er sei neben dir, um dich zu trösten, wenn du traurig bist. Er sei hinter dir, um dich zu bewahren vor Menschen, die manchmal voller böser Absichten sein können. Er sei unter dir, um dich aufzufangen, wenn du fällst. Er sei über dir, um dir in allen Situationen ganz nahe zu sein. So segne dich der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.‘
11 Das zuvor skizzierte Grundprinzip kommt – wenn auch leicht abgewandelt – auch in der Predigt mit Ps 23 aus C.29 (Der Herr ist mein Hirte – Dienstjubiläum) zum Tragen. Auch jüngere und mittelalte Gemeindeglieder möchten und sollen ja so angesprochen werden, dass sie sich mitsamt der sie bestimmenden Wirklichkeit in den Predigtworten und den durch sie geschilderten Szenen‚wiederfinden‘ können.
12 Die gemeindliche Ausgangslage im Gottesdienstmodell C.29 (Der Herr ist mein Hirte – Dienstjubiläum) ist von der in allen anderen Gottesdienstmodellen deutlich unterschieden, da an zentralisierten Jubiläumsgottesdiensten nicht nur Menschen teilnehmen, die sich gut kennen, sondern auch viele, die sich fremd und ausschließlich über Erfahrungen aus gleichen Arbeitsbereichen miteinander verbunden sind.
13 Mir lag und liegt viel daran, die Sprache meiner Gemeinde wahrzunehmen und zu verstehen. Umgekehrt galt im Jacobi-Haus Bünde im Blick auf mich ganz offensichtlich das Gleiche. Einige der Altenheimbewohner/innen kommentierten zum Beispiel gern meine sprachlichen ‚Sonderlichkeiten‘ und zeigten so, dass sie sehr genau hinhörten und mitdachten. So hieß es mitunter: „Sie sagen immer ‚Gott liebt seine Menschen.‘ Das gefällt mir.“ Oder: „Ich habe wohl gehört, dass es bei Ihnen immer heißt ‚Jesus, der Christus‘. Das ist etwas ganz Besonderes für mich.“